Donnerstag, 23. August 2012

Marienbad

Winterkönigin

Die böhmischen Städte Prag und Theresienstadt sucht Austerlitz in den frühen neunziger Jahren auf, Marienbad im Jahre 1972. Es ist Sebalds einziger erzählerischer Aufenthalt im sozialistischen Reich. Dessen Wesen ist, ohne daß es thematisiert würde, an einigen atmosphärischen Chiffren greifbar, an den beiden uniformierten Motorradfahrern, die der Tatra-Limousine vom Prager Flughafen bis zum Hotel in Marienbad folgen, den die langen Steigungen hinaufkriechenden, dichte Qualmwolken hinter sich herziehenden Lastern, an der gleichen Ausstaffierung aller Angestellten der unter staatlicher Führung stehenden Badehotels, am ausnahmslos in Regenhüllen aus dünnem, blaugrauen Perlon gekleideten, zur Erholung entsandten Gästetrupp aus irgendeinem böhmischen Kombinat oder einem sozialistischen Bruderland.
Marie de Verneuils Besuch in Marienbad dient nach eigenem Bekunden baugeschichtlichen Studien zur Entwicklung der europäischen Kurbäder. Nach ersten Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe Marienbad schon bald einen rasanten Aufschwung genommen. Bauhandwerker aller Art kamen aus Prag, Wien und von überall her. Der Waldgrund wurde in einen englischen Landschaftspark verwandelt, immer mehr und immer stolzere Hotels wuchsen aus dem Boden, 1873 wurde die große gußeiserne Kolonnade errichtet. Wenn Marie dann in einer regelrechten medizinisch-diagnostischen Wortkoloratur die Heilkraft der Quellen schildert, dient das dem zweiten und eigentlichen Zweck der Reise, der darin besteht, Austerlitz aufzuheitern und aus seiner Vereinzelung zu befreien.

Goethes elegisches Erleben in Marienbad hat Sebald an anderer Stelle verarbeitet. Das herrliche Geflecht verschlungener Minnen will ihm nicht gefallen – schon die Thematik hat ihm sicher weitaus weniger bedeutet als Martin Walser -, und mehr als das Faksimile der Niederschrift im Marienbader Museum spricht ihn das dort ebenfalls verwahrte gelbe Tulpenbaumblatt aus Ulrikes Herbarium an. Dennoch bleibt Goethes Marienbad als verblichene und zerknitterte Folie erkennbar, insofern als auch Sebalds Marienbad eine mißlingende Liebesgeschichte erzählt. Das würde angesichts der Allgegenwart gelingender und mißlingender Amouren in der Literatur naturgemäß für eine Verbindung nicht hinreichen, wenn nicht das eigens nach Marienbad verlagerte Geschehen eine rare Ausnahme darstellen würde in einem Werk, das Liebesgeschichten programmatisch so gut wie ausschließt.

Für einen Augenblick sieht es nach Gelingen aus. Tatsächlich sei er, so Austerlitz, nie zuvor in seinem Leben besser einschlafen als in dieser ersten mit Marie gemeinsam verbrachten Nacht. Aber vor dem Morgengrauen noch erwacht er mit einem abgründigen Gefühl der Verstörung und muß sich wie ein Seekranker aufrichten und an den Bettrand setzen. Schon bei der Anreise war es ihm geschienen, als führe die schnurgerade Chaussee einmal in Wellentäler hinunter und dann wieder hinauf bis dorthin, wo Böhmen, wie Shakespeare schon ausgeführt hatte und viele nach ihm bestätigt haben, angrenzt an das Baltische Meer. An diesem Morgen tauchen die großen Hotelpaläste aus dem Frühnebel auf wie Ozeandampfer auf einem dunklen Meer. Er ist seekrank und in einem falschen Leben. Eine Zeitung, von der er in der Nacht geträumt hatte, besteht fast ausschließlich aus Todesanzeigen. In der Stadt dann empfindet er den schlechten Zustand der einst herrschaftlichen Gebäude, den aufgebrochenen Verputz, die teilweise mit Brettern und Wellblech vernagelten Fenster als einen genauen Ausdruck seiner seelischen Verfassung. Im Taubenhaus bei Königswart liegen die Kadaver der todkrank aus ihren Nischen gestürzten Vogeltiere am Boden, während ihre noch lebendigen Genossen in einer Art Alterdemenz unter dem Dach leise klagend durcheinander gurren. Der in Regenhüllen aus dünnem, blaugrauen Perlon gekleidete Trupp der zur Erholung Abkommandierten schließlich ist nicht nur ein Inbild der sozialistischen Ordnung, so wie die leicht vornübergebeugten, auffallend untersetzten Gestalten aus dem Nichts auftauchen und im Gänsemarsch den Weg kreuzen, sind sie den Schwadronen der Toten in Wales oder auch auf Korsika ähnlich. Tatsächlich ist Austerlitz in einem falschen Leben, was er 1972 in Marienbad erlebt, ist die Prophezeiung einer Erinnerung, die zwanzig Jahre später erst von Vera wachgerufen werden wird und die dann schon mehr als fünfzig Jahre zurückreicht, weiter wohl als Austerlitz’ eigene Erinnerung reichen kann. 1938 waren sie alle miteinander, Agáta, Vera, Maximilian und Jacquot, in Marienbad gewesen. Logis hatten sie im Osborne-Balmont gleich hinter dem Palace Hotel genommen. Es waren drei wunderbare, beinahe selige Wochen, und doch zogen schon die dunklen Wolken herauf und wenig später würde Agáta in der anderen böhmischen Stadt in den Tod gehen.

Die alles in allem nicht seligen Tage des Aufenthalts im Jahre 1972, in denen Glück und Todeszeichen weitaus enger zusammenrücken, sind auf das Verlangen nach Erinnerung einerseits und das Unvermögen zur und auch die Verweigerung der Erinnerung andererseits zurückzuführen. Als er sich seine frühe Kindheit in Prag so weit wie möglich zueigen gemacht hat, beschließt Austerlitz weiterzusuchen nach seinem Vater und auch nach Marie de Verneuil. Liest man das Buch für einen Augenblick als Tatsachenbericht, so will das Auffinden Maries als um einiges leichter und wahrscheinlicher erscheinen als das des Vaters, und am Horizont erscheint die Verheißung einer Spätsommergeschichte ähnlich der im Fall Paul Bereyters, die mit Goethes Spätherbst- wenn nicht gar Wintermärchen, das nicht jedem gefallen kann, keine nennenswerte Ähnlichkeit haben würde.

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