Dienstag, 10. April 2012

Staub


Schleier aus Asche

Alle Sätze Sebald befinden sich in einem aufgeräumten Zustand, nehmen aber nie die Gestalt kühlen Designs an. Aus dem Inneren leuchtet eine große Freundlichkeit, und die Konturen sind immer weich. Das ist auch auf die angesprochenen Themen und Motive zurückzuführen, unter denen der Staub nicht den letzten und unbedeutendsten Platz einnimmt. Der Dichter selbst ist sich darüber durchaus im klaren, das Staubmotiv hat sich nicht hinter seinem Rücken eingeschlichen: 

We know the biblical phrase, dust to dust and ashes to ashes, so the allegorical significance of dust is clear. The other thing is that dust is a sign of silence somehow. And there are various references in the book to dusting and cleanliness. That of course has been in a sense a German and Jewish obsession, keeping things kosher and clean. This is one of the things that those two in many ways quite closely allied nations shared. And there is the episode in the story of Adelwarth where the narrator goes through Deauville and a woman’s hand apperars through one of the closed shutters, scrcely open shutters, on the first floor and shakes out a duster.
 
There are some people who feel a sense of discomfort in tidy, well-lept, constantly looked-after houses. And I belong to those people. I’ve always felt it to be difficult to be in a house where this sort of cpld prder has been maintained, th cold order whisch was typical of the middle-class salon whick would only be opened once or twice a year fpr certain days like Christmas, perhaps, and where the grand piano would stand in dead silence throuout the year. By contrast, if I get into a house where the dust has been allowed to settle, I do find that comforting somehow. I remember a visit to a publisher in Kensington. He had still some business to attend to when I arrived, and his wife took me to a sort of library room at the very top of this very tall, very larged, terraced house. And the room was all full of books, and there was one chair. And there was dust everywhere; it had settled over many years on all those books,on the carpet, on the windowsill, and only from the door to the chair where you would sit down to read, there was a path, like a path trough snow, as it were worn, where you could see that there wasn’t any dust because occassionally somebody would walk up to that chair and sit down and read a book. And I have neve spent a more peaceful quarter of an hour than sitting in that particular chair. It was that experience that brought home to me that dust has something very, very peaceful about it.
(Im Gespräch mit Eleanor Wachtel)

Mit der staubtuchwedelnden Bewohnerin von Deauville ist das Staubmotiv so schwach angeschlagen, daß der Leser sich besorgt fragt, wie oft er es wohl insgesamt überhört hat in den Büchern Sebalds. Aber auch für den Schwerhörigsten bleibt in jedem Fall noch genug, unmöglich, allem nachzugehen. In den Ausgewanderten sind es vor allen anderen zwei Stauberscheinungen, die sich tief einprägen, die Staubkunst Aurachs und die zu Staub zerfallende Narrenburg in Ithaca.
 
Wenn man Aurach an einer seiner Porträtstudien arbeiten sah, konnte man glauben, es ginge ihm vorab um die Vermehrung des Staubs. Sein heftiges, hingebungsvolles Zeichnen, bei dem er in kürzester Frist oft ein halbes Dutzend seiner aus Weidenholz gebrannten Stifte aufbrauchte, dieses Zeichnen und Hinunterfahren auf dem dicken lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem zeichnen verbundene andauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion. Der Staub sei ihm, so sagte er, so ziemlich das Liebste auf der Welt, er sei ihm näher als das Licht, die Luft und das Wasser.

Das Fachwerk, das Dachstuhlgebälk, die Türstöcke und Paneele, die Böden, Dielen und Stiegen, die Geländer und Balustraden, Rahmungen und Gesimse unter der Oberfläche sind bereits ausgehöhlt und jeden Augenblick, wenn der aus der Heerscharen der Käfer auserwählte mit einem letzten Schaben seines Kieferrands den letzten schon gar nicht mehr materiellen Widerstand durchbricht, wird alles in sich zusammensinken. Und so geschieht es denn auch, mit unendlicher Langsamkeit, und eine große, gelbliche Wolke steigt auf und verweht, und an der Stelle des ehemaligen Sanatoriums bleibt nichts als ein Häufchen puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl.
 
Mit dem biblischen Staub zu Staub auf der einen und dem eigenen Gefallen an eingestaubten Zimmern hat Sebald ein weites Feld möglicher Erscheinungsformen des Staubs abgesteckt. Das zerfallende Sanatorium ist mehr zur biblischen Seite hin angesiedelt, Aurachs Kunstschaffen nahe beim Dichter. Beide Stellen sind aber nicht typisch für ihren jeweiligen Teil des Feldes. Das eine ist keine Vergänglichkeitsklage, sondern eine Vernichtungsvision, und Aurachs Staub hat wenig Friedliches und ist vielmehr Ergebnis verzweifelter Raserei.

Das Staubmotiv naturgemäß nicht auf die Ausgewanderten beschränkt. In Austerlitz ist es eng verwoben mit dem Motiv der Lichtverhältnisse. Die hoch aufragenden gußeisernen Säulen sind eingeschwärzt von einer Schicht aus Koksstaub und Ruß. Eisgraues, mondscheinartiges Licht dringt durch einen unter der Deckenwölbung verlaufenden Gaden und hängt einem Netz oder einem schütteren, stellenweise zerfransten Gewebe über mir. Trotzdem diese Licht in der Höhe sehr hell war, eine Art Staubglitzern, hatte es den Anschein, als würde es von den Mauerflächen und den niedrigeren Regionen des Raumes aufgesogen.
 
In den Schwindel.Gefühlen ist gleich das erste der großen italienischen Bildwerke ein Staubbild. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld.

Das eigentliche Staubbuch aber ist das von der englischen Wallfahrt, das bereits seinen Titel dem Staubstern entliehen hat: Die Ringe des Saturn bestehen aus Eiskristallen und meteoritischen Staubteilchen, die den Planeten in dessen Äquatorialebene in kreisförmigen Bahnen umlaufen. In diesem Buch ist alles auf eine geheimnisvolle Art und Weise untereinander verbunden, und auch wenn die verschiedenen Berichte aus weit voneinander entfernt liegenden Orten und Zeiten stammen, ist ihnen allen etwas gemeinsam, und das ist der Staub. Viele der Gebilde sind auf dem Weg, zu Staub zu zerfallen. Es sei so, soll Flaubert gesagt haben, als versinke man in Sand, der Sand erobere alles, und der Staubsturm am Rand des Waldes von Rendelsham bildet einen dramatischen Höhepunkte des Buches. Staub überzieht den Fußboden des alten Herrensitzes der Ashburys in Irland, zu schwefelgelbem Staub verfallen andere Häuser, deren Bewohner fortziehen mußten, nachdem die Lebensgrundlage für einen ganzen Landstrich oder eine ganze Epoche entfallen war. Staub bedeckt den Boden der kaiserlichen Zimmer in China.

Das Motiv des Staubs ist nicht einsam. Bereits den Weg durch das staubige Bibliothekszimmer erscheint Sebald wie ein Weg durch den Schnee. Der Schnee ist zu weißem Staub gefrorenes Wasser, noch weicher, noch stiller, noch friedlicher als der gemeine Hausstaub. Wiederholt träumt Selysses den Traum einer Welt, die den Winter über samt ihren Bewohnern unter dem Schnee verschwindet und erst mit dem Frühling wieder auftaucht. Eng verwandt ist das Motiv des Staubs auch mit dem der Lichtverhältnisse, in der Dunkelheit werden die Konturen weich, im hellen Licht kommt es zu Staubglitzern. Die Exponate im Antikos Bazar stellt man sich nicht sorgfältig abgestaubt vor und sie selbst sind wenig anderes als grobkörniger Staub der Vergangenheit. Once upon a time, and his wife took me… And the room was all full of books. And there was one chair. And there was dust everywhere. And only from the door…And there was a path : Beim Geständnis seiner Liebe zum Staub verfällt Sebald mit den gereihten Satzanfängen auf And in den Ton eines Märchenerzählers, Dornröschen ist vielleicht dasjenige, an das wir denken sollten, wer hätte die schlafenden Bücher noch abstauben sollen, als der gesamte Hofstaat in Schlaf gefallen war. Aber nicht nur im Märchen, ganz generell sind es die von den meisten Erzählern bevorzugten Präterialformen des Verbs, die den Staub des Vergangenen in der Gegenwart bewahren, Schutzschicht und Spur der Zerstörung, Sediment und Erosion. Wenn sich noch über dem Staubglitzern in der Höhe Reiher große Nester gebaut haben, ihre Schwingen ausbreiten und davon fliegen durch die blaue Luft, hat sich von der Motivgruppe des Staubs ein Fenster geöffnet zu der des Fliegens, von dort ... und so weiter und so fort.

Die immer die sorgfältig aus- und zum Ende geführten, geordnet voranschreitenden und von einer wahren Ellipsenphobie geprägten Sätze stehen in scharfem Gegensatz zum einen zur erratischen Vorwärtsbewegung der Handlung und des Helden, die Sebald nach eigenem Bekunden erlernt hat en regardant la course du chien à travers les champs und, zum anderen, zu der end- und rastlos aufblühenden und sich verzweigenden, weitgehend handlungsunabhängigen Motivik, dem wie von einem leisen Wind aufgewehten und getragenen Blütenstaub der Bilder, die im Motivkomplex des Staubs sozusagen ihren Herkunftsort haben.

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