Donnerstag, 30. Mai 2013

Was wir wissen


A Kind of Wild Justice

Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Massenmedien: Falls das zutrifft, weiß Selysses herzlich wenig über Gesellschaft und Welt. Nur einmal sehen wir ihn in Berührung mit dem Leitmedium seiner Zeit, dem Fernsehen, und kaum daß er in dem Samtfauteuil des Hotels in Southwold Platz vor dem Empfangsgerät Platz genommen hat, ist er auch schon eingeschlafen. Er bedauert dann aber, die Sendung über Roger Casement verpaßt zu haben und macht sich daran, seine Geschichte aus Büchern, einem rapide veraltendenden Medium, zu rekonstruieren. Eine Einzelheit muß er weiter nicht nachschlagen, da sie ihm aus einer länger schon zurückliegenden Lektüre des Congo Diary Joseph Conrads wortwörtlich gegenwärtig geblieben ist. Er, Conrad, so sei dort zu lesen, habe Casement einmal nur mit einem Stecken bewaffnet in die gewaltige Wildnis aufbrechen sehen, und einige Monate darauf sei er dann aus der Wildnis wieder hervorgekommen, etwas magerer vielleicht, aber sonst so unbeschadet, als kehrte er gerade von einem Nachmittagsspaziergang im Hyde Park zurück. Was gesichertes Welt- und Gesellschaftswissen anbelangt, ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, daß Conrads Kongotagebuch einen derartigen Eintrag nicht aufweist. Selysses mag einem irritierenden Déjà-vu aufgesessen sein, nicht aber Sebald, sein Bruder im wahren Leben. Der zeigt auf diesem Wege an, daß es, der dokumentarischen Fassade zum Trotz, um fiktionalisierte Wirklichkeit geht. Die Erzählung verliert Casement dann zunächst völlig aus den Augen und wendet sich Conrad zu. Wir begleiten Conrad zurück in seine Kindheit in Polen und folgen ihm an der Seite des Vaters in die sibirische Verbannung. Im Schlitten durchqueren wir mit ihm die ukrainischen Schneeweiten und treffen ihn schließlich im kongolesischen Herz der Finsternis. Das wahre Herz der Finsternis aber ist Brüssel, von wo aus König Leopold die unvorstellbaren Verbrechen im Kongo durchführen ließ, jetzt unserer aller europäische Hauptstadt. Tatsächlich gibt es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Bei seinem ersten Besuch in Brüssel sind Selysses mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen als sonst in einem ganzen Jahr.

In einem von Sebalds Aufsätzen ist die Rede vom zweifelhaften Recht, mit dem die Gesellschaft, nach allem, was sie anrichtet, immer wieder überlebt. Es war aber wohl nicht Sebalds Einschätzung, daß die Gesellschaft insgesamt eine Veranstaltung von Recht und Gerechtigkeit wäre oder sein könnte. Für die nicht wenigen Anhänger dieser Glaubensrichtung ist die Einzigkeit des deutschen Verbrechens ein unverzichtbares Dogma, versichert es uns doch, daß, was immer noch geschehen mag auf dem leuchtenden Pfad, den wir gehen, das Schlimmste in jedem Fall schon hinter uns liegt. Sebald, für einige der Prime Speaker of Holocaust, vertritt das Dogma nicht mit Leidenschaft. Mit dem Luftkrieg, dem Kolonialismus, dem Wüten der Ustascha, dem kaum je unterbrochenen Blutbad der Geschichte beharrt er darauf, das Unvergleichbarkeitsdogma könne jedenfalls nicht alles andere hinter seinem großen schwarzen Mantel verbergen und auf das Ausmaß hinnehmbarer Belanglosigkeiten schrumpfen lassen. Die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten können nicht vor Gericht zufriedengestellt werden, am allerwenigsten im Brüsseler Justizpalast, dessen siebenhunderttausend Kubikmeter umfassende, eingemauerte Leere nur das innerste Geheimnis aller sanktionierten Macht verbirgt und zur Schau stellt. Die Dürstenden werden im Angesicht des Entsetzens immer wieder Verlangen verspüren nach einer wilden Justiz, die die Vulkane ausbrechen läßt und alles ringsum überzieht mit schwarzem Staub oder uns doch sichtbar zeichnet für unsere Verbrechen und die unserer Väter. Den verwachsenen, von spastischen Zuckungen geschüttelten Billardspieler in einer Bar in Rhode-Saint-Genèse sieht Selysses, selbst Liebhaber schwierigster Karambolagen, im Spiegel.

Auf den abschließenden wenigen Seiten des Fünften Teils der Ringe des Saturn wird Casements Lebensgeschichte in einer der verpaßten Fernsehsendung womöglich kongenialen Weise geschildert. Drei Episoden werden behandelt, die auch Vargas Llosas ungleich umfänglicherem Casementbuch die Kapitelüberschriften liefern: El Congo, La Amazonía, Irlanda. Aus dem Kongo berichtet Casement Dinge, die Conrad verzweifelt zu vergessen sucht, das Geschehen am Amazonas wertet er als Völkermord, in den Iren, sieht er, nun Ruairí Dáithí Mac Easmainn, die Indianer der Britischen Inseln.
Als Peruaner ist Vargas Llosa mit dem fortlebenden prähistorischen Opferkannibalismus ebenso vertraut wie mit dem geradewegs in eine lichte Zukunft führenden Sendero Luminoso. In Lituma en los Andes hat er beides in beklemmender Weise zusammengeführt, justicia salvaje, muy real y en masa, von Unrecht in keiner Weise zu unterscheiden. In seinem Casementbuch ist das Amazonaskapitel naturgemäß das umfänglichste. En Inquitos, uno termina por no creer en nada, nicht so Casement. Fortwährend in Todesgefahr habe Casement am Kongo und am Amazonas nie Angst gehabt, jetzt, in der Gefängniszelle, in Erwartung der Hinrichtung, hat er Angst. Seine größte Enttäuschung ist, daß Conrad die Gnadenpetition nicht unterschrieben hat, sein größter Kummer, daß er werde sterben müssen, ohne die irische Sprache ordentlich erlernt zu haben. Ná beidh a leithéid arís ann.

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