Montag, 5. August 2013

Geldschein für Leser

The Baronetage of England

In Zukunft wird eine britische Banknote Jane Austin abbilden und sie mit diesen Worten zitieren: I declare after all there is no enjoyment like reading. Ihren letzten Roman, Persuasion, eröffnet die Dichterin demonstrativ mit dem Blick auf einen Nichtleser: Sir Walter Elliot never took up any book but the Baronetage. Eine überaus geachtete Gruppe von Einbuchlesern waren vor Zeiten die, welche sich ausschließlich auf das Buch der Bücher, die Bibel beschränkten, ein weitaus reicheres Werk als The Baronetage of England, wie auch Sir Elliot nicht bestritten hätte, allerdings weniger aus Überzeugung – ist doch The Baronetage die Bibel der guten Gesellschaft und ein noch Höheres Wesen in Wahrheit nicht denkbar -, denn aus Gründen der Schicklichkeit und Convenance. Während wir also Sir Elliot immerhin mit einem aufgeschlagenen Buch sehen, kann dergleichen von seiner Tochter Anne, der die Autorin spiegelnden Heldin des Romans, nicht berichtet werden. Niemand auch scheint zum Lesen die Zeit zu haben. Obwohl es ganz offenbar nicht das geringste zu tun gibt, sind alle rastlos mit dem aufreibenden Nichtstun beschäftigt. Bestraft werden die Nichtleser in Austens Romanen mit ihrer völligen Lesbarkeit, der höllischen Transparenz ihres buchverlassenen Daseins.
Dann wird Captain Benwick als Leser entlarvt, und bei der Gelegenheit zeigt sich, kaum eine Überraschung, daß auch Anne Elliot im Verborgenen gelesen hat und über breite literarische Kenntnisse verfügt. Benwick liest bevorzugt Lyrik, sie, die Prosaleserin, führt ihn auf ihr Gebiet ein. Benwick wird als der Reading Captain durch den weiteren Verlauf des Buches geführt: The high spirited, joyous-talking Louisa, and the dejected, thinking, feeling, reading Captain Benwick, their minds most dissimilar! - He is a clever man, a reading man &c. Lesen macht die Welt, die in einem beklagenswert lesbaren Zustand ist, nicht etwa noch lesbarer, sondern läßt das Unlesbare erscheinen, das Geheimnis, das was das Lesen überhaupt erst lohnt. I will not allow books to prove anything. Das Unerklärlichste aber, das vom Lesen erst geweckte, ist die in der Ehe - als slow burning amour fou gleichsam - verstetigte Liebe, das in Jane Austens Romanen weit über allen anderen stehende Motiv. Keine Rede davon, daß allem, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen würde: die Welt außerhalb der guten Gesellschaft hat keinerlei Daseinsberechtigung, es sei denn in der verborgenen Lektüre der Leser.

In dem Buch, das voll ist von der Wichtigkeit des Lesens, ist der pervertierte Leser Sir Walter Elliot der einzige, den wir mit einem immerhin aufgeschlagenen Buch sehen. Generell ist die Darstellung Lesender in der Literatur eher selten. In einer Erzählung Cortázars wird erzählt von einem Mann, der am Abend in seinem sillón favorito sitzt und liest, offenbar einen Roman mit kriminalistischen Einschlag, ein Mensch mit einem puñal, einem Dolch, tritt auf, und irgendwann sieht es so aus, als habe der Meuchler den vorgesehenen Rahmen der Geschichte verlassen und nähere sich in gefährlicher Weise dem Lesenden an, schon sieht der Unhold durch eine Tür la cabeza del hombre en el sillón leyendo su novela. Aber was kann dem Lesenden geschehen, im Nu kann er das Buch schließen, und der Messerheld ist hilflos und bewegungsunfähig eingeklemmt zwischen den Buchdeckeln.

Cortázars Erzählung ist knapp zwei Seiten lang, die Lektüre also kürzer als üblich für eine ungestörte Lesesitzung, es läßt sich nicht sagen, das Lesen sei in umfänglicher Weise dichterisch erfaßt. Anders als die Dichter haben die Maler keine Schwierigkeit, die Zeit des Lesens einzubinden, Lesende sind ein häufiges Motiv der bildenden Kunst. Nicht wenige unter uns haben sich schon als Kind von dem in seine Bücher versunkenen Hieronymus im Gehäuse betören lassen und sind vielleicht auf diesem Weg zu Lesern geworden. Den Major Wyndham Le Strange, als englischer Landedelmann in einem scharfen Kontrast zu Sir Walter Elliot, sehen wir nur im Garten seines Anwesens, ständig umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer hatte Le Strange im Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen war gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. Wir stellen uns vor, auch im Gehäuse habe er sich weitgehend so verhalten wie der Heilige und sich über die Bücher gebeugt, wir wissen mit Sicherheit aber so gut wie nichts von seinem Leben hinter den Mauern.
Ein Leser reinsten Geblüts ist Salvatore Altamura. Er sitzt vor der Bar mit einer grünen Markise vor der Arena in Verona und liest, die Brille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwas zu entziffern vermochte. Seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rette sich in die Prosa wie auf eine Insel. Wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, so sei es, als rudere er weit auf das Wasser hinaus.

Weniger intensive, dafür aber anmutigere Leserinnen, anmutig wie Jane Austens Heroinen, trifft Selysses im Zug nach Mailand. Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln.

Eine der rätselhaftesten Leserinnen der Weltliteratur begegnet ihm auf der Fahrt zur ehemaligen Bundeshauptstadt, jetzt Bundesstadt Bonn. Die letzte der neuzugestiegenen Fahr­gäste war eine junge Frau mit einem braunen Samtbarett und lockigem Haar, in der ich auf den ersten Blick und, wie ich mir sagte, ohne den allergeringsten Zweifel, Elizabeth, die Tochter James I, erkannte, die als die Winterkönigin bekannt geworden ist. Diese junge Frau aus dem englischen siebzehnten Jahrhundert war, kaum hatte sie Platz genom­men und in ihrer Ecke sich eingerichtet, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer mir unbekannten Autorin namens Mila Stern. Der Zug rollte hinein nach Bonn, wo die Winter­königin, ohne daß ich noch etwas zu ihr hätte sagen können, ausgestiegen ist. Seither habe ich immer wieder und bislang vergebens versucht, wenigstens das Buch Das böhmische Meer ausfin­dig zu machen; es ist aber, obschon zweifellos für mich von der größten Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, es ist nirgends verzeichnet.
Jane Austens Enjoyment reicht von Spaß über Vergnügen bis zu Freude. Bei dem jungen Mädchen mit der bunten Jacke wird man Spaß annehmen, bei der Franziskanerin vielleicht Vergnügen, für Selysses sind die beiden Leserinnen ganz offenbar eine Freude. Salvatore steht außerhalb der von Enjoyment erfaßten Bedeutungsskala, und bei der Winterkönigin weiß man gar nicht, was man denken soll.

Thomas Bernhard hat nach eigenem Bekunden in seinen Schreibphasen andere Autoren nicht gelesen. Der Grund ist ohne weiteres einsehbar, die Stimmen der anderen könnten die Entfaltung der eigenen stören, Dichten ist kein Chorgesang. Sebalds Bücher mögen zum Widerspruch reizen. Alle möglichen anderen melden sich zu Worte, Stendhal, Kafka, Conrad, Chateaubriand, auch Bernhard, alle aber müssen sich der Stimme Sebalds anpassen, ein vielstimmiger Sologesang. Selysses erleben wir typisch in der Phase nach dem Abschluß eines Werkes und der beginnenden Vorbereitung eines neuen, das dasjenige sein wird, das wir gerade lesen. Oft sehen wir ihn über seine Aufzeichnungen gebeugt, eine Zeitung lesen und in eher belanglosen Büchern blättern. Alles in allem scheint er aber dem Beispiel Bernhards zu folgen. Als Literaturwissenschaftler und Essayist hat Sebald das Enjoyment in der frühen Entwicklung bewußt vermieden und das Embitterment gesucht. Von der Freude und Begeisterung des Lesens erfahren wir erst, wenn wir Logis in einem Landhaus nehmen.

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