Sonntag, 2. Februar 2014

Avantgarde

Napoleons Farben

In dem Film The Fountainhead, deutscher Verleihtitel: Ein Mann wie Sprengstoff, verkörpert Gary Cooper einen avantgardistischen Architekten, unverstanden von der Masse seiner Mitbürger und daran schwer leidend. Der Eindruck ist vernichtend, keiner, der sich den exemplarischen Helden nicht zurück aufs Pferd wünscht, unterwegs, por el llano, por el viento, nach Vera Cruz, oder, von allen verlassen und unbeugsam, auf dem Gang durch die nach traditionellen Mustern erbauten wenigen Straßenzüge von Hadleyville. Avantgarde, Vorhut, ist ein Begriff aus der Militärsprache. Er bezeichnet den vordersten Truppenteil, dem die restlichen Teile gleichsinnig nachrücken. Weitaus häufiger und abgewandelt wird der Begriff seit langem in Kunst und Kultur verwandt. Gemeint ist hier eine präsumtive künstlerische Elite, die sich als voran- und vorausschreitend erlebt und auf eine nicht ohne weiteres gleichgesinnte, weit zurückbleibende, letzten Endes dann aber doch mitgezogene Truppe spekuliert. Wenn der Kontakt zur Truppe vollends abreißt, weil die sich gar nicht bewegt oder aber unbekümmert um die Avantgarde in eine andere Richtung geht, ergibt sich für diese eine schwierige Situation, im Militär- sowohl wie im Kunstbereich. Eine Avantgarde mit nichts im Rücken gilt als versprengter Haufen.
Sebald wird mit dem Begriff der Avantgarde eher selten in Verbindung gebracht, am ehesten noch mit seiner letzten, bereits posthumen Publikation For Years Now. Tess Jarays Bildausstattung fügt sich ein in den Rahmen einer inzwischen klassisch gewordenen Avantgarde. Die Avantgarde ist ein Kind, in ihrer Blütezeit eher schon ein Enkel der großen aufklärerischen Zeitenwende, der großen Blickwende von zurück in die Vergangenheit nach vorn in die Zukunft, dem heftigsten von der Historiographie je vermessenen Amplitudenausschlag, nicht auspendelbar. Mit der französischen Revolution teilt die Avantgarde die Vorstellung vom völligen Neubeginn, Tabula rasa. Bereits Hegel aber hatte als leibhaftiger Beobachter der französischen Vorgänge die Unvermeidlichkeit des Übergangs in den Terrors nachgezeichnet, die sich ergibt beim Versuch, alle Verbindungen zur Vergangenheit und jede Verwurzelung in ihr zu kappen und aufzuheben. Man kann sich fragen, ob Tabula rasa in der Kunst weniger terroristisch ist als in der Politik, auch wenn das Blut nicht so offenkundig fließt.

Beim ständigen Voranschreiten erweisen immer weitere Wege sich als Sackgassen. Angelangt beim Monochromen Blau bleibt der Malerei nur noch ein einziger weiterer Schritt voran, die Einstellung des Betriebs. Becketts Helden ist das Gefühl der Vorwärtsbewegung gründlich abhanden gekommen, und auch Selysses ist auf seinen Reisen und Wanderungen kaum zielstrebiger, Benjamins Engel hat sich gedreht, schaut, wie vor der großen Wende üblich, zurück und findet dort auch keinen rechten Trost. Soll man Proust zur Avantgarde zählen oder Kafka? Die sich nach eigenem Selbstverständnis mit ständigen Neuheitswerten überschlagende und fortwährend selbst überrollenden Welle müßte längst über sie weggegangen sein. Ihre Neuheit aber scheint beständig, schlägt man zum ersten Mal einen Band Kafka oder Proust auf, so ist es, als treffe man auf den Türsteher, und er öffnete dir ohne Zögern den allein nur für dich bestimmten Zugang. Eine ungeahnte Welt tut sich auf, und so weit man auch geht, unbekümmert um Neu oder Alt, man kommt nicht an ein Ende.
Das erste Kurzgedicht in For Years Now greift das bereits angesprochene Thema eingeschränkter Chromatik auf: It is said / Napoleon was / colourblind / & could not / tell red / from green. Eine korrespondierende Prosastelle schlägt die Brücke zu Terror und Blut: Die genaueste Wissenschaft von der Vergangenheit reicht kaum näher an die von keiner Vorstellungskraft zu erfassende Wahrheit heran als, beispielsweise, eine so aberwitzige Behauptung wie die, die mir einmal vorgetragen wurde von einem in der belgischen Hauptstadt lebenden Dilettanten namens Alfonse Huyghens, der zufolge sämtliche von dem Franzosenkaiser in den europäischen Ländern und Reichen bewirkten Umwälzungen auf nichts anderes zurückzuführen waren als auf dessen Farbenblindheit, die ihn Rot nicht unterscheiden ließ von Grün. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, so der belgische Napoleonforscher zu mir, desto frischer schien ihm das Gras zu sprießen.

Das im Buch im Zeilenverlauf vertikal angeordnete Kurzgedicht geht auf uns nieder wie ein winziger Meteor, eine Botschaft des Himmels, die verglüht, bevor wir sie verstehen konnten. Der Belgier Alfonse Huyghens glaubt etwas verstanden zu haben, und mit seiner Hilfe entfaltet der Dichter die Botschaft neu, jeder weitere Nebensatz, jeder Einschub ein leichter Flügelschlag, bis sie, nur vom Aufwind getragen, über uns schwebt. So an den Himmel geschrieben ist die Botschaft klar und ernüchternd, und wir gewinnen einen Begriff von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht und unter unseren Füßen: die abstrusesten Überlegungen sind zur Erklärung des Geschichtsverlaufs nicht besser und nicht schlechter als die ausgefeilteste Theorie. Der große historische Schub zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nichts als die Folge einer Sehschwäche, wer kann beweisen, er wisse es besser - es wird sich schon beweisen lassen, Scherz und tiefere Bedeutung halten sich beim Dichter die Waage. Kein reiner Tisch jedenfalls, sondern eine mit den Brocken der Geschichte vollgeräumte und eingestaubte Platte.

Aurach mag unter gewissen Aspekten als Vertreter der Avantgarde in Sebalds Prosawerk erscheinen, tatsächlich aber ist er der Künstler des Staubs, der sich einstaubenden Welt, ein Versprengter, nicht allem voran, sondern abseits von allem, ein Verlorener der Garde dispersée. Eine Vorstellung von dem, was ein wahres Kunstwerk ist, gewinnt er im Traum, als er auf dem Schoß von Pan Frohmann aus Drohobycz ein winziges Modell des Tempel Salomonis sieht. Zweitausendfünfhundert Jahre zurück, so weit muß man gehen, um, im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten, eine Amplitudendämpfung zu erreichen. Alec Garrad hat offenbar den gleichen Traum gehabt und sein Leben mehr und mehr dem Bau eines Tempelmodells in einem etwas größeren Maßstab verschrieben.

Aurach wohnt in seinem Atelier, Garrad mehr oder weniger in der Scheune, in der das Tempelmodell entsteht, der Architekturhistoriker Austerlitz liebäugelt mit einem Bahnwärterhäuschen als Unterkunft, Sebald siedelt als Selysses um in seine Prosa, alles, auch für uns Leser, wohnlichere Orte als die in ihrer Neuheit erstarrten oder einstürzenden Neubauten der Avantgarde.

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