Sonntag, 18. August 2013

Zeitvertreib

Le reclus du blvd. Haussmann

Longtemps, je me suis couché de bonne heure. Parfois ...


Man kann die Recherche du temps perdu als eine riesige, selbst auferlegte Strafarbeit lesen. Nachdem Proust fast vier Jahrzehnte seines Lebens unter zunehmenden Selbstvorwürfen in der mondänen Gesellschaft vertan hat – die vertane Zeit, auch das eine der Bedeutungen von temps perdu – schließt er sich für die letzte Dekade ein in das schallgedämmte Zimmer im Haus n°102, Boulevard Haussmann und verfertigt das minutiöse Protokoll seiner schuldhaften Untätigkeit. Der typische Lebenslauf der Heiligen, Verschwendung und Ausschweifung, dann Um- und Einkehr. Bei Sebalds säkularem Heiligen und Eremiten Wyndham Le Strange ist es allerdings, nach allem, was wir ahnen können, unerträgliche fremde Schuld, die zum Rückzug führt. Prousts Florence Barnes hieß Céleste Albaret, sie hat ihn um die Dauer von zweiundsechzig Jahre überlebt.

Niemand wird ernstlich glauben, Prousts Werk und Leben seien mit der Idee der Strafarbeit hinreichend und angemessen erfaßt. Deleuze, in seinem Buch Proust et les signes, deutet den unverkennbaren Bruch, die Kehre im Lebenslauf des Dichters weniger als Schuld und Sühne, denn als Saat und Ernte, konkret spricht er von einer langen Lehrzeit mit wenigen Probestücken, Les jours et les plaisirs, Saint-Beuve, Jean Santeuil, und einer kürzeren, wenn auch keineswegs kurzen Zeit der dem einen großen Werk gewidmeten Meisterschaft. Die Lehre betrifft weniger das Schreiben als, vorbereitend, das Entziffern der Zeichenwelt, der entlarvende Zeichensprache der Gesellschaft, der fieberhaften Zeichen der Liebe und der die Erinnerung wachrufenden Zeichen der taktilen Dinge: Küchlein, Pflastersteine und andere. Erst die vollständige Entzifferung der Zeichenwelten erlaubt deren Umformung in die alles verändernden Zeichen der Kunst. Die Recherche ist, so Deleuze, kein Protokoll, sondern eine in der Kunst erneuerte Welt.
 
Die Lehrzeit schließ übergangslos an an die Kindheit, als Zeit noch nicht spürbar und Kunst nicht vonnöten war. Diese allgemeine Bestimmung hält unserer aller Kindheit vergleichbar, mag sie auch so unterschiedlich verlaufen sein wie die Prousts und Sebalds. Die Gesellschaft, in der Prousts noch junger Erzähler verkehrt, ist nun verschwunden, und Selysses hätte keinen Zugang zu ihr gehabt. Um einiges weniger begütert, hatte Selysses nicht die Zeit, Zeit zu verlieren, auch wenn zurückblickend vom Prosawerk Sebalds Beschäftigung mit Sternheim, Döblin und anderen als verlorene Zeit erscheinen mag. Mit dem Rückzug in das Haus am Boulevard Haussmann ist für Proust die Bestandsaufnahme abgeschlossen, genug Zeit verloren. In seinem Schreibzimmer sehen wir den Erzähler nicht, die Niederschrift ist kein Thema der Recherche, findet nicht in ihrem Inneren statt.

Auch Selysses sehen wir nicht in seinem Arbeitszimmer bei der Niederschrift seiner Werke, aber aus einem anderen, fast schon aus dem gegenteiligen Grund: die Werke werden, jedenfalls in der Fiktion, nicht dort verfaßt. Offenbar hatte er, als er mit der Prosaarbeit beginnt, noch nicht genug Zeit verloren. All’estero beginnt mit der ausdrücklichen Absichtserklärung, Zeit zu vertun: Ich war nach Wien gefahren in der Hoffnung, über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Bei seinem ersten Aufenthalt in Wien und Oberitalien vertut Selysses ganz überwiegend nur Zeit und sammelt, ähnlich wie Proust, flüchtige und doch tief sich einprägende Bilder. Beim zweiten Aufenthalt sehen wir ihn, während sich die Bilder vermehren und verdichten, immer häufiger mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, Verlieren und Wiederfinden der Zeit finden gleichzeitig statt. Das abschließende Kapitel der Schwindel.Gefühle führt in die Ortschaft W., die für Sebald nicht weniger bedeutet als Combray für Proust. In einem Interview kurz vor seinem Tod bekennt Sebald, keines seiner Prosastück sei ihm so leicht gefallen wie Ritorno in patria. Niedergeschrieben habe er es gleichsam ohne nachzudenken, nicht zuhaus in seinem Arbeitszimmer und auch nicht, wie der Text suggerieren will, noch im Engelwirt, sondern, darauf war man nicht gefaßt, auf einer griechischen Insel, dort wo sich das Ferienvolk gern die Zeit vertreibt.

Beide, Proust und Sebald, gelten als Erinnerungskünstler und damit als verwandt. Bei Deleuze heißt ein Kapitel Role secondaire de la memoire, für Proust ist damit die Erinnerung vom ihr zugedachten Königsthron gestoßen. Hohe Ansprüche kann ohnehin nur die ungerufene Erinnerung stellen, Combray hervorgerufen aus der Madeleine, Venedig aus dem unebenen Pflaster. Ihrer Natur gemäß kann diese Art der Erinnerung nicht herbeibeordert werden, sie ist ein seltenes und kostbares Gottesgeschenk. Ihr Zauber ist ein wichtiger Schritt bei der Verwandlung weltlicher Zeichen in die Zeichen der Kunst, und das die Erinnerung begleitende überbordende Glücksgefühl ist wie eine Verheißung des Gelingens. Der entscheidende Schritt bei der Wandlung bleibt aber noch zu tun, der Rückzug in das Haus n°102, Boulevard Haussmann ist unvermeidlich.

Austerlitz hat im Liverpool Bahnhof ein Proustsches Erinnerungserlebnis, das ihn zurückträgt zum Tag seiner Ankunft mit dem Kindertransport eben hier. Mit einem überbordenden Glücksgefühl ist die Erinnerung aus gutem Grund nicht verbunden. Das unebene Pflaster auf dem Weg in die Šporkova , das in ihn seine Prager Kindheit zurückversetzt, ist eine offene Hommage an Proust und eignet sich insofern nicht als Verwandtschaftsnachweis. Üblicherweise folgt Sebald anderen Formen der Erinnerung, meistens stehen sie dem gewählten Erzählthema, der Auswanderung, dem Holocaust, nahe. Nicht nur Deleuze aber geht davon aus, daß niemals das sujet traité, sujet conscient, Träger der künstlerischen Wahrheit sein kann, sondern immer nur les thèmes inconscients, les archétypes involontaires, où les mots, mais aussi les couleurs et les sons prennent leur sens et leur vie.
Eine Verwandtschaft mag sich über das Motiv der Erinnerung vielleicht nicht nachweisen lassen, ohne Zweifel aber zählt Proust zum engen Kreis der von Sebald Bewunderten. Wenn er sich von allen Seiten immer wieder dem Jahr Neunzehnhundertunddreizehn annähert, so immer auch der Welt Prousts. In Verfolgung der Gestalt des Cosmo Solomon gelingt es Selysses, wenn auch nur im Traum, in Deauville im Schicksalsjahr diese Welt zu betreten, die Welt der Guermantes, Saint-Loup, Swann, Montgomery, Fitz James, d’Erlanger, de Massa und Rotschild. Cosmo Solomon ist wie Proust Jude, reich und homosexuell und er verliert die Zeit nicht nur, ebenso wie das Geld bringt er sie geradezu mit allen verfügbaren Mitteln durch. Die Zeichen, die er meisterhaft entschlüsselt, sind die des Roulettes. Anders als Proust hat er keine Mittel, die verlorene Zeit wiederzufinden. Einmal ist er für längere verschwunden und wird schließlich im obersten Stock des Hauses in einem der seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer entdeckt. Mit bewegungslos herabhängenden Armen steht er auf einem Schemelchen und starrt hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren nach Boston oder nach Halifax. Wir können nicht in ihn hineinschauen, aber offenbar hat eine glückhafte Zurückversetzung in das Combray seiner Kindheit nicht stattgefunden. Cosmo Solomons Boulevard Haussmann wird die Nervenklinik Samaria in Ithaca, New York, sein, wo er vor Ablauf eines Jahres noch, stumm und unbeweglich, wie er war, verdämmert.

Cosmo Solomons Leben scheint ungleich trauriger zu verlaufen als das des Erzählers der Recherche, es ist aber behütet von der Freundlichkeit der Sebaldschen Sätze. Die Welt der Recherche ist nach dem Tod der Großmutter und der Mutter und abseits der Weißdornhecken abweisend. So voller Glück, wie wir teilnehmen an den Spaziergängen in Combray, so sehr graust es uns, wenn wir den Salon der Mme Verdurin betreten müssen, und umso besser verstehen wir, wenn Cosmo Solomon, aus eigenem Antrieb und auf Rat seines Dichters, bald alle Einladungen zu Diners und Soupers absagt. Die Niederschrift der Recherche erfolgte, wie es heißt, unter den ergonomisch ungünstigen Bedingungen, so als habe ein Märtyrer sein Martyrium gesucht.

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