Sonntag, 26. Januar 2014

Figurationen

Ansichten eines Gemeinen Leser


Wer einen unter dem geringen Umfang des Werkes leidenden Liebhaber der Sebaldschen Prosa tröstend auf die wissenschaftlichen Arbeiten des Autors hinweist und dabei vor allem auf die umfangreichen frühen Schriften zu Sternheim und Döblin, wird nicht in jedem Fall Dank ernten. Eine ganz andere Sache ist es mit der Lyrik. Man schlägt Über das Wasser und das Land auf, liest von Tschechows Tod und ist gefangen. Passionierte Prosaleser würden allerdings die Lektüre eines kompletten Lyrikbandes, wie zuvor schon Gombrowicz, in der Art eines festlichen Diners erleben, bei dem sämtliche Gänge nur aus Dessertspeisen bestehen, mit den entsprechenden gastrischen Verwerfungen.

Der Leser begibt sich in einen Prosatext, verliert sich darin, lebt darin und braucht so schnell niemanden sonst. Aus einem Lyrikband liest er ein oder zwei, allenfalls drei Gedichte, nimmt aus den genannten diätetischen Gründen Abstand von mehr und steht ein wenig verloren da. Das ist der Augenblick, in dem auch der jeder Pflicht entbundene Gemeine Leser (Lector delectans) gern zu einem ergänzenden Band wissenschaftlicher Darlegung greift, wie er jetzt vorliegt in Gestalt von Uwe Schüttes Figurationen. Man verläßt das Haus des Dichters, geht über die Straße hinüber in das Haus des Kommentators und fühlt sich auch dort wohl. Dank der vielen beigegebenen lyrischen Textauszüge muß man so schnell nicht wieder zurück, ein Vorteil zumal bei schlechtem Wetter. Das Haus wird eine gute Adresse bleiben, man wird zurückkehren, um sich zu vergewissern, was es mit diesem oder jenen auf sich hat, wie die Zusammenhänge sind.
Die Besprechung beginnt mit dem posthum herausgegebenen Band Über das Wasser und das Land, einer Sammlung von über die Jahre hin betriebenen lyrischen Kritzeleien (Sebalds Worte), in der man auf viele aus der Prosa bekannte Motive stößt. Am auffälligsten in dieser Hinsicht ist, den böhmischen Aufenthalt in Austerlitz vorwegnehmend, die Marienbader Elegie. Zu Recht wird die Goethes hohem Ton zuwiderlaufende Sprachhaltung hervorgehoben, die sich verbindet mit einem offen geäußerten Mißfallen an den verschlungenen Minnen des Meisters aus Weimar. Auch abgesehen von Marienbad ist in dem Band eine allgemeine Bewegung weg vom Zentrum der großen Lyrik (Goethe) und hin zu ihren gering geachteten Rändern (Herbeck) festzustellen.

Die Marienbader Elegie ist eines der längsten, über mehrere Seiten entfaltetes Gedicht. Im stärksten Kontrast zur Prosa stehen naturgemäß die zum Teil nur wenige Zeilen oder Wörter umfassenden, in der Syntax und der Gedankenabfolge extrem verkürzten Produkte, wie zum Beispiel Elisabethanisch. Während hier alles Entbehrliche und vielleicht noch mehr unterdrückt ist, folgt Sebalds Prosa dem Prinzip, alles nur Erdenkbare aufzufalten, dies immer zur Erweiterung der Trageflächen, um, dem eingestandenen Vorbild Thomas Brownes folgend, den Sätzen noch mehr Aufwind zu verschaffen.
Der zweite Teil der Figurationen geht auf Sebalds erste größere künstlerische Publikation ein, das Langgedicht Nach der Natur. Der Leser mag für einen Augenblick stutzen, war er ursprünglich doch in Versuchung gewesen, Nach der Natur als Prosagedicht fast schon auf die Seite der Prosa zu ziehen. Davon hat er aber inzwischen aus eigener Kraft Abstand genommen. Nach der Natur eröffnet mit dem Blick auf ein Heiligentableau und behält im lyrischen Fortgang, auch bei sich ändernden Inhalten, den sakralen Ton bei. Der heilige Georg allerdings, Schutzpatron des Dichters, schickt sich an, aus dem Rahmen des Poems zu treten, und tatsächlich treffen wir ihn wieder, unter Schwindelgefühlen, auf den Bildern Pisanellos und anderenorts, in der herzbewegenden Weltlichkeit der Prosa. - U. Schütte geht das Langgedicht sorgfältig durch, erhellt Dunkles, verweist auf biographische Hintergründe und erkennt verborgene Vorverweise auf das Prosawerk.

Nachdrücklich und aus gutem Grund wird betont, daß Sebalds Werk nicht mit Austerlitz schließt, sondern mit dem posthum erschienen, von Sebald selbst aber noch zur Publikation vorbereiteten Band For Years Now. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Miniaturgedichten Sebalds mit Bildern von Tess Jaray. Ein ähnliches Projekt war in Zusammenarbeit mit Jan Peter Tripp vorbereitet und ebenfalls erst nach Sebalds Tod, aber noch vor For Years Now, unter dem Titel Unerzählt veröffentlicht worden. Wie der Titel vermuten läßt, sind die Texte in For Years Now englischsprachig und wurden verschiedentlich als das von nicht wenigen die längste Zeit schon ersehnte Überwechseln, in der Spur Conrads und Nabokows, zur englischsprachige Literatur gedeutet. Zum einen aber wurden, wie wir erfahren, nicht wenige der Mikropoeme zunächst in einer deutschen Fassung entworfen, und zum anderen ist das Gewicht gegenüber der Prosaproduktion für diese Einschätzung nicht hinreichend.

U. Schütte gibt der schlicht gehaltenen Edition von For Years Now den Vorzug gegenüber dem eher zum Prachtband geratenen Unerzählt, aber es galt ja auch, einen Verstorbenen zu ehren, nicht die hohe Zeit kalter Avantgarde. Zu denken geben beide Bücher in jedem Fall. Besonders interessant ist die Geschichte des Gedichtes Feelings / my friend / wrote Schumann / are stars / which guide us / only under / a dark sky. Es gibt zwei frühe deutsche Fassungen. In der zweiten ist unter anderem die zweite Hälfte der ursprünglichen Fassung einfach weggeschnitten, weiterhin aufrecht erhalten bleibt aber die Einschätzung, Gefühle leiteten uns nur am lichten Tag, während es in der englischen Endfassung dann ein dark sky ist, unter dem sie gedeihen. Derartige Spielräume bei engen Verhältnissen können überraschen.
Wenn wir Sebalds Prosa als prachtvolle Entfaltung aus der gekritzelten Lyrik erleben, so kann uns die späte erneute Einfaltung der Sprache nicht unberührt lassen. Viele Blüten entfalten sich mit dem Tageslicht und schließen sich am Abend umso fester. So haben wir den Trost, daß Sebalds Leben immerhin einen vollen Tag umfaßt. Ohnehin ist die Zeit von allen unseren Erfindungen die weitaus künstlichste, und die Toten sind außer der Zeit.

Sonntag, 19. Januar 2014

Reines Denken, reine Anschauung

Scherzo
Als Abschluß der Austerlitz einleitenden Passage lesen wir: In Erinnerung ist mir geblieben, daß etliche von den im Nocturama behausten Tieren auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. – Der Satz wird ergänzt von einer Bildstrecke aus zwei tierischen und zwei menschlichen Augenpaaren. Bei dem Tier oben dürfte es sich um einen Nachtaffen handeln, das Augenpaar darunter ist unverkennbar das einer Eule. Die menschlichen Augenpaare sollen Wittgenstein und Jan Peter Tripp, dem Philosophen und dem Maler also, zuzuschreiben sein.

Was die Lemuren in Madagaskar denken und sehen, weiß nur ein kleiner Kreis von Fachleuten. Tagsüber in ihrem Baum hockend, kann die Eule in der Tat den Eindruck erwecken, als versuche sie, sich die Zeit mit reinem Denken zu vertreiben, nachts aber verliert ihre Anschauung alle Reinheit und verengt sich ganz auf die Wahrnehmung der Beute. Bei den Menschen liegt es nahe, das reine Denken dem Philosophen und die reine Anschauung dem Maler zuzuordnen, vielleicht aber sollen nach dem Willen des Dichters beide beides zur gleichen Zeit betreiben.

Guggelt man nach Reinem Denken, so stößt man ausschließlich auf Hinweise aus der Esoterik, selbst Mathematik und formale Logik sind zu verunreinigt, um als reines Denken durchzugehen. In der Philosophiegeschichte weitaus besser verankert als das reine Denken, und womöglich auch gemeint, ist die reine Vernunft, die aber wurde von Kant in ihrer Leistungskraft radikal beschnitten. Auch die reine Anschauung, ein weiterer Begriff Kants, leistet isoliert wenig, ist sie doch nicht mehr als die zwar unverzichtbare aber gänzlich leere Folie für die empirische Anschauung. Und vollends aus der Verbindung von reinem Denken und reiner Anschauung ergibt sich nichts Gutes, Kant selbst hat es mit unvergleichlicher Prägnanz zusammengefaßt: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Der Dichter scheint demgegenüber Großes zu erwarten, wenn blinde Denker und Maler auf eine leere Welt starren.

Tatsächlich aber erhebt Sebald auf vertiefte philosophische Schulung keinen Anspruch. Wittgenstein betreffend hat er eingeräumt, so viel ihm seine Gestalt bedeute, so wenig habe er von seiner Philosophie verstanden. Einblick in den Kantianismus wird er gehabt haben und eine eigene Sicht des kategorischen Imperativs, ein unbedingter Vorteil für das Verfassen künstlerischer Prosa ergibt sich daraus nicht. Wir können uns darauf verlassen, daß Sebald mit dem reinen Denken und der reinen Anschauung rein literarisch im Rahmen eines luftigen Spiels verfährt. Das aufgerufene poetische Bild von reinem Denken und reiner Anschauung erholt sich denn auch sogleich von der peniblen Untersuchung, der es hier unterzogen wurde, und steht da wie zuvor, unberührt, wenn nicht gestärkt.

Pavese hat uns verraten, nichts sei einfacher als das Verfassen eines Prosawerks. Man schreibt den ersten Satz hin, das allerdings mit einiger Sorgfalt, und hat dann nur noch die sich aus ihm notwendig ergebenden Folgerungen zu ziehen. Nun denn: In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. - Der Einleitungssatz von Austerlitz hat einen etwas dunklen und geheimnisvollen und zugleich leichten und übermütigen Klang. Was mögen die nicht recht erfindlichen Gründe sein? Man ist nicht sehr überrascht, von Uwe Schütte* zu erfahren, Selysses, wenn wir ihn für einen Augenblick mit seinem Autor identifizieren, sei, ähnlich wie in diesen Tagen der französische Präsident auf seinem Motorroller, in Liebesdingen nach Belgien unterwegs gewesen, mit einem anderen Verkehrsmittel naturgemäß, das Wasser war viel zu tief. Sebald, der Fürst der Finsternis, den wohlmeinende Kritiker zugunsten der tieferen Bedeutung von aller Neigung zu Scherz und Ironie freigesprochen haben, erlaubt sich schon in den Eingangszeilen zu Austerlitz mehr als nur einen Spaß, allerdings verdeckt und so, daß er die Tonlage nicht dominiert.

Wenn die Aufgabe des Autors sich darauf beschränkt, den ersten Satz zu Papier zu bringen, so muß der Leser nicht mehr als den ersten Satz recht verstehen oder, wenn er sicher gehen will, die ersten Seiten, dies allerdings nicht mit reinem Denken und reiner Anschauung, sondern indem er alle Sinne und allen Sinn beisammen hält.

* U. Schütte, Figurationen, 2014

Montag, 13. Januar 2014

Sumpfheilige

Ffransis a Catrin

'Tis all in pieces, all coherence gone,
Thou know'st how lame a cripple this world is. 


Der heilige Franz lag in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Kopf nach unten im Wasser und über die Sümpfe schritt die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rades, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand: ein Traumbild, das assoziativ anschließt an eine Wachträumerei in der Selysses sich ausgemalt hatte, über die graue Lagune nach Murano oder weiter noch auf die Isola San Francesco del Deserto in den Sümpfen der heiligen Katharina hinüberzufahren. Am Abend zuvor hatte er eine Bootsfahrt durch die Kanäle unternommen mit dem Venezianer Malachi, Träger eines Prophetennamens. Malachi ist Astrophysiker und gewohnt, alles aus der größten Entfernung zu sehen, nicht nur die Sterne. In seiner freien Zeit aber hat er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Er trägt den kopernikanischen Augenblick in sich, den Augenblick, in dem der menschengemäße Kosmos zertrümmert und verschlungen wurde von der unermeßlichen und gleichgültigen Weite eines endlosen Alls, die für die Menschheit größten kosmischen Katastrophe bislang, alles ist in Stücken seither, aller Zusammenhang ist verloren, die Heiligen, prominente Opfer der Verheerung, treiben als Wasserleichen dahin oder irren verstört durch versumpftes Land.
Die Nothelferin Katharina ist uns lange schon bekannt, aus dem ersten niedergeschriebenen Absatz des Dichters. Sie, Barbara und Margarethe stecken am Rand der linken Tafel des Lindenhardter Altars hinter dem Rücken Georgs ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zusammen. Georg hat das mittelalterliche Tableau längst verlassen und geleitet uns durch die Schwindel.Gefühle. Als der Artist Giorgio Santini meistert er inzwischen halsbrecherisch und schwerelos die schwierige Weltlage. Katharina ist ihm offenbar nachgefolgt, dann aber, von Glück weniger begünstigt, vom Weg abgekommen.

Noch am Morgen dieses Tages hatte Selysses an Allerheiligen und an die Allerseelentage zur Zeit seiner Kindheit gedacht. Nichts war ihm seinerzeit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen, als seien ihnen die Wohnungen aufgekündigt worden. Die ebenso schöne wie beängstigende Existenzweise, um nicht zu sagen das Leben der Toten und der Heiligen, ihre Nähe zu den Lebenden und der beiderseitige Grenzverkehr sind ihm immer wichtig geblieben. So sind denn auch die heilige Katharina und der heiligen Franz im venezianischen Feuchtgebiet noch nicht an das Ziel ihrer Reise gelangt.
An Ende der Schwindel.Gefühle besteigt Selysses in London ein Zug mit Fahrtziel Südostengland, wo er sich wenig später nur auf seine Englische Wallfahrt begibt. Die Ringe des Saturn sind so gesehen ein Fortsetzungsroman. Nicht, daß es dieser Überlegung bedürfte, um den Weg der Heiligen weiter zu verfolgen, Pendler an der Grenze von Leben und Tod werden sich nicht durch eine Buchgrenze aufhalten lassen. Den heiligen Franz treffen wir wieder in der Gestalt des Majors Le Strange, wie immer hat er sich emblematisch mit Vögeln umgeben. Nicht nur, daß er einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer hält, ständig ist er umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumlaufen, teils in der Luft ihn umfliegen. Als Selysses in Irland die Ashburys verlassen hat, reut es ihn schon bald, nicht geblieben zu sein, um ihr Tag für Tag unschuldiger, man kann auch sagen heiliger werdendes Leben für immer zu teilen. Mrs. Ashbury hatte er schon himmelwärts auffahren sehen, wenn sie auch im Plafond steckengeblieben war, und die Tochter Catherine glaubt er Jahre später in Berlin als die Katharina in Reinhold Lenz’ Dramenfragment wiederzuerkennen. Zwar ist es nicht Katharina mit dem Radl, sondern die aus Siena, aber auf Trennschärfe kommt es nicht an, die beiden Verkörperungen der Katharina werden bei schwindendem Heiligenbewußtsein ohnehin zunehmend verwechselt und sind eigentlich schon eins geworden. Das Heiligenpaar aus Venedig ist jedenfalls wieder in trocknem Gelände.

Auch die Ringe des Saturn haben ihren kopernikanischen Augenblick, nicht in der Astronomie, sondern in der Heilkunst und nicht, wie im Fall des Malachi, als spätes Echo, sondern unmittelbar an der zeitlichen Quelle. Rembrandt hat zahllose Bilder zu biblischen Geschichten gemalt, der Dichter aber verweilt bei einem Modernitätsbild, der Prosektur des Dr. Tulp. Einesteils handelt es sich um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Freude über die Ablösung des Alten durch ein Neues kann nicht aufkommen. Die Welt ist ein lahmer Krüppel, wie John Donne, jünger noch als Rembrandt, mit Blick auf die kosmischen Katastrophe diagnostiziert, Kant und andere nach ihm haben die kranken Glieder des Patienten nur notdürftig von den Folgen des schweren Unfalls wieder heilen können.

Sebald ist der Dichter des fortdauernden Modernitätsschocks. Immer wieder sinnt auch er auf Remedur, mit poetischen Mitteln. Gleich bei der Einfahrt nach Italien träumt es Selysses von Tiepolos Bild der heiligen Thekla, auf dem die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Auch später in Padua, auf Giottos Bild von der Beweinung Christi, haben die weit oben segelnden Engel noch den uneingeschränkten Überblick, unter sich sehen sie allerdings nicht als Leid. An Hebel fasziniert Sebald, wie er die alte Welt beisammen hält, dem blind und taub sich fortwälzendem Lauf der Geschichte Begebenheiten entgegenstellt, in denen ausgestandenes Unheil entgolten wird, auf einen Feldzug ein Friedensschluß folgt, jedes aufgegebene Rätsel seine Lösung hat. Im Zug nach Mailand gehen Selysses beim Studium einer schlichten italienischen Sprachlehre ganz ähnliche Gedanken durch den Sinn, die von der Banalität ihrer Quelle sogleich mit lächelndem Selbstspott desavouiert werden. Bei Hebel läßt uns die feine Gestalt seiner Erzählungen für einen Augenblick Abstand nehmen vom deprimierenden Gebrauch der eigenen Vernunft, bei Sebald findet die Neuzeit ihre Legitimität in der mit Schönheit und Freundlichkeit ausgestatteten, zutiefst bewohnbaren Prosa.

Franz und Katharina sind durch Namensassoziation auf den Plan gerufen worden, sind sie frei austauschbar, hätten es, bei entsprechender Benennung venezianischer Lokalitäten, ebensogut auch der heilige David und die heilige Kunigunde sein können? In jedem Fall dürfte der Vogelfreund Franz mit dem wittgensteingemäßen Lebenswandel dem Dichter recht gewesen sein. Im Zusammenspiel mit der auf dem Rad gebrochenen Katharina wiederholt der milde Heilige in etwa den aus den kleinen Kapellen bei W. vertrauten Gegensatz, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille.

Sonntag, 5. Januar 2014

Denksport

Ein schmerzhaft flimmernder Fleck

Wenn jemand sich leicht von den Dingen rühren läßt, die den Dichter rühren - allein schon die Rührungen durch Hühner- und Wasservögel: im Tirol der Anblick einer sich weit ins Feld hinauswagenden Hühnerschar, in Amsterdam das Entenpaar in einem breiten Graben im Schutze einer Trauerweide und in Belgien die auf dem dunklen Wasser rudernde graue Gans - so ist er angenehm überrascht, wenn sich zeigt, daß er auch die offenbar mit einigem Stolz eingestandenen spezifischen Denkschwächen des Dichters teilt.

Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von mir seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu mir herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. One way to live cheaply and without tears, fragte sie unvermittelt, doch wie ich ihr gestehen wollte, daß es mir immer unmöglich gewesen sei, auch nur das einfachste dieser verdrehten englischen Rätsel zu lösen, da sagte sie schon: Oh, it’s rent free! und kritzelte geschwind die acht Buchstaben in die letzten leeren Kästchen hinein.
Wer vielleicht das Rätsel aufgrund eingeschränkter Englischkenntnisse selbst nach seiner Auflösung noch nicht recht durchschaut, kann sich trösten und revanchieren mit dem Hinweis, daß es der Anlage eines jeden Kreuzworträtsels, verdreht oder nicht, widerspricht, wenn alle acht Buchstaben des zuletzt gefundenen Wortes noch einzutragen und die Kästchen nicht vielmehr zum großen Teil bereits von den aus der anderen Richtung auf sie zulaufenden, fertigen Lösungen ausgefüllt sind. Der Dichter stand wohl nicht nahe genug an dem Schreibsekretär, um das Geschehen in seinen Einzelheiten zu verfolgen und es interessiert ihn auch nicht so sehr. Sein Versagen beim Kreuzworträtsel des Telegraph nimmt er gelassen hin, schließlich, mag er sich sagen, ist es nichts als eine einigermaßen billige, mit Mehrdeutigkeiten spielende Clownerie, nichts für ernste Gemüter. Das Schachspiel ist da schon eine andere Angelegenheit. Die Gemeinsamkeit besteht lediglich im beide Denksportarten dominierenden Kästchenmuster, die Denkanstrengung geht nicht in die gleiche Richtung.
Bei der Besprechung des Billardbildes aus Tongeren läßt der Dichter sich schon bald von der grünen Fläche des Tisches ablenken zum schachbrettartigen Bodenmusters, das nicht von ungefähr den Gedanken nahelegt,  jeder Künstler lasse sich, in dem Rahmen, den er sich jeweils vorgibt, auf ein risikoreiches Spiel, bei dem mit einer falschen Bewegung leicht alles vertan ist, und dies umso mehr, wenn es mit seiner Kunst im Schach nicht weit her ist. Meine Schachkenntnisse sind immer die unzulänglichsten gewesen. Kaum je erkenne ich die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich mir anbieten, kaum je sehe ich weit genug voraus, und gelingt es mir tatsächlich einmal, einen Plan ins Auge zu fassen, so klammere ich mich entweder zu sehr daran oder aber er wird von meinem Gegner sogleich durchschaut und mit dem nächsten Zug zunichtegemacht. Immer habe ich beim Schachspielen, wie übrigens auch beim Schreiben, das Gefühl gehabt, daß meine Denkfähigkeit vollkommen unterentwickelt sei, daß ich allenfalls tappend und tastend vorankomme und daß am inneren Horizont meines Kopfes bei einem gewissen Grad der Anstrengung jedesmal dort, wo ich Ausweg und Antwort vermute, ein schmerzhaft flimmernder Fleck erscheint. So war es auch jetzt wieder, als ich gleich nach meiner Ankunft in Piana im Foyer des Hotels des Roches Rouges vor der noch ungespielten Partie saß. Wahrscheinlich deshalb begann ich die Figuren auf dem Brett willkürlich hin- und herzuschieben und ebenso willkürlich einmal einen schwarzen Bauern, einen weißen Turm, einen schwarzen Springer und dann die nächste weiße Figur beiseite zu stellen. Der durch diese Bewegungen erwachte Pudelhund sah mir dabei mit einer gewissen Verwunderung zu, bis auf dem Brett nichts mehr übrig war als die beiden Könige, ein weißer und schwarzer Bischof und ein weißer Springer.
Die gleiche unterentwickelte Denkfähigkeit beim Schach und beim Schreiben, das zu glauben fällt uns naturgemäß schwer. Nachdem der Dichter auf dem Schachbrett allem Anschein nach nur Unheil angerichtet hat, begibt er sich in den Schutz seines künstlerischen Totemtieres, das, rechtzeitig aus dem Schlaf erwacht, sein Tun mit Verwunderung quittiert, hat er die Lektion schon wieder vergessen? Vom Hund schließlich, wie er scheinbar planlos über das Feld läuft und doch immer findet, was er sucht, hat er nach eigenem Eingeständnis das Schreiben erlernt. Die Autodiagnose der Denkschwäche verliert im Schutze des Hundes, dessen Stärke nicht der abstrakte Gedanke ist, ihren Schrecken, und ohnehin gilt Kants dringende Empfehlung, vom eigenen Verstand nach Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen, ganz ausdrücklich für die Dichter. Es ist nicht ihre Aufgabe, sich in kluger und weitblickender Weise zu äußern, die Schwäche im Schach wird zur Stärke in der Prosa. Das olfaktorische Suchbild des Hundes wird gegen ein visuelles Bild eingetauscht, ein in der Ferne schmerzhaft flimmernder Fleck erscheint. Gilt es, diesen Fleck zu erreichen, oder wird er sich im Zuge jeder Annäherung nur umso weiter entfernen, ein Irrlicht, das, wenn es an der einen Stelle erlischt, sogleich an einer anderen aufleuchtet.

Auf dem Schachbrett herrscht ein ausgelichtetes Chaos, die beiden Könige, ein weißer und schwarzer Bischof und ein weißer Springer, aber wie es dazu kam, davon wird in einer wie immer makellosen und suggestionsreichen Prosa berichtet, alles ist so, wie es sein soll. Zu den Großen der Prosa kann der Dichter sich zählen, zu den Großen des Schachspiels nicht. Oder hat es vielleicht etwas besonderes auf sich mit der finalen Figurenkombination? König weiß und schwarz, Bischof weiß und schwarz, Springer weiß, lange noch können wir darüber nachsinnen, aber in diesem Augenblick kommt Mme Ferch, die etwa vierzigjährige und sehr dunkel und korsisch aussehende Alleinherrscherin des Hotels bei der Terrassentür herein, setzt sich ohne weiteres dem Dichter gegenüber und studiert eine zeitlang die fünf noch übrigen Figuren. Je crois, c’est Horwitz, sagt sie schließlich und rückt den Springer auf h6, worauf er mit dem schwarzen Bischof nach b3 fährt. Es folgen noch zwei weitere Züge und Gegenzüge und mit dem vierten schon ist der Dichter matt. Eine erstaunliche Leistung auch in der Niederlage, sagte Mme Ferch, wenn Sie wirklich vom Schach so wenig verstehen wie Sie behaupten, wer kann am Brett schon gegen Bernhard Horwitz bestehen, das wäre zuviel verlangt. Sollte der Hund, obwohl schlafend ... ? Gerade von Pudelhunden kann, wie Schopenhauer überzeugend nachgewiesen hat, selbst noch das Unmögliche erwartet werden.

Mittwoch, 1. Januar 2014

Krauthäupter

Unheilvolle Wege

Es gilt in Fachkreisen weithin als unstrittig, daß Austerlitz ein Buch zum Holocaust ist, für manche überstrahlt das Thema mit finsterem Glanz das gesamte Werk und macht Sebald zum Holocaustdichter, obwohl die Judenvernichtung in den anderen drei Prosawerken nur fern am Horizont oder auch gar nicht in Erscheinung tritt. Berufen wir uns ein weiteres Mal auf Deleuze, dem zufolge die künstlerischen Wahrheit niemals in den bewußt gewählten Themen zu finden ist, so muß, sofern Austerlitz als Kunstwerk gelesen wird, auch in diesem Buch das Holocaustthema an den Rand des Blickfelds verlagert werden, und stattdessen die es umspielenden unbewußten Motive, die allein den Worten ihren Sinn und ihr Leben verleihen, in den Mittelpunkt.
Die Protagonisten des Buches suchen in Terezín und Willebroek Holocaustgedenkstätten auf, das Herz der Dunkelheit, soweit es gegenwärtig noch zugänglich ist. Ich ging die Straße hinauf und hinunter, bis ich auf einmal vor dem von mir zunächst übersehenen sogenannten Ghettomuseum stand: so könnt der Bericht über den Besuch in Terezín beginnen. Stattdessen beginnt er bereits am trostlosen Bahnhof Holešovice in Prag, von dem aus die Gleise zu beiden Seiten ins Unendliche verlaufen. Weiter führt der unheilvolle Weg durch die Moldauauen und durch das leere böhmisches Land. Der Bahnhof Lovosice ist verlassen bis auf eine Bauersfrau, die in ihrem Stand darauf wartet, daß es jemandem einfallen möchte, eines der zu einem mächtigen Bollwerk aufgetürmten Krauthäupter zu kaufen. Da nirgends ein Taxi zu sehen ist, macht Austerlitz sich zu Fuß auf den Weg nach Terezín. Hinter einem giftgrünen Feld im Vordergrund steigt ein vom Rost schon zur Hälfte zerfressenes petrochemisches Kombinat auf, dahinter die kegelförmigen böhmischen Berge. Terezín duckt sich tief in die feuchten Niederungen am Zusammenfuß von Eger und Elbe hinein. Die Stadt selbst ist menschenleer, die Türen verschlossen, auch die des Antikos Bazar, hinter dessen Fensterscheiben in bunter Zusammenstellung die verschiedensten zum Grübeln anregenden Trödeldinge zu bewundern sind, neben vielem anderen auch Hirschhornknöpfe, deren bloße Erwähnung - wo es doch allein um das Ghettomuseum gehen soll - seinerzeit eine deutschsprachige Kritikerin aus der Fassung gebracht hatte. Tatsächlich ähneln die Hinterlassenschaften im Trödelladen: kristallene Schalen, Keramikvasen. Seemuschelkästchen, Miniaturdrehorgeln -, den Exponaten im Museum: Handtaschen, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten, Kämme. Die Beschäftigung mit dem Museum beansprucht nicht mehr Seiten als die mit dem Bazar, der, anders als das Museum, überdies gründlich bebildert ist. Die planvolle Ausstellung des Museums gegenüber dem bunten Durcheinander im Bazar läßt an Prousts Unterscheidung von gewolltem und unwillkürlichem Erinnern denken, die bevorzugte Erinnerungsform des Dichters ist allgemein bekannt. Auf der Rückfahrt im Bus sind die Fahrgäste ausnahmslos in den ewigen Schlaf versunken, ihre verrenkten Leiber hängen in den Sitzen.

Mit dem Vorortzug in Mechelen eingetroffen, entschließt Selysses sich, die immerhin zehn Kilometer nach Willebroek zu Fuß zurückzulegen durch die Außenbezirke und die größtenteils schon zersiedelten Vorfelder der Stadt, nicht der Traum des Wanderers, eher schon der Traum eines bußfertigen Pilgers. Ein langer Lastkahn beladen mit Krautköpfen gleitet führerlos, wie es scheint, und ohne eine Spur zu hinterlassen auf der schwarzen Wasserfläche des Kanals dahin. Krauthäupter, Krautköpfe, Totenköpfe, für einen Augenblick verwandelt sich rückblickend die Krautbastion von Lovosice in eine Schädelpyramide, die verladen als Schädelfracht Belgien erreicht hat und gleich der Barke des Gracchus auf dunklen Wassern ziellos weitertreibt. Auf dem dunklen Wasser rudert auch eine graue Gans, einmal ein Stück in die eine Richtung, dann in die andre wieder zurück. Nach einer Weile steigt sie ans Ufer und setzt sich nicht weitab von ihm ins Gras. Wie seinerzeit im Tirol der Anblick einer sich weit ins Feld hinauswagenden Hühnerschar oder später in Amsterdam der Anblick eines Entenpaars in einem breiten Graben und im Schutze einer Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers, ist ihm auch der Anblick der Gans sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß er nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das ihn manchmal so rührt. Was ihn so rührt, das ist der vertiefte Ausdruck für Deleuzes unbewußte Motive, und Sebalds Prosa ist zu lesen als eine dichte Abfolge solcher Rührungen unterschiedlicher Intensität, beglückend oder beängstigend oder beides in einem. Das beschworene Dunkel des Wassers findet einen auffälligen Kontrast, denn der grauen Gans vorausgegangen war, in diesem an sich heiligenarmen Buch des Dichters, den die Heiligen immer seltsam berührt haben, die Verwandlung in den Heiligen Julian, dessen Haar Feuer fängt auf dem Weg durch die Wüste. Die Verzauberung der Worte berührt ohne weiteres auch uns, und wenn wir mit Wasser- und Hühnervögeln oder Heiligen vielleicht bislang nicht viel im Sinn hatten, so sind wir jetzt verwandelt, den Weißkohl werden wir fortan mit anderen Augen betrachten und selbst noch Knöpfe aus Hirschhorn werden uns wichtiger sein als jemals gedacht.

Einige waren schon vorausgelaufen über die Brücke zu dem finsteren Tor, durch das er sich nicht hineintraute, geradeso wie er sich an anderer Stelle nicht getraut hatte, einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. Stattdessen nimmt er Platz im Gras und liest, in Gesellschaft der Gans, in einem Buch des Londoner Literaturwissenschaftlers Dan Jakobson, das ihn zunächst in die Diamantengruben von Kimberley, Südafrika, und dann zu den Festungsanlagen von Kaunas führt, in denen 1941 die deutsche Wehrmacht sich eingerichtet hatte, und wo in den folgenden drei Jahren mehr als dreißigtausend Menschen ums Leben gebracht wurden. Während in Terezín das Ghettomuseum in das Ornament der verschiedenen Besuchsstationen eingearbeitet wurde, wird die Mahnanlage in Willebroek substituiert durch die Lektüre eines Buches, das freilich durch seine Motivlage das Thema wachhält bis zum Schluß. In Mechelen langt Selysses wieder an, als es Abend wurde.

Deleuzes Ansatz läßt die Frage offen, wie die bewußten Themen, als ihr nicht gemäß, überhaupt in die Dichtung geraten, kennen die Dichter die Regel nicht? Niemand kennt sie besser als Sebald, er gibt an, sein erstes Prosawerk unter Schwindelgefühlen, also bei nicht klarem Kopf und mit eingeschränktem Bewußtsein geschrieben zu haben. Als seinen literarischen Lehrmeister nennt er den Hund, der anscheinend planlos über das Feld läuft und doch findet, was er sucht, dabei aber in seinem Kopf sicher keine Themen abhandelt.
Was hat Sebald veranlaßt, den Rat des Hundes mißachtend, das Holocaustthema anzugehen, welchen Platz zwischen schreibenden Zeitzeugen, für die angesichts des Übermaßes des Erlebten die Unterscheidung von gewollter und ungewollter Erinnerung, von bewußten und unbewußten Themen nicht gilt, auf der einen und Historikern auf der anderen Seite konnte er hoffen zu beanspruchen? Ein früher Kritiker hatte bemängelt, daß Sebald im Austerlitzbuch endlos lange nicht zur Sache kommt. Der Ernst des Themas vertrage sich nicht mit embroidery, formuliert ein Leser sein Unbehagen. Beide, der Kritiker und der Leser, sehen das Richtige von der falschen Seite her. Nicht die unbewußten Motive dekorieren das Thema, das Thema wird in das Ornament der Motive eingearbeitet, Ornamentalität dabei verstanden im anspruchsvollen Sinne Luhmanns als eine sich selbst dirigierende Formenkombination, ein Begriffsmanöver, das die ornamentalen Figuren in die unmittelbare Nähe der unbewußten Themen bei Deleuze bringt und ihnen klarere Kontur verleiht.

Es ist schwer, die Bedeutung eines Themas, das in der außerliterarischen und vor allem in der politischen Welt als das Thema schlechthin gilt, innerhalb eines literarischen Werks richtig einzuschätzen. Auf keinen Fall wird seine Stellung jemals unterschätzt und in so gut wie allen Fällen wird sie überschätzt. Die Erwartung des frühen Kritikers ging offenbar dahin, daß das THEMA alle unbewußten Themen und Motive verscheucht, aber auch Austerlitz ist nach der Weise des Hundes geschrieben. Die unheilvollen Wege erübrigen fast schon die Ankunft. In gewissem Sinne wird das THEMA durch die Einarbeitung in die Ornamentik zum Verschwinden gebracht, was bleibt ist der Blick auf den Rand der mehr als tausend Fuß tiefe Grube in der Erzählung Dan Jakobsons, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf der anderen Seite sein unausdenkbares Gegenteil. Ganz anders als die Verzauberung der Dichtung funktioniert die seit langen Jahren öffentlich veranstaltete Magie des Verschwindenlassen durch lückenloses humanistisches Wohlverhalten im europäischen Verein garniert mit im Jahresablauf immerwiederkehrenden Gedenkveranstaltungen an den Orten des Grauens. Das offiziell-kollektive Verhalten und das künstlerisch-individuelle Vorgehen stehen nicht auf der gleichen Ebene, aber Sebald hat verschiedentlich angedeutet, nicht zuletzt die immer unvermeidliche ästhetische Unerträglichkeit der öffentlichen Darbietung habe ihn zu Austerlitz provoziert. Seine wahren Leser lesen Sebald als Themenbeseitiger oder, richtiger, als Themenbefreier, denn er wirft die Themen nicht aus der Welt, sondern befreit sie durch die Kunst seiner Prosa vom Modus ihrer alltäglichen öffentlichen und medialen Behandlung. Obwohl die Welt dem Augenschein nach nicht verändert ist, befinden wir uns in einer ganz anderen Welt, genau diesen Befund hat Sebald sich von der Prosakunst erhofft, eine unmerkliche Verschiebung nur, und alles ist von Grund auf verändert.