Sonntag, 29. Juli 2012

Räume der Kindheit

Puer ludit, puella cantat

In der Erzählgegenwart der Bücher Sebalds gibt es keine Kinder, allem Anschein nach werden in der Gegenwart keine mehr geboren, die Prokreation wurde eingestellt. Wir treffen nur die Kinder, als die die Erwachsenen sich erinnern. Das sind vor allem Selysses selbst, ferner Austerlitz, Aurach, Aurachs Mutter Luisa Lanzberg, Bereyter und Mme Landau, Hamburger und Conrad.

So wie sich für die meisten von uns die frühe Kindheit aus nur wenigen nicht erloschenen Bildern zusammensetzt, so ist auch Paul Bereyters Erinnerung von nur einem Bild geprägt, den Zimtläden in Drogobytsch nicht unähnlich. Er sieht sich auf seinem Dreirädchen durch das von seinem Vater erstandene wundervolle Emporium fortbewegen, meistens auf der untersten Ebene, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen die des Mottenkampfers sowie die der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen sind, während die Walkwolle und der Loden einem nur bei feuchtem, die Heringe und das Leinöl nur bei heißem Wetter in die Nase gestiegen sind.

Auch die Kindheit der Mme Landau ist geprägt von einem Raum, einem Haus, das sich aber erheblich unterscheidet von dem Emporium, das der kleine Bereyter durchradelt. Während das Entzücken des Emporiums in seiner Vollgeräumtheit besteht, liegt der Zauber der kleinen Villa am Ufer des Sees in seiner Leere. Der Vater hatte mit dem Kauf fast sein gesamtes Vermögen aufgezehrt und sie hätten, infolgedessen, ihre ganze Kindheit hindurch in dem so gut wie unmöblierten Haus wohnen müssen. Das Wohnen in den leeren Zimmern sei ihr allerdings nie als ein Mangel, sondern vielmehr, auf eine nicht leicht beschreibbare Weise, wie eine besondere, durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung oder Vergünstigung erschienen. Fast könnte einem die Villa am Seeufer als eine Art Nullstufe der sorgsamen und kostbaren Interieurs in Stifters Nachsommer erscheinen, die man sich ja auch als klar und so leer wie nur möglich vorstellt.

Selysses hat als Kind die Bekanntschaft weder eines Emporiums voller Geheimnisse noch der klaren Linien einer leeren Villa am Seeufer gemacht. Das Wohnzimmer im Elternhaus war versehen mit einer standesgemäßen Einrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach. Die später bezeugte Vorliebe für ungeputzte, verstaubte Ambiente dürfte in diesem, zweifellos immer im frischen Glanz gehaltenen Wohnzimmer ihren Ausgangspunkt haben. Überdies ging man in das Wohnzimmer werktags nicht hinein, so daß Selysses gleichsam exiliert und auf andere Räume angewiesen war. In der Abenddämmerung erfaßte ihn unfehlbar der Wunsch in die unter der elterlichen Wohnung gelegene Wirtschaft hinunterzugehen und dort der Romana, der Mutter aller Empfangsdamen, beim Abwischen der Tische und Bänke, beim Kehren des Bodens oder beim Trocknen der Gläser zu helfen. An der Seite des Großvaters besucht er die Kapellen, die es zahlreich um W. herum gab, und vieles von dem, was er damals von ihnen gesehen und gespürt hat, wird in ihm geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille. Ein weiterer prägender Ort der Kindheit ist das Haus der Mathild Seelos, das Selysses häufig in der Begleitung des Großvaters besucht. Sie saßen dann im Kaffeezimmer, weil die Mathild niemand, auch den Großvater nicht, zu sich hinaufließ. Insbesondere aber hatte sie dem Jungen verboten, in den Dachboden hinaufzusteigen, wo, so die Begründung, der graue Jäger logierte. Die Begehungsverbote im Haus der Mathild haben keine Ähnlichkeit mit der werktags verschlossenen Stube in der elterlichen Wohnung, enthalten sie doch ein Transzendenzversprechen, das viele Jahre später, als Selysses den Dachboden erkundet und Mathilds hinterlassene Bibliothek an sich nimmt, nicht einmal enttäuscht wird.
Die zurückblickenden Erwachsenen sehen sich als Kind ganz überwiegend allein oder aber im Verhältnis zu Erwachsenen und kaum jemals unter Gleichaltrigen. Selysses sieht sich immerhin als Schüler der dritten, von Paul Bereyter geführten Klasse und er sieht sich überdies in einer Art Huckleberry-Finn-Beziehung zu Fritz, der, wie er bald herausfand, die dritte Klasse zum zweiten Mal machte und dem die Schularbeit unendlich langsam vonstatten ging. Meistens aber sieht man Selysses das Kind allein unterwegs, am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, an deren Ende der heilige Georg ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen durchbohrt, und dann den Kirchberg hinunter und durch die obere Gasse, oder aber an der endlosen Mauer der Jägerkaserne entlang in die Ostrachstraße hinaus, hinter welcher, in einer Entfernung von kaum mehr als fünf, sechs Metern, ein reißender Sägemühlenkanal vorbeifloß, aus dem man des öfteren schon eine Wasserleiche herausgezogen hatte, zuletzt einen sechsjährigen Knaben, dessen Bruder auch Paul Bereyters Klasse besuchte. Es ist, als wolle das Kind sich bereits einüben auf die spätere Existenz des Dichters, den wir nie zuhaus erleben und bei dem nur unsichere Indizien den Schluß zulassen, daß er ein Zuhause überhaupt hat.

Wenn wir die Gestalt des Selysses auf die werktags verschlossene Zimmertür zurückführen, kann dem, was als die meßbare Größe eines Ereignisses erscheinen mag, keine Bedeutung zukommen, jedenfalls ist die Vorenthaltung eines Hauses der Kindheit im Fall von Joseph Conrad weitaus gründlicher und das Ergebnis, nämlich die Berufung zum Prosadichter, doch ähnlich. Am Ende des Sommers 1862 reiste Mme. Evelina Korzeniowska mit ihrem damals noch nicht ganz fünfjährigen Knaben Teodor Josef Konrad von der kleinen podolischen Stadt Schytomyr nach Warschau, um sich ihrem Gemahl Apollo Korzeniowski anzuschließen. Noch im Oktober wird der Vater festgenommen, zunächst in die Zitadelle eingesperrt und dann mit der Familie nach Wologda verbannt. Der an Tuberkulose erkrankten Evelina samt ihrem kleinen Sohn wird als Gnadenerweis der zaristischen Behörden die Erlaubnis eines längeren Genesungsurlaubs auf dem Gut ihres Bruders zuteil, muß dann aber, dem Tod schon näher als dem Leben, zurück ins Exil, wo sie anderthalb Jahre später stirbt. Wiederum zwei Jahre später werden der Vater, seinerseits schon todkrank, und mit ihm der Sohn aus dem Exil entlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Lemberg beziehen sie ein paar Zimmer in der ul. Poleska in Krakau. Während der Sterbewochen saß Konrad immer an einem von einer grünen Lampe beleuchteten Tischchen in einem fensterlosen Kabinett und machte seine Hausaufgaben. Die Tintenflecke im Heft und an den Händen kamen von der Angst in seinem Herzen. Schon bald faßte er den für den Sohn eines polnischen Landadligen ganz und gar abwegigen Gedanken, Kapitän werden zu wollen, abwegig und doch auch naheliegend, Wohnung zu nehmen in einem fahrenden Haus, um Jahre später dann zurückzukehren an eine von einer grünen Lampe beleuchtete Schreibplatte.
Die denkbar schärfste Grenze ist für Austerlitz zwischen der ersten Kindheit und der späteren gezogen. Das Predigerhaus in Bala kann er nicht als Haus der Kindheit akzeptieren. Schlimm war beim Erwachen am frühen Morgen das Jeden-Tag-von-neuem-Begreifenmüssen, daß er nicht mehr zu Hause war, sondern sehr weit auswärts, in einer Art von Gefangenschaft. Es hat ihn immer gefroren in dem Predigerhaus, nicht bloß im Winter, wenn oft nur der Herd in der Küche geschürt wurde und nicht selten der steinerne Boden des Eingangs von Reif überzogen war, sondern auch schon im Herbst und bis weit in das Frühjahr und die unfehlbar verregneten Sommer hinein. Die Annäherung an das Haus der ersten Kindheit vollzieht sich in einer Art Erinnerungssturm der ausgelöst wird durch das unebene Pflaster der Šporkova. Der gesprenkelte Kunststeinboden des Entrees im Haus Šporkova 12, der feuchte Kalkgeruch, die sanft ansteigende Stiege, die haselnußförmigen Eisenknöpfe auf dem Handlauf des Geländers, lauter Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge, die zu einer glückhaften und zugleich angstvollen Verwirrung der Gefühle führen. Die elterliche Wohnung verfehlt er knapp, die Tür öffnet ihm Vĕra Ryšanová, die die Nachbarin seiner Mutter sowohl als sein Kinderfräulein gewesen ist. Auch mit sich selbst als Kind kann er die Einheit nicht herstellen. Das Bild seiner selbst als Kinderkavalier bewegt und erschüttert ihn nicht etwa, sondern macht ihn nur sprach- und begriffslos und zu keiner Denkbewegung imstande.

Aurach findet nur vermittels eines illusionistischen Zugangs zurück in das Haus der Kindheit und auch das nur im Traum. Schließlich gelangten wir durch eine mit erstaunlicher Kunstfertigkeit gemalte trompe-l’œil-Türe in ein tief verstaubtes, seit Jahren offenbar nicht mehr betretenes, im größtmöglichen Gegensatz zu den gerade erst verlassenen glitzernden Glaspalast stehendes Kabinett, das ich nach einigem Zögern erkannte als das Wohnzimmer meiner Eltern. Auf dem Kanapee aber sitzt ein Fremder, Frohmann aus Drohobycz. Für Hamburger überblenden sich unentwirrbar Eindrücke seiner englischen Heimat in Middleton mit Erinnerungen an ein Haus der Kindheit in Berlin. Es braucht in der Traumzeit wohl eine Stunde und mehr, daß ich mich nicht in dem Haus in Middleton, sondern in der weitläufigen Wohnung der Eltern der Mutter in der Bleibtreustraße befinde, deren museale Räumlichkeiten mich bei meinen Kindheitsbesuchen kaum weniger beeindruckten als die Zimmerfluchten von Sanssouci. Und jetzt ist hier alles versammelt, die Berliner Verwandten, die deutschen und die englischen Freunde, meine Schwiegerleute, meine Kinder, die Lebendigen und die Toten. Unerkannt schreite ich durch sie hindurch, von einem Salon in den anderen. 

Die Erinnerung an die Kindheit führt bei allen zu einem Raum, einem Haus, einer Umgebung. Selysses nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er sich von dem mit einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung versehenen Haus seiner Kindheit lossagt. Auf der anderen Seite steht Mme. Landau die ihr nach allem was man vermuten kann glückliches Leben in einem ungebrochenen und ungetrübten Verhältnis zu der kleinen leeren Villa am Ufer des Sees verbringt. Sieht man Bereyter das Kind auf seinem Dreirädchen, Austerlitz bei der Beobachtung des Schneiders Moravec, Aurach unterwegs mit seinem Vater dem Kunsthändler, so schien ihnen ein ähnlich ungebrochener Lebensverlauf verheißen wie Marie Landau, aber sie alle wurden auf die ein oder andere Weise aus dem Haus der Kindheit vertrieben. Sie sind Exilierte ihrer Kindheit, und so kann es nicht verwundern, wenn Nabokow, traumatisiert von der Zerstörung einer als unwirkliches Glück erlebten Kindheit in einem ebenso liebevollen wie reichen Elternhaus des zaristischen Rußlands, herumirrt zwischen den Ausgewanderten.

Mit dem unebenen Pflaster der Šporkova ist unüberhörbar ein Proustsches Motiv angeschlagen, und wenn Agáta endlich zu ihm ins Zimmer trat und sich zu ihm niedersetzte, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehtem Parfüm und Staub gemischten Theatergeruch, dann scheint es für einen Augenblick, als seien wir wieder eingestiegen in den fünftausend Seiten langen Bericht von der Vertreibung aus dem Paradies der symbiotischen Existenz mit der Mutter. Selysses’ eigenes Erleben ist aber davon weit entfernt, und so überläßt er, dabei zurückgreifend auf einen sogenannten Prätext*, für den ausführlichsten Kindheitsbericht in seinem Werk das Wort der Luisa Lanzberg. Einmal beim Heimgehen am Sabbat ist der Leo untröstlich über seinen neuen, aus gesteiften hellblauweißen Baumwollstoff geschneiderten Matrosenanzug, hauptsächlich über den dicken Krawattenknopf und den über die Schultern hinabhängenden Latzkragen mit den gekreuzten Ankern, an denen die Mutter gestern bis tief in die Nacht hinein gestickt hat. Erst als wir, in der Dunkelheit schon, auf der vorderen Treppe hocken und zusehen, wie sich am Himmel die Gewitterwolken übereinanderschieben, vergißt er allmählich sein Unglück. Nachdem der Vater zurück ist, wird die aus vielen bunten Wachsträngen geflochtene Kerze zum Sabbatausgang angezündet. Wir riechen an dem Gewürzbüchschen und gehen hinauf ins Bett. Pausenlos fahren die grellweißen Blitze herunter, und es krachen die Donnerschläge, daß das Haus zittert. Wir stehen am Fenster. Heller als am Tag ist es manchmal draußen. Heubüschel treiben auf den Wasserstrudeln im Straßengraben. Dann zieht das Gewitter ab.

*Klaus Gasseleder, Erkundungen zum Prätext der Luisa-Lanzberg-Geschichte

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