Montag, 10. September 2012

Bunte Röcke

Farben der Zeit

Mit offenkundigem Beifall berichtet Sebald von Michael Parkinsons Anspruchslosigkeit in Kleiderfragen. Jahraus, jahrein trug er abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchwetzt waren, hat er selbst zu Nadel und Faden gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Austerlitz hält es ähnlich, er trägt schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauen Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett. Im Hintergrund steht, so kann man mutmaßen, der Lebensstil Wittgensteins, den Sebald, wie er sagt, zu seinen ständigen Begleitern zählt. Auch Sebald selbst neigte, soweit wir das den Photographien ablesen können, nicht zu Extravaganz in der Bekleidung, wenn auch ein höherer Grad von Gediegenheit als bei Michael Parkinson erkennbar scheint. Selysses wiederum, so wie er etwa an die libanesischen Zeder im Park von Ditchingham gelehnt ist, scheint es noch etwas legerer zu lieben als sein Doppelgänger im realen Leben, aber das mag auch daran liegen, daß die meisten Photos, die wir kennen, Sebald bereits in einem reiferen Alter zeigen.

Aber längst nicht alle Figuren im Werk sind zur Wittgensteinfraktion zu rechnen. Stendhal kauft sich, als er nach Volterra fährt, einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen. Daß ihm diese mutige Ausstattung nicht zum Heil gereicht, ist eine andere Frage. Von der verschreckten Geliebten bleibt ihm fortan nur der farblose Gipsabdruck der linken Hand, der allerdings, und insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers, bei ihm Emotionen von einer Heftigkeit hervorrufen, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte. Goethe schreitet gedankenversunken in einem zimtbraunen Rock durch die Flucht der drei nach Südwesten hinausgehenden Zimmer. Zimtbraun ist wenn schon nicht gerade gelb, so doch modisch anspruchsvoll, und auch die Marienbader Affäre endet bekanntlich elegisch.
Man mag annehmen, daß der Wittgensteinstil des unauffälligen Sakkos - die Farben werden im Fall Michael Parkinsons nur zum Zweck der Unterscheidbarkeit genannt - und des offenen Hemdkragens Kennzeichen einer sich rationalisierenden Welt ist, dies unter Leitung der Wissenschaft, deren Vertreter Parkinson, Austerlitz und auch Sebald sind. Im neunzehnten Jahrhundert hatte sich der Wissenschaftler im Auftreten stilistisch von der Gesellschaft noch nicht abgesetzt, während in der Kunst, wie bei Stendhal zu beobachten, dandy- und pfauenhafte Absetzbewegungen feststellbar waren.

Le Strange ist weder Künstler noch Wissenschaftler, sondern Soldat in einer Zeit, als der Waffenrock längst nicht mehr bunt ist. Welche Ausbildung er hat und ob er zunächst einen zivilen Beruf ausgeübt hatte, erfahren wir nicht. Nach der Quittierung des Dienstes bringt er auf seinen Gütern nahezu jede Berufsausübung zum Erliegen. Die einzige Berufsgruppe, an der er sich in gewisser Weise noch orientiert, ist die der Heiligen. Ohne genaueres zu wissen, kann man annehmen, daß er bekleidungsmäßig der Wittgensteingruppe zuzurechnen ist. Seine diesbezügliche Konsumunlust ähnelt der des Michael Parkinson, eben das aber bringt ihn in einer überraschenden Volte auf die Seite Stendhals. Weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, holte es sich das Notwendige aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervor, und so konnte man ihn gelegentlich sehen in einem kanarienfarbenen Gehrock oder in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen: Ein Dandy der Askese halber.

Daß Le Strange mit dieser Prachtausstattung Florence Barnes betreffend ähnliches im Sinn gehabt hätte wie Stendhal bei Métilde Dembowska, kann guten Gewissens ausgeschlossen werden, ebenso aber auch, daß es sich bei den bunten Röcken um eine vom Autor sinnfrei eingeflochtene Arabeske handeln sollte. Über die Kleidung des anderen reichen Exzentrikers im Werk, Cosmo Solomon, erfahren wir wenig. Vom Klang des ganz dem Vokal O vorbehaltenen Namens her vermutet man schwarze Kleidung. Zum Sanctum der Spieler in der Salle de la Cuvette hatten ohnehin nur Herren im Smoking Zutritt. Auf dem Polofeld wird er das vorgesehene Dreß getragen haben. Wir wissen nicht, was er trug, als er nach Tagen im obersten Stock des Hauses in seinem alten Kinderzimmer gefunden wird, von wo er, mit bewegungslos herabhängenden Armen auf einem Schemelchen stehend, hinausschaute auf das Meer und die langsam vorbeiziehenden Dampfschiffe nach Boston und Halifax.
Mit dem Rückgriff auf die bunten Röcke vom Dachboden geht Le Strange in der Zeit zurück zu einem Punkt, als Röcke dieser Art weder auffällig noch unüblich waren, auch wenn selbst nach diesen Maßstäben der liebestolle Stendhal über das Ziel hinausschossen war. Bevor Stendhal zum papageienhaften Zivilisten wurde, hatte er die Pflichten und Freuden des bunten Waffenrocks erfahren, komplettiert durch hirschlederne Hosen, einen vom Nacken bis zum Scheitel mit gestutzten Roßhaar besetzten Helm, Stiefel, Sporen, Gürtelschnallen, Brustriemen, Epauletten, Knöpfe und Rangabzeichen. George Le Strange aber, der in den Wald bei Bergen Belsen eingedrungen war, um den bösen Drachen zu besiegen, hatte das Werk eines anderen Soldaten fortgeführt, das des Georgius Miles, dessen aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung allen Abendschein auf sich versammelt hatte.

Als zweifelsfreie Reinkarnation des San Giorgio ist Giorgio Santini zu erkennen, der nicht nur den Namen des Heiligen weiter trägt, sondern auch dessen formvollendeten weitkrempigen Strohhut, von dem Pisanello uns berichtet hat, in der Hand hält und der die weiße Rüstung des Ritters, den Anforderungen der Zeit nachkommend, in einen weißen Sommeranzug verwandelt hat mit ihn ergänzenden überaus eleganten steifleinenen Schuhen mit Lederbesatz. Santinis Anzug leuchtet für einen Augenblick nur auf in Le Stranges kanarienfarbenem Gehrock, bevor er sich in den Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft verwandelt. Schließlich bleiben von der schimmernden Wehr an einer auf dem Dachboden vergessenen alten Schneiderpuppe zwei hechtgraue Beinkleider und ein hechtgrauer Rock, dessen Kragen, Aufschläge und Vorstöße einmal von grasgrüner, die Knöpfe aber von goldgelber Farbe gewesen sein mochten, und auf dem Kopfholz der Puppe ein gleichfalls hechtgrauen Hut mit einem grünen Hahnenfederbusch. Als ich näher herantrat und an einen der leer herunterhängenden Uniformärmel rührte, ist dieser in Staub zerfallen.

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