Samstag, 3. August 2013

Gerufen

Völlige Stille

Je me sens appelé par sa voix, sagt Philip Roth in einem Interview. Französisch wird er vermutlich nicht gesprochen haben, eine Rückübersetzung der makellosen Wortfolge ins Englische soll aber nicht versucht werden. Kann man über das Verhältnis zu einem Dichter etwas Schöneres, Innigeres oder Vollständigeres sagen als diese sieben Worte, was wäre noch hinzuzufügen. Gemeint war in diesem Fall die Stimme Célines; Céline, für den Hitler im Umgang mit den Juden zu milde war, Äußerungen hervorgetrieben von den Furien der Psychose, wie einige glauben, dem Autor der einschlägigen Aufsätze zugute halten zu können. Céline, dessen späte Bücher in einer satzlosen, gestammelten, zerschlagenen und sich ständig überschlagenden Sprache intoniert sind, im Meisterwerk Voyage au bout de la nuit war das noch ein wenig anders. Das letzte Buch ist den Tieren gewidmet, Aux animaux; seinen Tieren, allen Tieren - vor allen anderen in jedem Fall der Hauskatze Bébert. Welche Stimme ist gemeint, was hört Roth?

Viele Stimmen rufen, und nicht alle fühlen sich von der gleichen gerufen. En France mon Proust c’est Céline, heißt es weiter im gleichen Interview. Damit hat Roth sicher Proust die Stimme nicht absprechen wollen, eine ganz andere Stimme, die Zahl derer, die sich von Prousts Stimme gerufen fühlen, ist, nach allem, was man annehmen kann, um ein Vielfaches größer als die der Hörer Célines. Zumal wenn es Nacht wird, sitzen Prousts Leser mit besonderer Vorliebe ganz für sich nur zwischen den Bücherstellagen der und lauschen hingebungsvoll auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Voranschreiten der Worte und Sätze, wie sie sich schließlich mitsamt ihrer Fracht, auf den Kreisen der Prosa höher und höher tragen lassen wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft – so jedenfalls lauschen sie, es sind oft die gleichen, der Stimme Sebalds.
Die Dichter wohnen in den Büchern, deren nicht geringste Schönheit ihr Schweigen, ihre völlige Lautlosigkeit ist, das Umblättern der Seiten wie ein Flügelschlag der Eule. In der morgendlichen Stille Venedigs hat Selysses die Vision einer vom Lärm wie von einem Meer verschlungenen Welt. Es ist in dieser Stadt ein anderes Aufwachen, als man es sonst gewohnt ist. Still bricht nämlich der Tag an, durchdrungen nur von einzelnen Rufen und vom Flügelklatschen der Tauben, während man in den Hotels anderer Städte nicht auf die Stille, sondern mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs horcht. Das also ist, habe ich dann immer wieder gedacht, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben kommen die Wellen daher, werden lauter, richten sich weiter auf, überschlagen sich in einer Art von Phrenesie auf der Höhe des Lärmpegels und laufen als Brecher aus über den Asphalt und die Steine. Ich bin im Verlauf der Jahre zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten was da war lange vor uns. Ganz und gar unwirklich, als müßte sie bald zerreißen, dünkte mich darum die Stille über der Stadt Venedig. Ist der Lärm endgültig an seinem Ziel, werden wir die das Schweigen der Bücher und die Stimme der Dichter nicht mehr hören können. Die Zeichen an der Wand sind nicht zu übersehen.

Eines der weniger beunruhigenden Zeichen noch sind die vorrückenden sogenannten Hörbücher. Hören wir Charlotte Brontës Stimme, wenn Sophie Rois Jane Eyre liest? Wir hören sie nicht, aber die Lesung kann ein Anstoß sein, neu auf Stimme der Dichterin zu hören. Naturgemäß hören wir nicht Sebalds Dichterstimme, wenn er uns Max Ferber vorliest, aber wir hören ihn gern und sind froh, daß seine Menschenstimme zur Dichterstimme zu passen scheint, ihr nicht schadet. Schließlich aber muß der Dichter schweigen, damit wir ihn hören können. In avancierter Prosa ist die Sprache von ihrer akustischen Komponente getrennt, sie ist still.
Weiter entfernt von der Dichterstimme als seine Menschenstimme ist die Stimme des Literaturwissenschaftlers Sebald, nicht zuletzt auch deswegen, weil er sich zunächst ganz überwiegend mit Autoren wie Döblin oder Sternheim befaßt hatte, von denen er sich nicht gerufen fühlte. Als er sich dann Keller, Hebel und Stifter zuwendet, hört er womöglich im Hintergrund auch schon Laute, die dann seine Dichterstimme bilden werden. Ist aber Wissenschaft überhaupt das richtige Verhalten für jemanden, der sich gerufen fühlt? Der Theoretiker hatte uns schon bestätigt: Kunst unterscheidet sich in jedem Fall vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung.

Die Stimme des Dichters wird also nicht hörbar an der im Hörbuch vortragbaren akustischen Oberfläche und auch nicht an der Oberfläche der Worte, sie erklingt immer de profundis, aus der stillen Tiefe des Textes. Sie ist nicht anzutreffen in den Aussagen des Oberflächentextes, dort, wo der Dichter etwas sagt, wie jeder etwas sagen kann, wo wir auf einer Höhe mit ihm sind, wo wir Vergleiche anstellen und einordnen können. Die Stimme der Callas läßt sich nicht durch den Hinweis erklären, die Tebaldi habe die gleichen Arien gesungen, und die Stimme des Dichters nicht dadurch, daß Platon sich schon über die gleichen Dinge den Kopf zerbrochen hat, bei Musil ähnliches zu lesen steht, und Handke manches auch so sieht. Um die Stimme zu verstehen, muß man nicht verstehen, was sie sagt, sie ist verborgen im Gesagten. Manche horchen nicht auf, wenn die Callas singt, und von der verborgenen Stimme der Dichter fühlen sich nur wenige gerufen.

Unter den Titeln von Klangfarbe und Musikalität sind wir bereits ähnlichen Eindrücken und Überlegungen nachgegangen. Gegenüber dem der Musikalität hebt der Begriff der Stimme den kreatürlichen Anteil am Kunstwerk hervor, so wie sich Gesang von Instrumentalmusik unterscheidet. Wenn aber die Stimme des Dichters lautlos ist, kann sie der des Malers eher noch ähneln als der des Sängers. Jeder kennt die berühmte Szene aus der Prisonnière, als der todkranke Dichter Bergotte, verleitet vom Artikel eines Kritikers, sich aufmacht, um in einer Ausstellung Vermeers Ansicht von Delft noch einmal in Augenschein zu nehmen. Der Kritiker hatte auf einen kleinen gelben Mauerfleck aufmerksam gemacht, der für sich genommen in seiner vollendeten Schönheit eine Chinoiserie von äußerstem Wert darstelle. Bergotte, der das Bild sehr gut kennt, sieht pour la première fois des petits personnages en bleu, (die recht großen im Vordergrund, die er nur schwer bislang hatte übersehen können, oder die wirklich recht kleinen hinten vor der Stadtmauer?), que la sable était rose, et enfin la précieuse matière du tout petit pan de mur jaune. So wie dieser Mauerfleck gemalt ist, so hätte er schreiben müssen, ist ihm schlagartig klar. Petit pan de mur jaune avec un auvent, petit pan de mur jaune, murmelt er, während er schon das Bewußtsein verliert. Es ist umstritten, wo auf dem Bild der Mauerfleck zu suchen ist, einige meinen, es gibt ihn nicht. In jedem Fall aber schaut Bergotte bei der letzten Betrachtung vorbei an den großen Aussagen des Bildes die Stadt Delft betreffend und findet die wahre Stimme des Malers, die seine eigene hätte sein sollen, in immer geringeren Einzelheiten, den kaum erkennbaren Personen, der Farbe des Sandes, und schließlich im Mauerfleck, Deo dante vitam hätte er sicher noch manches mehr, vielleicht noch Geringeres und darin noch Gewaltigeres entdeckt. Sebald läßt wiederholt, besonders in den Schwindel.Gefühlen, die Maler sprechen, die Geschichte des heiligen Georg wird uns in der Stimme Pisanellos vorgetragen, zunächst kaum erkennbare Personen, Empfangsdamen, Mitreisende &c. gewinnen beklemmende Deutlichkeit, sein letztendlicher Mauerfleck ist so wenig fixierbar wie der auf Vermeers Gemälde, vielleicht sind es die Motten, vielleicht auch die Seidenwürmer. Die Wahrheit seiner Stimme, von der wir uns gerufen fühlen, ist sicher eher hier zu suchen als in den großen Aussagen zu Holocaust und Luftkrieg.

Jeder Rufer ist ein Rufer in der Wüste, bis jemand sich gerufen fühlt. Gerufen fühlt man sich von Stimmen, die man, wie dunkel auch immer, ersehnt hat. Von wie vielen Stimmen können wir uns gerufen fühlen? Sebald hat gegenüber dem Stimmengewirr deutliche Ermüdungserscheinungen gezeigt, nur sehr wenige seien noch ständig in seinem Ohr.

Auf der Rückseite einer frühen Livre de Poche-Ausgabe der Voyage au bout de la nuit lesen wir eine Bestimmung der Stimme Célines : L’un des cris les plus farouches, les plus insoutenables que l’homme ait jamais poussé. Ein anderer mag bei der einleitenden Schilderung des Militärdienstes durchaus Stimmenverwandtschaft mit Jaroslav Hašek wahrnehmen  und nicht von einem cri farouche sprechen. Es ist die Stimmlage des Picaro, die auch in den weiteren Episoden bis zum Schluß des Buches vernehmbar bleibt. Benjamin wiederum hat bei Céline ein ähnliches Timbre vernommen wie bei Benn, das Timbre eines spezifisch ärztlichen Nihilismus. Wie hat Roth die Stimme Célines gehört?

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