Donnerstag, 14. Juni 2012

Holland

A la recherche des Néerlandais

In jedem Kapitel der Ringe des Saturn legt Selysses eine mehr oder weniger großzügig bemessene Wegstrecke auf seiner Wanderung durch Südostengland zurück, seine Gedanken tragen ihn währenddessen aber immer wieder bis an das Ende der Welt, nach China oder nach Afrika. Da ist es mehr als zurückhaltend, wenn er zu Beginn des Vierten Teils von Southwold aus zur gar nicht weit entfernten holländischen Küste hinüberschaut, nicht weit entfernt, aber doch nicht zu sehen, wohl zu sehen aber die holländische Flotte, die am 28. Mai 1672 auftaucht in der Bucht vor Southwold, um mit den Engländern den Battle of Sole Bay auszufechten. Die Holländer werden bei dieser historischen Gelegenheit allerdings ebensowenig sichtbar wie die Engländer, eingesperrt wie sie allesamt sind in die geteerten Schiffsleiber, von denen nicht wenige bis an die Wasserlinie herabbrannten.

Im Jahr zuvor aber war Selysses, wie er sich erinnert, nach einer bösen, in der Schweiz verbrachten Nacht, über Basel und Amsterdam nach Den Haag gefahren. Wir erinnern uns wie es in seinen Augen den Belgiern ergangen ist, bei denen ihm eine in einer verbreiteten Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit aufgefallen war, wie man sie anderwärts nur selten antrifft, und sind besorgt, welcher Fluch die Holländern treffen mag. Wenn sie besser abschneiden als die Belgier, so vor allem deswegen, weil mit Ausnahme von Rembrandt Harmenszoon van Rijn und Jacob Isaackszoon van Ruisdael, beide aller Kritik enthoben, kaum zweifelsfrei autochthone Holländer auftreten. Holländerinnen fehlen ganz, wie im übrigen Frauen jeglicher Art. Bei den beiden nicht mehr ganz jungen, offenbar seit langem vermählten Herren in der Rezeptionsnische des Hotels, mit ihrem an Kindesstatt angenommenen aprikosenfarbenen Pudel, wird der landsmannschaftlichte Hintergrund nicht offengelegt. Atmet schon die Homosexuellenszene nicht den Geist höchstmöglicher politischer Korrektheit, so wird es bei den Islamiten, unter denen Selysses sich in der Folge überwiegend bewegt, nicht besser. Wir alle wissen, daß es sich dabei nach offizieller Berechnung zu exakt neunundneunzig Prozent um friedliche und nette Menschen handelt, Selysses aber gerät offensichtlich in die Nähe des verbleibenden einen Prozent. Wahrscheinlich gehe er, so gibt er selbst zu bedenken, in fremden Städten oft auf den falschen Wegen, insgeheim denkt er aber wohl, daß die richtigen Wege immer seltener werden. Nichts ist einzuwenden, wenn vor den Eingängen der diversen Unterhaltungs- und Eßlokale sich kleine Gruppen morgenländischer Männer versammeln, von denen die meisten stillschweigend rauchen, während der eine oder andere ein Geschäft abwickelt mit einem Klienten, wenn auch aus der mitteleuropäischen Sicht Geschäftsabwicklungen außerhalb der dafür vorgesehenen Büroräume immer etwas Anrüchiges haben. Der in einem chromglänzenden amerikanischen Limousine mit offenem Verdeck vorbeigleitende Zuhälter, den ein lachhafter Tirolerhut nicht unbedingt als Österreicher aber ebensowenig zweifelsfrei als Holländer ausweist, kann die bürgerlichen Standards der Szenerie nicht anheben, und als dann ein dunkelhäutiger Mensch auf Selysses zustürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand, ist Selysses’ für das friedliche Zusammenleben der Völkerschaften erforderliche Kraft erschöpft, verstört von den Nachwirkungen des Erlebnisses liegt er lange schlaflos auf dem Bett in seinem Hotelzimmer.
Die Betrachtung des schon im Ersten Teil vorgestellten Rembrandtbildes der Anatomischen Vorlesung kann am nächsten Tag nicht beruhigen, und so flüchtet er sich zu Ruisdaels Haarlem mit Bleichfeldern. Er sieht das Bild, das ein in seiner Zeit zugleich reales und ideales Holland zeigt, vorwiegend unter dem technischen Gesichtspunkt der Perspektive und bricht ab, als eine sich hingebende Versenkung in das Bildwerk stattfinden könnte, wie wir das vor allem in den Schwindel.Gefühlen aber auch an anderen Stellen erleben. Diderot hatte wohl das reale Holland erlebt so als sei es von Ruisdael gemalt, als ein Ägypten Europas, wo man mit einem Boot über die Felder dahinfahren kann und wo, soweit das Auge reicht, kaum etwas über die überschwemmten Ebenen hinausreicht. Es sei nicht leicht, diese Ansichten nachzuvollziehen, notiert Selysses trocken, als wahrnehmbares Relikt der idealen Zeit bleibt ihm nur ein realer Reiher, den er, unbeirrt von dem dahinkriechenden Autoverkehr, mit gleichmäßigem Flügelschlag knapp über der blanken Fläche des Wasser fliegen sieht. Diderots Vergleich mit Ägypten aber gerät ihm offenbar in eine ganz andere Richtung. Nicht nur, daß er sich überwiegend unter morgenländischen Männern bewegt, gleich beim Eintritt in die Stadt hatte er eine islamitische Metzgerei bemerkt, das primitive vierteilige Fresko einer durch die Wüste ziehenden Karawane und schließlich auch ein Minarett. Als er am Strand von Scheveningen ausruht, ist ihm, als halte rings um ihn sein Volk (welches, wessen Volk?) Rast auf dem Weg durch die Wüste. Die Fassade des Kurhauses ragt vor ihm auf wie eine große Karawanserei. Im Massada-Grill trinkt er, sozusagen zur Abrundung der semitischen Verhältnisse, vor der Rückfahrt noch eine Tasse Tee.

Amsterdam, wo er die nächste Nacht verbringt, scheint völlig menschenleer zu sein. Nur ein Entenpaar in einem breiten Graben und im Schutze einer Trauerweide, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers, leistet ihm Gesellschaft. Schiphol dann, von wo aus er zurückfliegt nach England, ist naturgemäß kein holländischer, sondern ein exterritorialer und internationaler Ort. Die Frauen immerhin sind zurück, in Gestalt der offenbar körperlosen Ansagerinnen, die engelsgleich ihre Botschaften intonieren, Mr. Freeman to Lagos, La señora Rodrigo, por favor.

Dienstag, 12. Juni 2012

Kreaturen

Wasser, Luft, Erde

Besy, wysschedsi is tscheloweka, woschli w swinjej; i brosilos stado s krutisny w osero i potonulo.

 
Seid fruchtbar und mehrt euch und Machet Euch die Erde untertan – diese letztlich fatalen göttlichen Aufforderungen – so harmlos sie zur Zeit menschenleerer Landschaften klingen mochten - sind in den Augen Ciorans nur damit erklären, daß nicht ein nur schlechter (mauvais), sondern ein unumwunden bösartiger (malin) Demiurg, Satan also, an dieser Stelle des Wortes Gottes sich bemächtigt hat. Sebald hat im Gespräch bestätigt, daß es für die Annahme einer Sonderstellung des Menschen unter den übrigen Geschöpfen der Erde keine rationale Grundlage gebe. Populären Ausprägungen des Humanismus, die kaum hinausgehen über eine Selbstvergötterung des Menschen, neigt er nicht zu. Im Dritten Teil der Ringe des Saturn, in denen die Anteile auch eines denkbar anspruchsvollen Humanismus, gemessen an den Ausgewanderten, zugunsten einer kosmologisch-naturgeschichtlichen Sichtweise noch einmal deutlich zurücktreten, betrachtet Selysses, neben anderem, die Tiere des Wassers, der Luft und der Erde.

Der Dritte Teil eröffnet in einer Endzeitszenerie, Überreste eines wandernden Volkes lagern am äußersten Rande der Erde, vor sich nichts mehr als Leere; Überlebende eines Kampfes, der zunächst der des Menschen mit der Übermacht der Natur zu sein schien, dessen Fronten inzwischen aber ganz anders verlaufen. Die Entwicklung wird exemplarisch am Schicksal des Herings demonstriert. Nach einer Berechnung Buffons würde die Menge der Heringe, könnten sie sich nur ungestört vermehren, bald das zwanzigfache Volumen der Erde ausmachen, da konnte Fischerei nicht anders denn als Weltenpflege verstanden werden. Zur Schonung etwaiger zartfühlender Gemüter wurde zudem die Lehrmeinung entwickelt, die physiologische Organisation der Fische schütze sie vor der Empfindung der Angst und der Schmerzen. Hier aber meldet der Dichter offenen Zweifel an: In Wahrheit wissen wir nichts von den Gefühlen der Herings. Ob Angst und Schmerz oder nicht, die Zeiten furchterregenden Überflusses sind längst vorbei. Vom Ufer aus wird kaum noch etwas gefangen, auf hoher See geht die Fischerei zwar vorderhand weiter, wenngleich die Ausbeute immer geringer wird und die gelandeten Fänge oft nur für Fischmehl zu brauchen sind. Den Tausenden von Tonnen schwerer Metalle und anderer toxischer Substanzen ist auch die erstaunliche Lebenskraft des Herings langfristig nicht gewachsen. Erstaunlich ist sie allerdings, hatte doch ein gewisser Neucrantz in Stralsund mit großer Genauigkeit die letzten Zuckungen eines vor einer Stunde und sieben Minuten aus dem Wasser geholten Herings registriert, ein Franzose namens Noel Marinière hatte eines Tages gar staunend wahrgenommen, wie ein paar Heringe, die schon zwei bis drei Stunden auf dem Trockenen lagen, sich noch rührten und hatte, um die Lebensfähigkeit dieser Fische genauer zu erkunden, ihnen die Flossen abgeschnitten, eine von unserem Wissensdrang inspirierte Prozedur, die auf geradem Wege das Gemälde von der anatomischen Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp aus dem Ersten Teil in Erinnerung ruft, das, so der Dichter, in der Pracht und Schönheit der Rembrandtschen Malkunst das archaische Ritual der Zergliederung und die Peinigung des Fleisches bis über den Tod hinaus verwahrt.

Für die augenfällige Schönheit des Herings hat kaum jemand Sinn. Über den Rücken hin ist er bläulich-grün gefärbt, gegen das Licht gehalten, scheinen die hinteren Partien auf in einem Dunkelgrün von solcher Schönheit, wie man sie sonst nirgendwo sieht. Der Umstand, daß das Leuchten der Fische erst Tage nach ihrem Tod seinen Höhepunkt erreicht, hat sogleich anstelle der ästhetischen Betrachtung den Nutzen- und Verwertungsgedanken auf den Plan gerufen und die Hoffnung, aus der von den toten Heringen ausgeschwitzten luminösen Substanz möge sich eine Formel ableiten lassen zur Erzeugung einer organischen, sich fortwährend generierenden Lichtessenz. Das Scheitern dieses exzentrischen Projekts, so bilanziert der Dichter, war insgesamt aber ein kaum nennenswerter Rückschlag in der unaufhaltsamen Verdrängung der Finsternis: eine Feststellung ganz im Ton von Becketts knapper Zusammenfassung des Aufklärungsverlaufes: C'est de cette facon que l'homme se distingue des primates et va, de découverte en découverte, toujours plus haut, vers la lumière.
Frühe eigene Erfahrungen mit dem Hering verdankt Selysses einem im Jahre 1936 gedrehten Schulfilm. Man hört den scharrenden Kommentarton der Hitlerzeit, wenn es heißt, Güterwagen der Eisenbahn nähmen schließlich den ruhelosen Wanderer des Meeres, Clupea Ahasverus, auf, um ihn an die Stätten zu bringen, an denen sich sein Schicksal auf Erden endgültig erfüllen wird. Die Anklänge sind nicht nur dem deutlich, dem die Verarbeitung des Eisenbahnmotivs in Austerlitz gegenwärtig ist. Dabei ist die Heringsvernichtung nicht als Metapher des Holocausts zu lesen, und das eine wird auch nicht mit dem anderen verglichen, beides geht aber zurück auf eine grundlegend schlecht eingerichtete Welt, die sich aus der Sicht des Dichters auch nicht grundlegend zum Besseren hin verändern läßt, es sei denn für flüchtige Augenblicke in der Kunst.

Im folgenden Abschnitt tritt das Thema der Judenvernichtung, wenn auch nur kurz, an die Erzähloberfläche, Le Strange hatte in dem Panzerabwehrregiment gedient, das am 14. April 1945 das Lager von Bergen Belsen befreite. Seine spätere Lebensgestaltung ist, ohne das das ausdrücklich gesagt würde, von diesem Erleben her bestimmt. Er verabschiedet sich aus der am Logos, sowohl im Sinne von Sprache als auch im Sinne von Rationalität, orientierten Welt. Einzig die Haushälterin Florence Barnes teilt seine Einsiedlerexistenz, kocht die Mahlzeiten und nimmt sie gemeinsam mit ihm ein unter der Auflage absoluten Stillschweigens. Über den Gartenzaun hinweg erleben wir Le Strange in wenigen exzentrischen Augenblicken mal in einem kanarienfarbenen Gehrock und mal in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft. Umgeben ist er immer von den Tieren des Himmels, die teils am Boden um ihn herumlaufen, teils in der Luft umfliegen, Perlhühner, Fasanen, Tauben, Wachteln und die verschiedensten Garten und Singvögel. Gleicht er so im Erscheinungsbild dem Heiligen Franz, so gräbt er später eine Erdhöhle aus, in der er tage- und nächtelang gesessen ist gleich dem Heiligen Hieronymus in der Wüste. Es ist aber Selysses selbst, der im wiederum folgenden Erzählabschnitt auf die Tiere der Erde trifft.
Hinter einem niedrigen Elektrozaun lagerte eine an die hundert Stück zählende Schweineherde, und ich näherte mich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Ich fuhr ihm mit der Hand über den staubbedeckten Rücken, strich ihm über den Rüssel und das Gesicht und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr bis es aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch – ein Augenblick innigen Einverständnis zwischen zwei Erdkreaturen unterschiedlicher Gattung. Wenn es allerdings im Fall von Le Strange so aussehen mochte, als fände eine Rückkehr aus der logozentrischen Moderne in die gottgeleitete Welt statt, so zeigt sich, daß diese nicht weniger mit Mängeln behaftet ist. Selysses erinnert all das an die Geschichte, die der heilige Evangelist aus der Gegend der Gadarener erzählt, als der Herr den bösen Geistern befiehlt, herauszufahren aus dem Tobsüchtigen und hinein in die Säue, die, zweitausend an der Zahl, sich von dem Abhang hinabstürzen und ersaufen in der Flut. Bedeutet das nicht, so fragt sich Selysses, daß unserem Herrn bei der Heilung des Gadareners ein böser Kunstfehler unterlaufen ist. Ähnliche Gedanken waren Dostojewski wohl nicht in den Sinn gekommen, als er die Geschichte von den Schweinen seinem Roman über die Dämonen vorangestellt hat, sie führen vielmehr zurück zu den eingangs vorgestellten Überlegungen Ciorans zu einer schlecht, wenn nicht gar bösartige entworfenen Welt. Selysses läßt allerdings die Tür auf für eine Schonung der Gestalt Jesu, indem er eine vom Evangelisten nur erfundene Parabel nicht ausschließt, die  nur von seinem, des Evangelisten, und von unserem kranken Menschenverstand zeugen würde.

Dienstag, 5. Juni 2012

Mailand

Una guida sicura

 
Nie hat sich Selysses einer Stadt in angenehmerer Weise genähert als der Stadt Mailand in trauter Lesegemeinschaft mit der Franziskanerin und dem in Brescia zugestiegenen jungen Mädchen. Nie aber auch ist er in häßlicherer Weise empfangen worden als in der Stadt Mailand, noch auf dem Bahnhofsgelände. Gerade noch hat er in die schönsten Worte und Sätze gefaßten träumerischen Gedanken nachgehangen betreffend den Zusammenhang zwischen den beiden liebreizenden Leserinnen und der riesigen, alles bislang in Europa Dagewesene übertrumpfenden Konstruktion des Mailänder Bahnhofsgebäudes aus dem Jahre 1932, zwischen den sogenannten steinernen Zeugen der Vergangenheit und dem, was als eine undeutliche Sehnsucht über unsere Körper sich fortpflanzt, um sie zu bevölkern, die staubigen Landstriche und die überschwemmten Felder der Zukunft; gerade noch hatte er sich beglückwünscht zum Kauf des Stadtplans, der auf der Vorderseite zwar ein Verderben versprechendes Labyrinth zeigt, auf der Rückseite aber beruhigt mit der Versicherung: Una guida sicura per Milano, als zwei junge Männer auf ihn zukommen. Schon spürt er ihre Hände unter seiner Jacke, und erst als er die Schultertasche mit einem Schwung in sie hineinfahren läßt, gelingt es ihm freizukommen. Der Taxifahrer, als er ihm von dem Vorfall erzählt, antwortet nnur mit einer Geste der Hilflosigkeit.

Das Hotel Boston hat Selysses für die Übernachtung offenbar mit bewußtem Masochismus ausgewählt. Die Empfangsdame, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, mustert ihn mit skeptischem Vogelblick, und der Schlüssel wird ihm schließlich auf eine halb mitleidige, halb verächtliche Weise ausgehändigt. Die Nacht verläuft gewohnt ungut, unterbrochen am frühen Morgen von einem Duschbad in dem hinter einem stockfleckigen Plastikvorhang verborgenen Brausebecken.

Mailand stand nicht auf dem Reiseplan des Selysses für Oberitalien, falls von einem solchen Plan überhaupt gesprochen werden kann. Der Besuch hat einen unvorhergesehenen und pragmatischen Grund, es geht um ein Ersatzdokument für den in Limone abhanden gekommenen Reisepaß. Der Schengenraum bestand anno 1987 noch nicht und Großbritannien, wo die Reise enden soll, liegt bis zum heutigen Tag ohnehin außerhalb seiner Grenzen. Trotz des geschäftsmäßigen Besuchsanlasses verläuft der Aufenthalt in Mailand nicht schwindelfreier als in Venedig oder Verona. Der sichere Führer durch Mailand hält nicht, was er verspricht, und auch das bunte Medaillon Unserer Lieben Frau im Taxi verscheucht nicht das Dunkel. So wie Selysses in Venedig im leichten Schlaf den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser sieht und die heilige Katharina über die Sümpfe schreitend, so sieht er jetzt im morgendlichen Halbschlaf die ihm aus seiner Kindheit vertraute Klosterfrau Schwester Mauritia mit ausgebreiteten Armen über einem Maisfeld schweben. Bei derartiger Einstimmung in den heiligen Bezirk verwundert es kaum noch, wenn er am folgenden Morgen im Wartesaal des deutschen Konsulats in der Via Solferino auf den Heiligen Georg trifft. Der hat seinen Namen in Giorgio Santini verwandelt und damit den Bedingungen der bürgerlichen Welt angepaßt und trägt noch immer den wirklich wunderbaren formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den Pisanello ihm aufgesetzt hatte. Ob Selysses den Hochseilartisten als San Giorgio erkennt, mag dahingestellt bleiben, Sebald hat den nur leichten Schleier der Tarnung ohne Frage durchschaut.

Eine  heilsame Wirkung auf den verwirrten Selysses geht auch vom Namenspatron nicht aus. Ein kleiner, ja zwergwüchsiger Konsulatsbeamter - der Gegenentwurf zum grandiosen Brigadiere, der das erste Notdokument für den verlorenen Paß ausgestellt hatte - stellt die verlorengegangene Identität des Selysses fest und mit der Aushändigung eines neuen Passes auch wieder her, kann sie aber dem Eigentümer nicht wirklich zurückgeben, und der weiß bald nicht einmal mehr, ob er noch in der Landschaft der Lebendigen oder bereits an einem anderen Ort weilt.
 
Der soweit durchlaufene Heiligenparcours führt Selysses folgerichtig in den Mailänder Dom und dort hinauf bis in die oberste Galerie. Bedeutsames oder gar Rettendes über den Köpfen stellt sich aber nicht ein. Als drohendes Sinnbild steht im Westen eine ungeheurere Wolkenwand. Rettung, wenn auch nur auf der Ebene der allersparsamsten Realitätsversicherung, kommt von unten: Ihm kam der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. Die notdürftig wiedergewonnene Fassung reicht hin, um noch am Abend nach Verona weiterzureisen und dort die ausgehenden Sommermonate in einigermaßener Ruhe zu verbringen, allerdings weiter unter Verzicht auf die eigene Identität als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker von Landeck. 

Freitag, 1. Juni 2012

Oraisons funèbres

Heimliche Trauung

Eingangs der Ringe des Saturn gedenkt Sebald zweier jüngst verstorbener Kollegen an der Universität von Ostengland und hebt sie damit, wie wir inzwischen wissen, auf eine höhere Stufe der Unsterblichkeit als sie die aus eigener Kraft hätten erreichen können. Das hat aber, da Unsterblichkeit im ernsten Sinne aus dem Leben der Menschen verschwunden ist, weiter keine Bedeutung. Es bleiben zwei Totenreden, die sich nicht nur entschieden abheben von der auf den Metzgermeister Michael Schultheis, von dem es hieß, er habe sich großer Beliebtheit erfreut, sei dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen und habe seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet, - ganz andere Totenreden sind es, die auch Jacques-Bénigne Bossuets kunstreiche Oraisons funèbres noch in den Schatten stellen.
Es geht um Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns. Beide litten im Leben an einer, wenn auch vergleichsweise gelinden Form der Monomanie Bernhardscher von einer Studie besessener Geistesmenschen. Im Falle Parkinsons ist das Studienobjekt der Welschschweizer Autor Ramuz, bei Janine Dakyns ist es Flaubert. Die monomane Ausrichtung ist die Grundlage ihrer Absonderlichkeit und Beschlossenheit, die es zu feiern gilt. Auch in der Sommervakanz machte Parkinson regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland. Mehr als alles andere aber zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. Ganz und gar unberührt gehrt er durch den mit großen Namen wie Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung ausschilderten Bezirk der Warenwelt. In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Dem Dichter erscheint er als einer der unschuldigsten Menschen, die ihm jemals begegnet sind.
Mit Michael Parkinson tauscht sich Selysses nicht aus über dessen Studienobjekt Ramuz, dem Verfasser dunkler Romane aus der Gebirgswelt, wohl aber mit Janine Dakyns über Flaubert. Aus der Tausende von Seiten umfassenden Korrespondenz Flauberts hat sie bei den verschiedensten Gelegenheiten lange Passagen zitiert, wobei sie oft in Zustände einer fast besorgniserregenden Begeisterung geriet. Ihre Forschungen über die Tausende von Seiten hatten in ihrem Büro ihrerseits zu einer wundersamen Papiervermehrung geführt, und im Verlaufe der war eine richtige Papierlandschaft mit Bergen und Tälern entstanden, die Sebald wiederum zu einer mit dem schönsten Lächeln niedergeschriebenen Seite veranlaßt hat. Es ist das Lächeln der geteilten conditio humana, ein Lächeln, das immer die Absonderlichkeit des Einzelnen zur Voraussetzung hat, fast schon seine Vergrabenheit, so wie sich der absonderlichste Heilige in Sebalds Welt, der Major Le Strange, auf dem Zenith seiner Laufbahn eingräbt in eine Höhle, in der er dann tage- und nächtelang gesessen ist gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. Gegenüber uniformierten Menschengruppen wie den Touristen oder den Goldgräbern in der City in ihren nachtblauen Anzügen, gestreiften Hemdbrüsten und grellfarbenen Krawatten, mit ihrem engen Beieinanderstehen, ihrem halb geselliges, halb aggressiven Gehabe, dem Freigeben der Gurgel beim Leeren der Gläser, - bleibt Selysses schmallippig und ohne Gemeinschaftsgefühl, selbst wenn sie, wie das Heer von Touristen hingestreckt von der Pestkrankheit auf dem nackten Steinboden liegen, erkennbar dem Tode geweiht.

Ein durchaus heiteres Begräbnis also, vor allem auch wenn man sich vorstellt, daß der Engel, der, wie auf jedem anderen Friedhof auch, aufgestellt wird, als derjenige der Dürerschen Melancholie, zunächst zwar Janine Dakyns zugedacht ist, dann aber doch beiden Toten. Selysses hat sich wiederholt als Freund heimlicher Trauungen bewiesen, in eigener Angelegenheit bereits in W. mit dem Fräulein Rauch, später dann in Limone mit Luciana Michelotti, und auch Florence Barnes und dem Major hat er seinen Segen erteilt. Trauung hat den Klang des Vertrauens, die furchtbaren Separation der Geschlechter ließe sich aufheben, und sei es im Reich der Toten.

Sebald ist Herr in seinem eigenen Buch und er nimmt sich die Freiheit, zwei ihm teuren Verstorbenen eingangs der Ringe des Saturn ein Denkmal zu setzen. Die Totenreden sind aber keineswegs unverbunden mit dem Textganzen. Janine Dakyns findet über die von ihre erkannte Bedeutung des Staubs Anschluß an das Staubmotiv, und Parkinson erweitert mit seiner Bedürfnislosigkeit die Gilde wittgensteinesker Gestalten. Mit seiner Unschuld setzt er den Kontrapunkt in einem Buch über die unaufhebbare Schuld der Menschen untereinander und vor der Welt. Unschuld wird nur sichtbar, wo Schuld ist, und umgekehrt gilt das gleiche.