Montag, 27. Mai 2013

Tirant lo Blanch

La marquesa salió a las cinco

Auf dem Einbandbild einer deutschen Ausgabe des Romans von Joanot Martorell wird der weiße Ritter von Pisanellos heiligem Georg mit dem Strohhut dargestellt, der Sebaldleser hat das Gefühl eines Sakrilegs. Sebalds Georg verläßt in Lindenhardt den mittelalterlichen Rahmen, verabschiedet sich in Verona von der Prinzessin, um gegen das Übel der Zeit in Gestalt des Drachen zu kämpfen und tauscht in London, nach getaner blutiger Arbeit, den Helm gegen Strohhut aus, bereit für das Leben in der neuzeitlichen, aufgeklärten, friedlichen und demokratischen Gesellschaft, Schwerter zu Pflugscharen. Tirant dagegen gewinnt keinen Abstand zu den mittelalterlichen Umständen und denkt nicht daran, den Helm abzunehmen.
Vielleicht nicht Tirant aber doch Joanot Martorell, wendet Vargas Llosa ein, der in dem Werk des Katalanen den ersten modernen europäischen Roman sieht. Vargas Llosa hat verteilt über die Jahre verschiedene Aufsätze verfaßt, die dann in dem Band Carta de batalla por Tirant lo Blanc veröffentlicht wurden. Er sieht ein vielschichtiges Werk, das sich auf die unterschiedlichste Weise lesen läßt, als Ritterroman, als Geschichtsroman, als Kriegsroman, als Sittengemälde, als erotischer Roman, als psychologischer Roman, als totaler, selbständiger, vom Autor befreiter Roman und damit als Vorläufer der Werke Flauberts oder Faulkners. Martorells Buch teilt damit aber auch ein Charakteristikum der Romangattung schlechthin, das Vargas Llosa mittels einer Vulkantheorie verdeutlicht: A diferencia con lo que ocurre en un poema plenamente logrado, que su contenido emocional y sus tensiones internas se hallan por lo general parejamente distibuidas desde su iniación hasta su fin, las corrientes anímicas de una novela siguen una línea fluctuante, desigual, debido a los irremediables tiempos muertos, aquellos episodios indispensables, pero que tienen un valor puramente relacional, porque carecen de vida propia y sólo sirven para esclarecer o emparentar a los episodios esenciales, que sí la tienen. Die episodios esenciales vergleicht er mit aktiven Vulkanen.

Wenn das eine allgemeine Struktureigenschaft des Romans ist, so haben sich nicht alle damit abfinden wollen. Valérys bekannte Konfession, er könne keinen Roman lesen oder schreiben, der beginnt mit den Worten La marquise sortit à cinq heures, zeugt von der fehlenden Bereitschaft, sich auf ein von wenigen Vulkanen nur durchsetztes Prosaödland einzulassen. Valéry bleibt seinerseits nicht ohne Widerspruch. La marquesa salió a las cinco, dònde diablos he léido eso? – mit diesem Satz leitet Cortázar in offenkundiger Widerspenstigkeit Los premios ein. Zeigt er sich herausfordernd unbeeindruckt von Valérys Statement, oder sieht er sich aufgerufen, einen Roman zu schreiben, der mit dem inkriminierten Satz beginnt und für Valéry gleichwohl lesbar wäre? Ein weiterer Literat streitet mit Valéry, Joseph Grand in Camus’ La peste. Er hat eine Art Prachtausgabe der das Haus verlassenden Marquise geschaffen: Par une belle matinée du mois de mai, une élégante amazone parcourait, sur une superbe jument alezane, les allées fleuries du Bois de Boulogne. Grands komplette literarische Hinterlassenschaft besteht in einem Konvolut von ungefähr fünfzig Seiten gefüllt mit Varianten dieses Satzes, von denen wohl keine den strengen Valéry hätte besänftigen können. Als Ausgleich könnte man aber geneigt sein, im Bild der eleganten Amazone Anklänge an Martorell zu vernehmen, bei dem die Donzellen so fein und so hell- und dünnhäutig sein können, daß man den weißen Wein durch ihre Kehle rinnen sieht.

Wenn Sebald beim Studium eines zeitgenössischen Romans traditioneller Machart schon nach wenigen Absätzen das Verlangen nach einem Magenbitter ankam und wenn er seine eigene Berufung nicht im Roman, sondern in der Prosa sah, könnte man in ihm einen Jünger Valérys vermuten. Wiederholt hat er betont, das einzelne Wort und die Kadenz des Sätze bedürften in der Prosa nicht weniger Sorgfalt als in der Lyrik. Zugleich aber war ihm wohl Gombrowicz’ Warnung bekannt, einen Lyrikband von vorn bis hinten durchzulesen sei so, als würde man sich eine Woche lang nur von Desserts ernähren. Nicht nur, daß man ohne Anzeichen von Fehlernährung am Ende der Prosabände Sebalds anlangt, man fühlt sich so leicht und gut, daß man, unter Abweisung anderer Kost, gleich wieder vorn anfangen möchte. Sebalds Besonderheit besteht offenbar darin, einen bislang ungeahnten Pfad zwischen Roman und Lyrik gegangen zu sein.

Keine Kommentare: