Samstag, 15. Juni 2013

Urbanes Leben

Sicherheitsfragen


Die Stadtmauern haben ihre Bedeutung verloren, auch die aufwendigsten Befestigungsanlagen können schon seit langem die Sicherheit nicht mehr gewährleisten. Die rapide industrielle und kommerzielle Entwicklung und das dadurch bedinget Wachstum der Städte trieb die Forts so weit hinaus, daß bald schon die gesamte Armee des Landes für die ordnungsgemäße Besatzung der Anlage einer einzigen Stadt nicht mehr ausreichte. Der Luftkrieg besiegelte dann endgültig das Schicksal des Festungsbaus, riesige Formationen von Lancaster- und Halifaxbombern flogen nachts über die graue Nordsee hinweg, um im Morgengrauen, ihrer Bombenlast über den Städten entledigt, weit auseinandergezogen wieder heimzukehren. Ohnehin konnten die Mauern und Festungen immer nur vor äußeren Feinden schützen und nicht die Menschen in der Stadt voreinander.

Eingeschlossen in Metallgehäuse reist Selysses in die verschiedensten Städte, meist ist es die Eisenbahn, in selteneren Fällen auch das Flugzeug. Die Mitreisenden sind von unterschiedlicher Qualität, auf bezaubernde Weise verstörend wie die Winterkönigin im Zug rheinabwärts, von Grund auf abstoßend wie der Brotzeiter im Zug nach Kissingen, in keinem Fall erweisen sie sich aber als gefährlich. Oft nimmt Selysses kaum Notiz von ihnen oder sie von ihm, nicht im Flugzeug: Es befanden sich nur wenige Passagiere an Bord, die, in ihre Mäntel gehüllt, weit voneinander entfernt in dem halbdunklen und ziemlich kalten Gehäuse saßen; und nicht in der Bahn: Meine wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten lilafarbenen Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. An Bord, so könnte man schließen, fühlt Selysses sich sicher. Den etwa zweistündigen Flug von Kloten nach Manchester übersteht er nach eigenen Angaben ohne größere Besorgnis.
Gleich nach der Ankunft in einer Stadt aber wächst die Gefahr oft spürbar. Selysses hat in der so angenehmen Gesellschaft der Franziskanerin und des jungen Mädchen Mailand erreicht, als, noch in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs, zwei junge Männer auf ihn zukommen. Schon spürt er ihre Hände unter seiner Jacke, und erst als er die Schultertasche mit einem Schwung in sie hineinfahren läßt, gelingt es ihm freizukommen. In Venedig unterzieht sich Selysses in einem Barbiergeschäft noch auf dem Bahnhofsgelände einer scharfen Rasur, eine Handlung sträflicher Todesverachtung, wie es ihm beim Gedanken an den Bader Köpf nachträglich vorkommt. Wer dann vom Bahnhof aus hineingeht in das Innere von Venedig, weiß nie, was er als nächstes sieht oder von wem er im nächsten Augenblick gesehen wird. Geht man in einer sonst leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringen Beschleunigung der Schritte, um demjenigen, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen und umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten. Verwirrung und Schrecken wechseln einander ab. Wen kann es wundern, wenn Selysses schon bald wieder den rettenden Zug aus Venedig heraus besteigt. In Desenzano wird er noch auf dem Bahnhofsvorplatz Zeuge eines kleinen Aufruhrs gegen die Staatsgewalt, kein Grund zur Panik aber auch nicht geeignet, die Stimmung zu heben. In Verona vermeidet Selysses die Gefahr zunächst, indem er sogleich, einer alten Gewohnheit gemäß, in den Giardino Giusti geht. Dort ist er, während der frühen Nachmittagsstunden, auf einer steinernen Bank unter einer Zeder gelegen. Lang war ihm nicht mehr so wohl gewesen. Umso mehr braut es sich zusammen, als er schließlich die Stadt betritt. Beim Verzehr einer Pizza schließlich überkommt ihn das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe und er muß sich mit den Händen an der Tischkante einhalten wie ein Seekranker an der Reling. Sein Herz setzt einen Schlag aus. Er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber, geht dort in eine hellerleuchtete Bar, läßt sich ein Taxi rufen, fährt ins Hotel zurück, packt in aller Eile seine Sachen und flüchtet sich in das Metallgehäuse des Nachtzugs nach Innsbruck. In Den Haag geht schon von den vor den Eingängen der diversen Unterhaltungs- und Eßlokale in kleinen Gruppen versammelten morgenländischer Männer, von denen die meisten stillschweigend rauchen, während der eine oder andere ein Geschäft abwickelt mit einem Klienten, ein zwiespältiger Eindruck aus, und als dann ein dunkelhäutiger Mensch auf Selysses zustürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand, das so knapp an ihm vorbeifuhr, daß er bereits zu spüren glaubte, wie es ihm zwischen die Rippen drang, bleibt ihm nichts als die Flucht.

Wenn Mauern schon lange nicht mehr helfen, so ist auch von den Ordnungskräften nicht viel zu erwarten. Dem auf dem Bahnhofsvorplatz in Desenzano in seiner Würde arg verkürzten Gesetzhüter blieb nichts, als sich in seinen Polizeiwagen hineinzusetzen und mit quietschenden Reifen die Via Cavour hinab davonzufahren, unter den Augen des ruchlosen Pöbels, der sich vor Lachen schier nicht zu fassen wußte, und die Stärke des Postenkommandanten Dalmazio Orgiu liegt unverkennbar mehr auf dem Gebiet nachträglich ausgestellter Zertifikate als auf dem erfolgreicher Gefahrenprävention. Der Dichter kann seine körperliche Unversehrtheit nur mit dichterischen Mitteln sicherstellen.
In Wien hat sich Selysses offenbar gegen von außen drohende Gefahren immunisiert, aber um einen hohen Preis. Die einzige Beschäftigung in Wien besteht für ihn aus ebenso endlosen wie leeren Gängen, die aber über ein eher enges Areal nicht hinausführen, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen Rand zugleich die Grenze seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft ist. Die reale Gefahr droht von Innen und besteht in der Überschreitung dieser Grenze. Der Ausflug mit Ernst Herbeck führt durch den Ort Kritzendorf. Von den Kritzendorfern war nichts zu sehen, sie saßen alle am Mittagstisch und klappern mit ihren Bestecken und Tellern. Ein Hund wirft sich an ein grüngestrichenes eisernes Gartentor, völlig außer sich, als sei er um den Verstand gekommen. Die Kritzendorfer haben sich eingeschlossen, der Hund ist eingeschlossen, Gefahr droht nicht, und doch ist die Situation nicht befriedigend. Erst in Prag ist der richtige magische Kniff gefunden. Selysses, in der Gestalt des Jacques Austerlitz, trifft an einem viel zu hellen, gewissermaßen überbelichteten Tag ein, an dem die Menschen so krank und grau aussehen, als wären sie sämtlich chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte, zu gefahrenträchtigen Handlungen nicht mehr fähige Raucher. Zu tun hat Austerlitz zunächst nur mit zwei Menschen, mit Tereza Ambrosová im Staatsarchiv in der Karmelitská und mit Vĕra Ryšanová ihrer Wohnung in der Šporkova. In den Gemäuern ist man ohnehin sicher, Gefahren lauern auf den Reisenden auf den offenen Plätzen der Stadt, und auf dem Weg von der Karmelitská in die Šporkova lassen sich die Lungenkranken schon nicht mehr blicken. In Theresienstadt fehlen die Menschen so gut wie vollständig. Eine vornübergebeugte Gestalt bewegt sich an einem Stock unendlich langsam voran und ist dann plötzlich verschwunden. Ein Geistesgestörter fuchtelt wild, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird, das ist es schon, beklemmend aber ohne Risiko. Auf dem Höhepunkt seiner magischen Kraft ist der Dichter in Manchester, über Jahrzehnte gelingt es ihm, die englische Großstadt menschenleer zu halten. Schon bei der Fahrt vom Flughafen aus im Taxi kann er erkennen, daß die Wunderstadt des letzten Jahrhunderts beinahe restlos ausgehöhlt. Im Inneren der Stadt ist, obschon bereits der Morgen graut, niemand zu sehen. Tatsächlich konnte man glauben, die Stadt sei längst von ihren Bewohnern verlassen und nun mehr ein einziges Totenhaus oder Mausoleum. Auf seinen ersten Ausflügen sieht Selysses so gut wie keine Menschen, nur verlorene Hinterlassenschaften der Vergangenheit, eine längst außer Betrieb gesetzte Gasanstalt, ein Kohlendepot, eine Knochenmühle. In der Nachmittagsdämmerung brachen die Stare in einer weit in einer weit in die Hunderttausende gehenden Zahl in dunklen Wolken über die Stadt herein. Und auch viele Jahre später führt in der Weg erneut durch menschenleere Wohnviertel, vorbei an Lagerhäusern über deren zerschlagenen Fensterlöchern sich die Ventilatoren noch drehten. Nichts allerdings wäre irriger als der Glaube, mit der Räumung der Städte und der damit verbundenen Beseitigung der Gefahrenherde wäre das Paradies auf Erden hergestellt. Für Selysses sind die Tage, Wochen und Monate bestimmt von einer bemerkenswerten Geräuschlosigkeit und Leere. Nur die teas-maid, dieses ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät, ließ ihn damals durch ihr nächtliches Leuchten, ihr leises Sprudeln am Morgen und durch ihr bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten.

Vermutlich im Widerspruch zu empirisch-statistischen Erkenntnissen vermögen die Reisebehälter aus Metall dem Dichter mehr Sicherheit zu bieten als das Leben auf den offenen Plätzen der Städte. Verkehrsmittel jeglicher Art muß man irgendwann wieder verlassen, sagt der gesunde Menschenverstand, schon deswegen können sie keinen dauerhaften Schutz gewähren, immerhin aber treffen wir bei Cortázar auf ein Volk, das, vielleicht aus ähnlichen Überlegungen und Ängsten, sein Leben ganz in das U-Bahnnetz der Stadt Buenos Aires verlegt hat. Um sich in der U-Bahn einzurichten, müßte Selysses aber zunächst eintreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. Vielleicht erübrigt sich die Feststellung, daß er in die Untergrundstation nicht hineingegangen ist. Zwar stand er eine beträchtliche Zeit sozusagen auf der Schwelle, wechselte auch einige Blicke mit der schwarzen Frau, den entscheidenden Schritte aber wagte er nicht zu tun. Zudem sind die günstigen Bedingungen in den Beförderungsmitteln keineswegs konstant. Heutzutage ist man in den Flugzeugen zumeist mit einer Vielzahl von Menschen auf das entsetzlichste zusammengezwängt und von der beständigen Betulichkeit des Personals aus der Fassung gebracht, und auch die zweite Bahnfahrt nach Venedig läßt jeden Komfort vermissen. Der Zug war dermaßen überfüllt, daß Selysses die ganze Fahrt über auf dem Gang stehen mußte oder in verschiedenen, äußerst unbequemen Stellungen zwischen den allseits sich türmenden Koffern und Rucksäcken kauern mußte. Bahn- und Luftverkehr haben längst die Merkmale überfüllter Städte angenommen. Ganz anders sind die Reiseverhältnisse in Amerika. Gleich außerhalb des Flughafengeländes wäre Selysses um ein Haar von der Straße abgekommen, als er über einem dort aufgeworfenen wahren Riesengebirge aus Müll einen Jumbo wie ein Untier aus ferner Zeit aufsteigen sah. Besser vertraut geworden mit den Landessitten, gleitet er aber wie von selber auf der breiten Fahrbahn dahin, fast schon wie auf Gleisen, die einzelnen Fahrzeuge wie Abteile in einem Zug, denn die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. In die Ewigkeit könnte man so weiterfahren, und es heißt, nicht wenige Bewohner des nordamerikanischen Kontinents hätten ihre Lebensweise diesem Ideal weitgehend angepaßt. Unvorstellbar allerdings, Selysses, dem nur wenig zuvor noch nichts absurder erschienen wäre als der Gedanke, er könne irgendwann einmal ungezwungenermaßen eine Reise nach Amerika zu unternehmen, sich nun kurzfristig für ein Leben auf den Highways entscheiden würde.

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