Sonntag, 23. März 2014

Le repos du voyageur

Grenzstation

An der Grenzstation angelangt ist jetzt der Reisende, das Köfferchen ist aufgegangen, die arme Seele entflogen, gleich kommt der Dr. Tulp. Hinter jeder Reise steht die Sorge um ein Nachtlager, Hotelaufenthalte werden nicht nach Tagen, sondern nach Nächten bemessen. Verkürzt läßt sich sagen, Reisen besteht im Aufsuchen des Nachtlagers. Jan Peter Tripps Bild kann, wenn man auf stilistische Einordnung Wert legt, dem Hyperrealismus zugerechnet werden, zeichnet also trotz Suggestion des Realen keine reale Situation und ist offen für ein weites Deutungsspektrum. Wenn der Dichter ein geöffnetes Lederköfferchen als Nachweis der entflogenen Seele wertet - die Seele eines Reisenden befände sich demnach in seinem Handgepäck - so bevorzugt er eine der extremeren Deutungsmöglichkeiten. Einen Reisenden geben die Koffer zweifelsfrei zu erkennen, der schlichte Beobachter würde aber eher vermuten, daß dieser, am Ziel angelangt, mangels anderer Möglichkeiten zunächst auf der unbequemen Unterlage sich eine kurze Rast gönnt, bevor er dann endgültig sein Nachtlager aufsuchen kann. Die unbequeme Lage spricht nicht gegen diese Annahme, Selysses selbst trifft es öfters noch schlechter. In Deauville gelingt es ihm nur gegen ein horrendes Bestechungsgeld in einem Abstellraum eine Pritsche zu ergattern, die wie ein Gepäcknetz hoch an der Wand angebracht war, nur wenn er vor Müdigkeit nicht mehr weiter konnte, dann aber schon, kletterte er dort hinauf und schläft ein paar Stunden. Überhaupt sind Reisende es gewohnt, sich eine Rast zu gönnen, wo immer es möglich ist, am Boden in Schlafsäcken liegend auf dem Bahnhof Venedig und auf den Bänken des Amsterdamer Flughafens. Und wenn der Reisende auf dem Bild wie aufgebahrt wirkt, hat auch das nicht viel zu besagen. Als Selysses in Venedig den Nachtportier des Hotels passiert, der ebenfalls wie aufgebahrt auf einem engen, seltsam hochbeinigen Lager ruht, kommt er nicht auf den Gedanken, der arme Mann könne aus dem Leben geschieden sein. In der Prosa, die auf die realistische Decke, was immer sich unter ihr bewegen mag, nie verzichtet, ist der Dichter um einiges zurückhaltender.

Der nach allem, was wir wissen, also lebendige Nachportier gibt andererseits aber zu verstehen, daß nicht allein die Reisenden, sondern auch die dem Reiseverkehr Zuarbeitenden sich nach Schlaf sehnen. In Ithaca dauert es eine beträchtliche Zeit, bis aus dem auch hier bereits schlafenden Haus der greise Portier herbeikommt. Das Ruhe- und Schlafbedürfnis ist dabei nicht auf die späten Abend- und die Nachtstunden beschränkt. Im Museum in Ajaccio sieht Selysses erst als er unmittelbar vor dem Tresen der Rezeption steht, daß dahinter in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau sitzt, ja, ihrer Müdigkeit Tribut zollend, liegt. Im Besuchsort Terezín sind offenbar alle Bewohner hinter den verschlossenen Türen in Schlaf verfallen und auch als Austerlitz sich auf der Rückfahrt im Bus einmal umwendete, sieht er, daß die mit ihm reisenden Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnen und hängen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt, manche röcheln leise: auch verläuft keine klar erkennbare Grenze zwischen Schlaf und Tod.
Für Selysses, den wir nicht anders als auf Reisen kennen, hat die Frage des Einnachtens naturgemäß eine große Bedeutung. Die Nacht im rustikalen Hotel Columbus in Bremerhaven verbringt er schlaflos und auch in Bamberg liegt er wach in einem steinernen Haus, wie es heißt, wohl auch ein Hotel. In Verona dagegen wird er schon in der Halle von der anscheinend eigens sich einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt. Die Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube genießt, grenzt, wie das anschließende, ihm als würdevoll in Erinnerung gebliebene Frühstück, ans Wunderbare. Die meisten Übernachtungen nehmen eine  Position näher bei Bremerhaven als bei Verona ein, und die Nächte bewegen sich vorwiegend auf einer engen Skala zwischen ungut und besonders ungut. Schon bei seinem ersten überlieferten Hotelaufenthalt in Manchester hätte er, umfangen wie er war, von einem ihm unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, ähnlich, wie nach seiner Vermutung, der Reisende an der Grenzstation, sehr leicht aus dem Leben sich entfernen können.

Der Dichter erwähnt das auf den gehobelten Brettern stehende Gepäck, verschweigt aber Zahl und Umfang, neben dem offenstehenden schweinsledernen Köfferchen noch zwei weitere Koffer beträchtlichen, vor allem auch in die Breite gehenden Ausmaßes. Als Selysses, wie immer mit leichtem Gepäck unterwegs, die weiter nicht auffällige Grenzstation Oberjoch erreicht, bittet er den Zollbeamten, bei Dienstschluß seine Reisetasche mitzubringen und im Engelwirt abzugeben. Er macht sich dann mit dem kleinen Rucksack unbeschwert auf den Fußweg nach W. Dieser Weg steht dem Reisenden auf dem Bild erkennbar nicht offen. Vielleicht wartet er auf jemand, der ihn, wie verabredet, abholen soll und nutzt die Zeit zu einer meditativ, fast schon fakirhaft intensivierten Ruhe. Es ließe sich auch auf die vor einiger Zeit vor allem unter jungen Leuten grassierende Sitte verweisen, an im Grunde ungeeigneten und auch nicht ungefährlichen Stellen wie Simsen oder Balustraden die Ruhelage einzunehmen, einigen hat dieses Verhalten in der Tat dann das Leben gekostet. Der Reisende auf dem Bild scheint aber nicht zu diesen Verirrten zu gehören, und die Gedanken des Dichters gehen ohnehin in eine andere Richtung. Vielleicht sei der Leib bereits ausgehöhlt und gewichtslos, und tatsächlich erscheinen die beiden Hände, auffällig in der Bildmitte, wie zwei Flügelchen, die, in Bewegung gesetzt, imstande wären, den Leib nach oben zu tragen. Derlei aber gehört auch zur Levitationskunst lebendiger Fakire.
Wir wollen gern einräumen, daß die Gedanken des Dichters die richtigeren sind, die tieferen ohnehin. Auch bei dem verunfallten Jäger Hans Schlag hätte man ohne weiteres glauben können, er sei bloß eingeschlafen, wenn nicht die entsetzliche Blässe seines Gesichtes gewesen wäre. Es bei der Autopsie zeigt sich am linken Oberarm des Toten eintätowierte Barke des Jägers Gracchus, der seit ewigen Zeiten mit dem Boot auf der Reise war. Im Zentrum des Bildes befinden sich, neben die beiden über die Platte herabhängenden Hände des Reisenden, auch der bloßgelegte rechte Unterarm. Man müßte, um Sicherheit zu gewinnen, den Ärmel des Hemdes auch über den Oberarm hinaufstreifen und, wenn sich dort nichts findet, ebenso den des verborgenen linken Arms.

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