Sonntag, 22. April 2012

Verona

Grauenhafte Details

Bei der Frage, was denn das eigentliche Reiseziel des von Schwindelgefühlen heimgesuchten Selysses’ in Oberitalien gewesen ist, werden nicht wenige auf Limone am Gardasee verfallen. Unter der Obhut der Wirtin Luciana Michelotti verbringt Selysses hier eine ausgeglichene und ruhige Zeit. Die Antwort ist aber falsch, nicht so sehr, weil der Aufenthalt viel kürzer ist, als es beim Lesen zunächst scheint, sondern weil Limone gar nicht auf dem Reiseplan stand, wenn von einem solchen denn überhaupt gesprochen werden kann. Selysses hatte im Bus ein Ticket nach Riva gelöst und war in Limone nur ausgestiegen, um der unerträglichen Situation mit den Kafkazwillingen und ihren Eltern zu entkommen. Venedig scheidet aus anderen Gründen aus als Krönung der Reise, Selysses gerät hier ganz unter den Einfluß des griesgrämigen Grillparzer und findet an nichts Gefallen. Padua gilt nur ein kurzer Abstecher mit dem alleinigen Ziel, die Fresken des Malers Giotto in der Kapelle des Enrico Scrovegni zu betrachten, und nach Mailand wäre er wohl gar nicht gefahren, hätte er sich nicht im dort residierenden Deutschen Konsulat einen neuen Paß beschaffen müssen. Desenzano ist nur Umsteigestation, es bleibt Verona.

Alles spricht dafür, daß Selysses mit dieser Stadt seit längerem auf das beste vertraut ist. Wie selbstverständlich nimmt er ein Zimmer in der Goldenen Taube und geht dann sogleich, einer alten Gewohnheit gemäß, in den Giardino Giusti. Verona ist auch die einzige Stadt, die er bei beiden Reisen einigermaßen umfänglich besucht, beim zweiten Mal für mehere Monate. Der Leser kann sich der ständig auftretenden Schwindelgefühle nicht erwehren und hat Mühe, die beiden, durch eine Frist von sieben Jahren getrennten Aufenthalte in Verona auseinanderzuhalten. Beide Male steigt Selysses in der Goldenen Taube ab, wobei er sich beim zweiten Mal aus schwer erfindlichen Gründen als Jakob Philipp Fallmerayer, Verfasser der Geschichte des Kaiserthums Trapezunt, einträgt. Giottos Fresko, das den heiligen Georg in Begleitung der Prinzessin von Trapezunt zeigt, wurde schon beim ersten Mal besucht. Die alte Gewohnheit, in Verona zunächst den Giardino Giusti aufzusuchen, wird beim zweiten Besuch nicht aufrechterhalten, zumindest fehl eine Mitteilung darüber.

Sowohl die Arena di Verona als auch die Pizzeria Verona sucht Selysses zweimal auf, den Innenraum beider Bauwerke aber jeweils nur bei der ersten Reise. Die Arena war menschenleer bis auf eine Gruppe später Ausflügler, denen ein sicherlich nahezu achtzig Jahre alter, wenn nicht noch älterer Cicerone mit einer dünn und brüchig gewordenen Stimme die Einzigartigkeit des Bauwerks beschrieb. Erst nach Ablauf einer geraumen Zeit wurde Selysses der beiden Gestalten gewahr, die im Schatten der jenseitigen Hälfte der Arena auf den Steinen saßen. Es bestand kein Zweifel, es waren wieder dieselben beiden jungen Männer, die am Morgen früh in der Ferrovia von Venedig ihr Augenmerk auf ihn gerichtet hatten. In der Pizzeria dann führen das Gefühl des Verfolgtseins in Verbindung mit der mäßigen Qualität der gereichten Speise, ersten Nachrichten über die Gruppe Ludwig, einem Seestück an der Wand und dem Umstand, daß der Wirt auf den Namen Cadavero hört, zu Panikgefühlen und zur Flucht aus Verona.

Der zweite Aufenthalt bietet mehr Zeit für Gänge durch die Stadt, unter den Bäumen der Uferpromenade den Adige entlang bis zum Castelvecchio. Ein hellfarbiger Hund, der einen schwarzen Fleck wie eine Klappe über dem linken Auge hatte und der wie alle herrenlosen Hunde schräg zu der Richtung zu laufen schien, in der er sich fortbewegte, hatte sich auf dem Domplatz ihm angeschlossen und war immer ein Stück voraus. Blieb er stehen, so hielt auch der Hund ein und schaute versonnen auf das fließende Wasser der Etsch. Ging er weiter, so machte auch der Hund sich wieder auf den Weg. Als er aber am Castelvecchio den Corso Cavour überquerte, blieb der Hund an der Bordsteinkante zurück, und er wäre, weil er mitten auf dem Corso sich umwandte nach ihm, um ein Haar überfahren worden. Er nahm sich dann Zeit, betrat das eine oder andere Geschäft, trieb unter den Passanten dahin und fand sich schließlich gegenüber der Pizzeria Verona, die er an jenem Novemberabend vor sieben Jahren fluchtartig verlassen hatte. Die Eingangstür war jetzt mit einer Spanplatte vernagelt, und auch die Läden in den oberen Stockwerken des Hauses waren sämtlich verschlossen. Bei dem Versuch, sich ein Photo von dem Haus zu beschaffen, stößt Selysses, der selbst keine Kamera mit sich trägt, auf ungeahnte Schwierigkeiten.

Gezielt sucht Selysses in Verona die Biblioteca Civica auf, um dort tagsüber zu arbeiten. Er läßt sich die Folianten reichen, in welche die Veroneser Zeitungen aus den August- und Septemberwochen des Jahres 1913 gebunden waren, der Zeit also, in der Kafka Oberitalien bereist und auch Verona besucht hatte. Selysses’ Arbeitsstil fehlt es offenbar an Strenge, aber womöglich ist es die Arbeitsweise, der wir die Bücher seines Doppelgängers im wahren Leben zu verdanken haben. Reklamebildchen von Ärzten und Tafelwasserhersteller wachsen sich ihm zu kleinen Geschichten aus, und beim Lesen und Umblättern entdeckt er manches, von dem gelegentlich erzählt werden müßte, oft bereits in novellistische Worte gefaßte Geschichten, denen es grauenhaften Details nicht mangelte. 1913 war ein besonders Jahr. Die Zeit wendete sich, und wie eine Natter durchs Gras lief der Funken die Zündschnur entlang. Auch im Gespräch mit Salvatore an einem Tischchen vor der Bar mit der grünen Markise auf der Piazza Bra gegenüber der Arena geht es zunächst um das Jahr 1913, im Titel einer Erzählung Leonardo Sciascias als 12 & 1 nur leicht camoufliert. In der Arena wird Verdis Aida gegeben in einer Ausstattung, die der Eröffnung der Festspiele im Jahre 1913 exakt nachempfunden ist. Vielleicht hatte auch Kafka die an allen Ecken der Stadt noch zu sehenden Anschläge der settacoli lirici all’Arena noch bemerkt und die Großbuchstaben AIDA noch entziffert. Man könnte meinen, die Zeit sei nicht vergangen seither, obwohl die Geschichte jetzt ihrem Ende zugeht. Di morte l’angelo a noi s’apressa.
Aber es interessiere Selysses ja eine ganz andere Geschichte, fährt Salvatore fort, die der Gruppe Ludwig, die, wie seit längerem bekannt ist, nur aus zwei, inzwischen inhaftierten jungen Leuten, Abel und Furlan, bestanden hatte, die den Tod derjenigen, die Gott verraten hätten, zum Zweck ihres Daseins erklärt hatten. Die selbstgestellte Aufgabe hatten sie zahlreich und unter Umständen, denen es an grauenhaften Details nicht mangelte, in die Tat umgesetzt. Rückblickend ist wohl zu sagen, daß Selysses erste Nachrichten über das Wirken LUDWIGS wohl in Verbindung gebracht hatte mit dem Eindruck eigenen Verfolgtseins, und als dann auch noch aus einem Hinterhaus eine Bahre mit dem Schemen des Jägers Gracchus unter einem blumengemusterten Tuch herausgetragen wurde, war es ihm zuviel gewesen in der Pizzeria des Carlo Cadavero. Jetzt muß er sich sagen, daß die größte reale Gefahr für ihn wohl bestanden hatte, als er sich auf dem Corso Cavour mitten im Verkehr nach dem Hund umgeschaute. Er fühlt sich nun imstand, die ausgehenden Sommermonate, beschäftigt mit seinen verschiedenen Arbeiten, in Verona zu verbringen, die Oktoberwochen aber, weil er den Winter nicht erwarten konnte, in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel mit Blick auf den Großvenediger. Daß aber das Ende der Zeit nahe ist, dabei bleibt es.

Donnerstag, 19. April 2012

Venedig

Città inquinata
The gondola stopped, the old palace was there

Als Sebald seinen Reisenden Selysses nach Venedig schickte, konnte er nicht hoffen, literarisches Neuland zu betreten. Henry James, Proust und Thomas Mann, um nur einige aus der obersten Liga zu nennen, waren schon da gewesen. Unmittelbar folgt Selysses überdies den Spuren Kafkas, der seinen Aufenthalt in der Lagunenstadt aber nicht literarisch verwertet hat. Kafkas Eindrücke verlaufen oft seltsam unterirdisch, und obwohl es nicht einmal einen Hinweis darauf gibt, daß er den Dogenpalast besucht hat, haben dessen Bleikammern in der Entwicklung seiner Straf- und Prozeßphantasien später einen so wichtigen Platz eingenommen. Sicher ist eigentlich nur, daß Kafka sich vier Tage in der Stadt aufgehalten hat.
Nicht wenige Leser werden sich gewundert haben, daß der Aufenthalt in Venedig mit einer scharfen Rasur noch auf dem Bahnhofsgelände beginnt, Einzelheiten der Körperpflege des reisenden Helden zählen eindeutig nicht zu den üblichen Erzählgegenständen in Sebalds Büchern. Die Unüblichkeit wird an einer späteren Stelle der Erzählung nicht nur bestätigt, sondern, im Zusammenhang mit dem Bader Köpf, noch auf ein deutlich höheres Niveau gehoben: Daß ich mich vor einigen Jahren im Bahnhof Santa Lucia in Venedig aus freien Stücken habe rasieren lassen, das ist mir nach wie vor eine ganz und gar unbegreifliche Ungeheuerlichkeit. Was mag Selysses, wohlwissend um seine Rasiermesserphobie, in diese todesverachtende Stimmung versetzt haben?

Offenbar ist der Gang zum Bahnhofsbarbier eine Handlung von Bedeutung, und es bleibt nur herauszufinden, worin die besteht. Vielleicht ging es darum, selbst wenn es das Leben kosten sollte, einen spürbaren Schlußstrich zu ziehen unter den mißglückten Aufenthalt in Wien. Die Stimmung der Bedeutsamkeit hält denn auch zunächst weiter an, rauschend tauchen die bis zur Bordkante beladenen Kähne aus dem Nebel auf, reglos stehen die Steuermänner im Heck, ein Sinnbild der Wahrhaftigkeit, und bewegt von der seltsamen Bedeutung, die er den Schiffsleuten beigemessen hat, geht Selysses weiter. Eine Gefahr für die scheinbare Stabilität seiner Stimmung ist aber, daß er nicht recht weiß, warum er in Venedig ist, und auch keinerlei Pläne hat für den weiteren Aufenthalt. In Padua später will er ein Fresko Giottos aufsuchen, in Verona ein Fresko Pisanellos, obwohl er aber den letzten Reiseabschnitt vor der Einfahrt in die Stazione Santa Lucia mit einem Bild Tiepolos im Kopf verbracht hat, nimmt er in Venedig von jeder Kunstbetrachtung Abstand. Stattdessen geht er hinein in das Innere der Stadt, wo man nicht weiß, was man als nächstes sieht oder von wem man im nächsten Augenblick gesehen wird. Es war mit einem gewissen Gefühl der Befreiung, daß er, nach dem er eine Stunde fast unter den hohen Häusern des Ghettos herumgegangen war, bei San Marcuola wieder den Großen Kanal erblickte. Er besteigt ein Vaporetto und trifft dort auf Ludwig II. in Begleitung einer Zwergin, wahrscheinlich durch das Wasser hierhergekommen, in die città inquinata Venezia merde. Sowohl der König und seine Begleiterin als auch Selysses steigen aus an der Riva degli Schiavoni, und Selysses nimmt Platz in einer der Bars an der Riva, trinkt seinen Morgenkaffee, studiert den Gazzetino, macht Notizen und blättert in Grillparzers Tagebuch, verhält sich also für einen Augenblick wie ein vorbildlicher Kulturreisender.

Grillparzer aber ist kein guter Reisebegleiter, er findet an nichts Gefallen und ist von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht. Der Dogenpalast scheint ihm ein steinernes Rätsel, die Verblichenen, Verfolger und Verfolgten, die Mörder und Gemordeten steigen vor ihm auf mit verhüllten Häuptern. Einer dieser Verfolgten, so läßt Selysses sich von Grillparzer anstecken, die mit der venezianischen Gerichtsbarkeit übers Kreuz kamen, war Giacomos Casanova.

Nachdem er Casanovas Schicksal in Venedig ausführlich in Gedanken nachgegangen ist, kommt Selysses in der Bar an der Riva mit dem Venezianer Malachio ins Gespräch, einem Astrophysiker, der gewohnt ist, alles aus der größten Entfernung zu sehen, ein Verwandter offenbar der Flieger und ein Verwandter insbesondere des Fliegers und Astrophysikers Gerald Fitzpatrick. Malachio nimmt Selysses im Boot mit hinaus und zwar, typisch für Selysses, der auch alle Alpenübergänge nachts ohne Blick auf das Hochgebirgspanorama bewältigt, gegen Mitternacht. Deutlicher als der Turm von San Giorgio und die Kuppel der Santa Maria della Salute fallen zur Nachtzeit die Lichterfront der Raffinerien von Mestre und der Incineratore Comunale ins Auge; brucia continuamente. Malachio verabschiedet sich mit dem alten jüdischen Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme -, über den dann ähnlich und ergebnislos nachzusinnen ist wie über die Wahrhaftigkeit der Schiffsleute.
Mit der nächtlichen Wasserfahrt ist auch die wache, die Stadt Venedig mit den Augen wahrnehmende Phase des Aufenthalts für Selysses abgeschlossen. An anderen Reiseorten ist das Erwachen im Hotelzimmer von den Wellen des Verkehrslärms begleitet, die lauter und lauter werden, sich weiter und weiter aufrichten und sich schließlich in einer Art von Phrenesie überschlagen. Das ist das Getöse, aus dem das Leben entsteht, das nach uns kommt und uns zugrunde richten wird. Ganz und gar unwirklich wirkt die Morgenstille in Venedig, abseits vom Gang der Welt. Selysses malt sich aus, wie es wäre, wenn er über die graue Lagune auf die Friedhofsinsel und weiter auf die Isola San Francesco del Deserto in den Sümpfen der heiligen Katharina hinüberfahren würde. In einem leichten Schlaf sieht er dann den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. Selysses packt seine Tasche, macht sich wieder auf den Weg und kämpft im Stehbuffet der Ferrovia um das eigene Seelenheil, das die Gestalt eines Capuccinos angenommen hat. Als er sieben Jahre später ein weiteres Mal in anreist, ist die Pest von Este bis nach Venedig vorgedrungen, in der Bahnhofshalle lagert hingestreckt von der schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Eine große Ratte, treue Begleiterin der Pestkrankheit, läuft die Bordkante eines mit Müll beladenen Kahns entlang und stürzt sich kopfüber ins Wasser. Selysses verläßt das Bahnhofsgelände gar nicht erst und fährt unverzüglich, ohne vorhergehende scharfe Rasur, weiter nach Padua.
Soll ich mich denn hinsetzen und schreiben, Salzburg ist schön, das weiß doch eh jeder -, so hat Bernhard sich gegen Vorwürfe gewehrt, seine Jugendstadt ungerecht zu behandeln. In den Schwindel.Gefühlen geht Sebald der Schönheit Venedigs gewissenhaft aus dem Weg. Das wird vollends deutlich, als er die Wasserrundfahrt, entgegen aller Besichtigungsvernunft, in die Mitternachtsstunde verlegt. Dem Leser fällt die Strategie der Schönheitsvermeidung nicht ohne weiteres auf. Gleich mit der suggestiven Eingangsszene, als aus dem morgendlichen Herbstnebel Kähne auftauchen, die aspikfarbene Flut durchpflügen und wieder in den weißen Schaden der Luft verschwinden, steigen ihm eigene Bilder der Steine Venedigs, der Kuppeln und Türme, Paläste und Brücken in den Sinn, und was er liest, bleiben ihm in gewissem Sinn Escolios a un texto implicito, wie das immer der Fall ist bei wahrer Literatur, die weitaus mehr aufruft, als sie sagt.

Was aber verbirgt sich hinter der Schönheitsvermeidung? Eine subalterne Erwachsenenpädagogik im Sinne des sogenannten Aufbrechens verkrusteter Sichtweisen wird man ausschließen können. Sebald erzielt extreme Neuigkeitswerte, indem er überkommenen Sichtweisen treu bleibt. In der Kindheit schon ist ihm der Mehlstaub, der an seinen Fingern zurückgeblieben war, nachdem er seinen Seelenwecken aufgegessen hatte, wie eine Offenbarung vorgekommen, und am Abend desselben Tags hat er noch lange in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste gegraben, um das dort verborgene Geheimnis zu ergründen. Als Dichter hat er dann weitergegraben, zumal im Angesicht der Stuckyschen Mehlmühle, allerdings, und darum geht es, kann man nie wissen, auf was man in der Mehlkiste stößt, wenn man sie gründlich durchforscht. Venedigs Schönheit ist eingekeilt in dem mit Grauen durchsetzten Hintergrund ihres Entstehens und die Scheußlichkeit der neuzeitlichen Vernichtung. Die heilige Katharina wird ein weiteres Mal auf dem Rad gebrochen, der heilige und in jeder Hinsicht untadelige Franz treibt mit dem Gesicht nach unten im Sumpfwasser. Wieder hat die Stimme des Dichters den Tod der Klage und kaum den der Anklage. 

Venedig, schon der Name scheint alle Schönheit der Stadt in sich zu tragen. Ven soll zurückgehen auf eine indogermanische Wortwurzel mit der Bedeutung der Liebe wert.

Samstag, 14. April 2012

Mathild

Die rote Zeit

Den Hauptdarstellern und den Komparsen soll die gleiche durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen werden: Wie unter dem Zauber dieser Programmatik füllt Sebald seine Bücher mit einer endlosen Anzahl von Komparsen, mit Empfangsdamen, Mitreisenden, Bewohnern der Ortschaft W., von denen jede sich mühelos in eine Hauptdarstellerin hätte verwandeln können, nicht zuletzt die Seelos Mathild, und fast hätte sie, die Mathild, es auch getan.
In der Regel einmal in der Woche ging der Großvater in die Alpenrose hinüber, um der Mathild einen Besuch abzustatten. Diese wöchentlichen Besuche bestanden darin, daß die beiden ein paar Kartenspiele miteinander machten und ausgedehnte Gespräche führten, zu denen es ihnen an Stoff offenbar nie mangelte. Sie saßen dann im Kaffeezimmer, weil die Mathild niemand, auch den Großvater nicht, zu sich hinaufließ. Ich habe mich während dieser Zeit auf einen der grünen Gartensessel an den grünen Blechtisch gesetzt und den alten Atlas angeschaut. Die Mathild hatte mir ausdrücklich untersagt, irgendeine der Türen im oberen Stock aufzumachen. Insbesondere aber hatte sie mir verboten, in den Dachboden hinaufzusteigen, wo, wie mir die Mathild mit der ihr eigenen Überzeugungskraft beigebracht hatte, der graue Jäger logierte, über den sie sonst keine näheren Angaben machte. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Die Dorfbewohner haben sich über die Mathild dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür heimgekommen sei, und sie hinter ihrem Rücken eine rote Betschwester geheißen. Die Mathild ihrerseits hat sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Sie ist einen schönen Tod gestorben im eigenen Bett mitten in der Nacht. Genau so, wie sie sich jeden Abend hingelegt hat, hat die Frau des Lukas sie gefunden am nächsten Morgen. Nach ihrem Tod habe ich die mir in zunehmenden Maße wichtig werdende Bibliothek der Mathild gesichtet. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun.

Eine beeindruckende Frauengestalt, soviel läßt sich sagen, obwohl man sie so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommt. Vorgestellt wird sie uns in der Hauptsache von Lukas Seelos, der aber wiederum über mehrere Ecken aus dem Hörensagen von ihr berichtet. Ihr Lebensbereich ist ganz unzugänglich und verschlossen, niemand darf ihre Wohnung betreten. Selysses hat sie als Kind kennengelernt, sich während der Besuche in Begleitung des Großvaters aber weniger mit ihr als mit dem Atlas und mit Überlegungen betreffend den vom grauen Jäger bewohnten Dachboden beschäftigt. Was in den langen Gesprächen mit dem Großvater behandelt wurde, ist wohl über seinen Kopf hinweggegangen. Die Kraft ihrer Persönlichkeit hat er gleichwohl verspürt, und in seiner Erinnerung ist sie verblieben als die Wächterin des Jägers, der sich dann in den Schwindel.Gefühlen in mehrfacher Gestalt, als Gracchus und als Hans Schlag, unter die Leute mischt. Nach ihrem Tode ersteht ihm ihre Gestalt noch einmal aus ihrer Bibliothek, die die Einordnung als roter Betschwester letztendlich bestätigt. Unschwer sind die Gebetsbücher der Klosterphase und die Traktate von Bakunin und anderen der roten Phase zuzurechnen, Fragen wirft aber der Umstand auf, daß die Bände so friedlich beieinander stehen und die Gebetsbücher nicht etwa zugunsten des roten Schriftgutes ausgesondert wurden. Mangels besseren Wissens müssen wir bei der Mathild eine unentschiedene Lage der geistigen Strömungen annehmen.

Damit gerät die Mathild, die bereits den Jäger Gracchus unter Verschluß gehalten hat, in die Nähe einer anderen mythischen Person, und zwar des heiligen Georg, der in einer ähnlich unentschieden Lage ist. Bei Grünewald hatten wir ihn angetroffen in der Schar der Nothelfer, aber schon bereit, aus dem mittelalterlichen Tableau herauszutreten. Bei Pisanello dann geht von ihm etwas herzbewegend Weltliches aus, die aus weißem Metall geschmiedete Rüstung versammelt auf sich alles Licht. Gleichberechtigt, was die Bildaufteilung anbelangt, steht auf der rechten Seite im dunklen Gewand und mit strengem Blick der heilige Antonius. Es wäre falsch zu sagen, Sebald habe sich wohlgefühlt an dem Punkt, an dem sich die Moderne von der Vergangenheit trennt oder auch nicht trennt und ab dem alles hätte ganz anders kommen müssen, als es dann gekommen ist, aber er sucht ihn immer wieder auf. Gemeint ist kein Punkt in der realen Zeit, denn das Leben und Wirken des heiligen Georg liegt naturgemäß dem offiziell benannten Ausgang aus der Unmündigkeit weit voraus.

Die Gestalt der Mathild steht uns klar und deutlich vor Augen, und doch lädt alles an ihr ein zum weiteren Ausmalen. Sebald hatte nach der Veröffentlichung von Austerlitz ein Buch über die rote Münchener Zeit ins Auge gefaßt. Hätte er weiter die Gewohnheit beibehalten, seine Lebensberichte, wie in den Ausgewanderten oder auch im Fall von Austerlitz, einfach nach dem Protagonisten zu betiteln, hätte das Buch Seelos geheißen, und die Titelheldin wäre niemand anderes als die Mathild gewesen, Mathild Seelos. Sie hätte sich nicht groß verändert, wäre als Protagonistin die gleiche geblieben, die sie als Komparsin war, aber ihr Geheimnis wäre um einiges reicher geworden. Wir hätten, soweit das überhaupt in Betracht kommen konnte, in das Kloster der Englischen Fräulein geschaut und wohl auch erfahren, was die Mathild während ihres Aufenthalts in München bis in die Grundfesten erschüttert hatte.

Donnerstag, 12. April 2012

Amen

Ein Gebet

Amod â mi a wneddwyd,
Yma ydd wyf, a mae 'dd wyd?

Wir sehen Selysses auf Wanderschaft, sehen ihn im Zug, im Flugzeug, in Hotelrezeptionen, sehen ihn eine in den meisten Fällen ungute Nacht in einem Hotelbett verbringen, sehen ihn lesen, schreiben, selten nur essen, wir sehen und hören ihn nicht beten, mit einer möglichen Ausnahme.
Santa Tecla libera Este della peste. Tiepolos Bild zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Den Hintergrund bildet ein Gebirgszug mit einem qualmenden Gipfel. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld, wo sie, nach einer Zeit des Herumtaumelns, von der aus ihrem Inwendigen hervordrängenden Seuche vollends niedergestreckt wurden. In der vorderen Mitte des Bildes liegt eine pesttote Mutter, das lebende Kind noch am Arm. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Heilige Thekla, bitt für uns, auf daß wir von aller ansteckenden Sucht und unversehenem Tod sicher erlediget und von allem Anlauf des Verderbens barmherzig erlöset werden. Amen.

Wer betet hier? Sicher nicht die heiligen Thekla, denn sie ist ja die Angerufene. Wohl auch nicht die Bewohner der Stadt Este, denn zum einen scheinen sie selbst zum Gebet kaum noch in der Lage und zum anderen bedarf Thekla in ihrem Flehen ersichtlich keiner weiteren Anfeuerung. Es blieben also nur Selysses und Sebald, denn niemand sonst ist noch in Sicht. Betet Selysses als Reisender oder Sebald als Dichter, und was genau ist der Tonfall des Gebets -, das sind die offenen Fragen.

Sebald spricht den Gebetstext in jedem Fall als Dichter, denn es ist der eindrucksvolle Schlußakkord eines kleinen, aus drei Sätzen bestehenden Musikstücks mit dem Titel Von Wien nach Venedig: Abfahrt und Traum vom Schneeberg – Durch das Friaul – Tiepolos Bild und Gebet: Ein furioses kleines Stück, das Sebalds bekundete Vorliebe für die langsamen Sätze in der Musik nicht ohne weiteres belegt. Die Bildbesprechung endet mit dem Blick auf das, was sich über unseren Köpfen vollzieht, ein Thema, das dann im Verlauf des Buches hinweg mehrfach noch wieder aufgenommen wird. Die Fahrt nach Venedig wird nach dem Gebet, der traditionellen Form der Kontaktaufnahme und -pflege zu den Dingen oberhalb unserer Köpfe, nicht weiter erzählend verfolgt, und die Zäsur zum nachfolgenden Aufenthalt in der Zauberstadt am Canałaso, auf ihrer einen Seite bereits durch das abschließende Amen bestätigt, wird auf ihrer anderen Seite durch einen scharfen Schnitt, eine scharfe Rasur noch einmal betont, dieselbe Rasur im übrigen, die Selysses Jahre später im Zusammenhang mit dem Bader Köpf noch in Erstaunen darüber versetzt, wie er sich ihr todesverachtend hat aussetzen können, denn der Name des Baders steht für den drohenden Verlust des Hauptes und nicht für das, was sich, gnädig oder ungnädig, über ihm vollzieht.

Bemächtigt sich Sebald des Gebets aus rein dichterischen, musikalischen Gründen und redet über den Kopf seines Wanderers Selysses hinweg? Auszuschließen ist wohl, daß Selysses, wie sein Doppelgänger im wahren Leben von unmittelbarer Religiosität weit entfernt, bei der Einreise nach Italien einen unvorhergesehenen Anfall von Frömmigkeit hat. Andererseits kann man davon ausgehen, daß er bereits all’estero den ritorno in patria angetreten hat. Später, im Zug nach Mailand, wird er mit Wohlgefallen im Beredten Italiener lesen, in dem nach Kinderglauben alles zum besten geregelt ist, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit; hier, auf der Fahrt nach Venedig, geht ihm eine andere Erinnerung an die Kindheit und an die Zeit durch den Sinn, als er wohl oder übel noch Kirchgänger war, und so rezitiert er eine ihm noch bekannte Gebetsformel.

Im weiteren Reiseverlauf betrachtet Selysses Bildwerke von Giotto und Pisanello in der Kapelle des Enrico Scrovegni in Padua und in der Chiesa Sant' Anastasia in Verona, ohne Kapelle oder Chiesa als Gotteshäuser wahrzunehmen. Anders ist es beim endgültigen Abstieg in die Heimat, als er an der Krummenbacher Kapelle anlangt, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal darin gewiß nicht ihres Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Als Kind hatte Selysses mit dem Großvater oft in derartigen Kapellen gesessen und er erinnert sich der Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit des Wunsches nach einer Wiederholung der in ihren Inneren herrschenden vollkommenen Stille. In gewissem Sinne ist dieser Widerspruch ein Abbild des Werkes, in dem Sätze von schöner Stille grauenvolle Dinge mit sich tragen.
 

Dienstag, 10. April 2012

Staub


Schleier aus Asche

Alle Sätze Sebald befinden sich in einem aufgeräumten Zustand, nehmen aber nie die Gestalt kühlen Designs an. Aus dem Inneren leuchtet eine große Freundlichkeit, und die Konturen sind immer weich. Das ist auch auf die angesprochenen Themen und Motive zurückzuführen, unter denen der Staub nicht den letzten und unbedeutendsten Platz einnimmt. Der Dichter selbst ist sich darüber durchaus im klaren, das Staubmotiv hat sich nicht hinter seinem Rücken eingeschlichen: 

We know the biblical phrase, dust to dust and ashes to ashes, so the allegorical significance of dust is clear. The other thing is that dust is a sign of silence somehow. And there are various references in the book to dusting and cleanliness. That of course has been in a sense a German and Jewish obsession, keeping things kosher and clean. This is one of the things that those two in many ways quite closely allied nations shared. And there is the episode in the story of Adelwarth where the narrator goes through Deauville and a woman’s hand apperars through one of the closed shutters, scrcely open shutters, on the first floor and shakes out a duster.
 
There are some people who feel a sense of discomfort in tidy, well-lept, constantly looked-after houses. And I belong to those people. I’ve always felt it to be difficult to be in a house where this sort of cpld prder has been maintained, th cold order whisch was typical of the middle-class salon whick would only be opened once or twice a year fpr certain days like Christmas, perhaps, and where the grand piano would stand in dead silence throuout the year. By contrast, if I get into a house where the dust has been allowed to settle, I do find that comforting somehow. I remember a visit to a publisher in Kensington. He had still some business to attend to when I arrived, and his wife took me to a sort of library room at the very top of this very tall, very larged, terraced house. And the room was all full of books, and there was one chair. And there was dust everywhere; it had settled over many years on all those books,on the carpet, on the windowsill, and only from the door to the chair where you would sit down to read, there was a path, like a path trough snow, as it were worn, where you could see that there wasn’t any dust because occassionally somebody would walk up to that chair and sit down and read a book. And I have neve spent a more peaceful quarter of an hour than sitting in that particular chair. It was that experience that brought home to me that dust has something very, very peaceful about it.
(Im Gespräch mit Eleanor Wachtel)

Mit der staubtuchwedelnden Bewohnerin von Deauville ist das Staubmotiv so schwach angeschlagen, daß der Leser sich besorgt fragt, wie oft er es wohl insgesamt überhört hat in den Büchern Sebalds. Aber auch für den Schwerhörigsten bleibt in jedem Fall noch genug, unmöglich, allem nachzugehen. In den Ausgewanderten sind es vor allen anderen zwei Stauberscheinungen, die sich tief einprägen, die Staubkunst Aurachs und die zu Staub zerfallende Narrenburg in Ithaca.
 
Wenn man Aurach an einer seiner Porträtstudien arbeiten sah, konnte man glauben, es ginge ihm vorab um die Vermehrung des Staubs. Sein heftiges, hingebungsvolles Zeichnen, bei dem er in kürzester Frist oft ein halbes Dutzend seiner aus Weidenholz gebrannten Stifte aufbrauchte, dieses Zeichnen und Hinunterfahren auf dem dicken lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem zeichnen verbundene andauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion. Der Staub sei ihm, so sagte er, so ziemlich das Liebste auf der Welt, er sei ihm näher als das Licht, die Luft und das Wasser.

Das Fachwerk, das Dachstuhlgebälk, die Türstöcke und Paneele, die Böden, Dielen und Stiegen, die Geländer und Balustraden, Rahmungen und Gesimse unter der Oberfläche sind bereits ausgehöhlt und jeden Augenblick, wenn der aus der Heerscharen der Käfer auserwählte mit einem letzten Schaben seines Kieferrands den letzten schon gar nicht mehr materiellen Widerstand durchbricht, wird alles in sich zusammensinken. Und so geschieht es denn auch, mit unendlicher Langsamkeit, und eine große, gelbliche Wolke steigt auf und verweht, und an der Stelle des ehemaligen Sanatoriums bleibt nichts als ein Häufchen puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl.
 
Mit dem biblischen Staub zu Staub auf der einen und dem eigenen Gefallen an eingestaubten Zimmern hat Sebald ein weites Feld möglicher Erscheinungsformen des Staubs abgesteckt. Das zerfallende Sanatorium ist mehr zur biblischen Seite hin angesiedelt, Aurachs Kunstschaffen nahe beim Dichter. Beide Stellen sind aber nicht typisch für ihren jeweiligen Teil des Feldes. Das eine ist keine Vergänglichkeitsklage, sondern eine Vernichtungsvision, und Aurachs Staub hat wenig Friedliches und ist vielmehr Ergebnis verzweifelter Raserei.

Das Staubmotiv naturgemäß nicht auf die Ausgewanderten beschränkt. In Austerlitz ist es eng verwoben mit dem Motiv der Lichtverhältnisse. Die hoch aufragenden gußeisernen Säulen sind eingeschwärzt von einer Schicht aus Koksstaub und Ruß. Eisgraues, mondscheinartiges Licht dringt durch einen unter der Deckenwölbung verlaufenden Gaden und hängt einem Netz oder einem schütteren, stellenweise zerfransten Gewebe über mir. Trotzdem diese Licht in der Höhe sehr hell war, eine Art Staubglitzern, hatte es den Anschein, als würde es von den Mauerflächen und den niedrigeren Regionen des Raumes aufgesogen.
 
In den Schwindel.Gefühlen ist gleich das erste der großen italienischen Bildwerke ein Staubbild. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld.

Das eigentliche Staubbuch aber ist das von der englischen Wallfahrt, das bereits seinen Titel dem Staubstern entliehen hat: Die Ringe des Saturn bestehen aus Eiskristallen und meteoritischen Staubteilchen, die den Planeten in dessen Äquatorialebene in kreisförmigen Bahnen umlaufen. In diesem Buch ist alles auf eine geheimnisvolle Art und Weise untereinander verbunden, und auch wenn die verschiedenen Berichte aus weit voneinander entfernt liegenden Orten und Zeiten stammen, ist ihnen allen etwas gemeinsam, und das ist der Staub. Viele der Gebilde sind auf dem Weg, zu Staub zu zerfallen. Es sei so, soll Flaubert gesagt haben, als versinke man in Sand, der Sand erobere alles, und der Staubsturm am Rand des Waldes von Rendelsham bildet einen dramatischen Höhepunkte des Buches. Staub überzieht den Fußboden des alten Herrensitzes der Ashburys in Irland, zu schwefelgelbem Staub verfallen andere Häuser, deren Bewohner fortziehen mußten, nachdem die Lebensgrundlage für einen ganzen Landstrich oder eine ganze Epoche entfallen war. Staub bedeckt den Boden der kaiserlichen Zimmer in China.

Das Motiv des Staubs ist nicht einsam. Bereits den Weg durch das staubige Bibliothekszimmer erscheint Sebald wie ein Weg durch den Schnee. Der Schnee ist zu weißem Staub gefrorenes Wasser, noch weicher, noch stiller, noch friedlicher als der gemeine Hausstaub. Wiederholt träumt Selysses den Traum einer Welt, die den Winter über samt ihren Bewohnern unter dem Schnee verschwindet und erst mit dem Frühling wieder auftaucht. Eng verwandt ist das Motiv des Staubs auch mit dem der Lichtverhältnisse, in der Dunkelheit werden die Konturen weich, im hellen Licht kommt es zu Staubglitzern. Die Exponate im Antikos Bazar stellt man sich nicht sorgfältig abgestaubt vor und sie selbst sind wenig anderes als grobkörniger Staub der Vergangenheit. Once upon a time, and his wife took me… And the room was all full of books. And there was one chair. And there was dust everywhere. And only from the door…And there was a path : Beim Geständnis seiner Liebe zum Staub verfällt Sebald mit den gereihten Satzanfängen auf And in den Ton eines Märchenerzählers, Dornröschen ist vielleicht dasjenige, an das wir denken sollten, wer hätte die schlafenden Bücher noch abstauben sollen, als der gesamte Hofstaat in Schlaf gefallen war. Aber nicht nur im Märchen, ganz generell sind es die von den meisten Erzählern bevorzugten Präterialformen des Verbs, die den Staub des Vergangenen in der Gegenwart bewahren, Schutzschicht und Spur der Zerstörung, Sediment und Erosion. Wenn sich noch über dem Staubglitzern in der Höhe Reiher große Nester gebaut haben, ihre Schwingen ausbreiten und davon fliegen durch die blaue Luft, hat sich von der Motivgruppe des Staubs ein Fenster geöffnet zu der des Fliegens, von dort ... und so weiter und so fort.

Die immer die sorgfältig aus- und zum Ende geführten, geordnet voranschreitenden und von einer wahren Ellipsenphobie geprägten Sätze stehen in scharfem Gegensatz zum einen zur erratischen Vorwärtsbewegung der Handlung und des Helden, die Sebald nach eigenem Bekunden erlernt hat en regardant la course du chien à travers les champs und, zum anderen, zu der end- und rastlos aufblühenden und sich verzweigenden, weitgehend handlungsunabhängigen Motivik, dem wie von einem leisen Wind aufgewehten und getragenen Blütenstaub der Bilder, die im Motivkomplex des Staubs sozusagen ihren Herkunftsort haben.

Freitag, 6. April 2012

Buch der Maler

Über unseren Köpfen

Wie Grillparzer findet er an nichts Gefallen, ist von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie er oft meint, viel besser bei seinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben – nicht aber, so muß ergänzt werden zuhaus bei seinen Kunstbüchern. Selysses sucht in Verona die Chiesa Sant’ Anastasia auf, um ein Fresko Pisanellos zu betrachten, in Padua die Kapelle des Enrico Scrovegni für die Fresken Giottos und, schon auf der Rückfahrt, in London die Nationalgalerie für Pisanellos Bild San Giorgio con cappella di paglia. In keinem Fall kann die Rede davon sein, daß er auch nur maßvoll enttäuscht wäre, und die Bildwerke zählen für ihn auch nicht zur Kategorie bloßer Sehenswürdigkeiten.
Das erste Bild, das Selysses in Italien sieht, sieht er nicht in einem Museum oder in einer Kirche, sondern in der Vorstellung, als er mit dem Zug durch das Friaul fährt: Tiepolos Santa Tecla libera Este della peste. Es zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Den Hintergrund bildet ein Gebirgszug mit einem qualmenden Gipfel. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld, wo sie, nach einer Zeit des Herumtaumelns, von der aus ihrem Inwendigen hervordrängenden Seuche vollends niedergestreckt wurden. In der vorderen Mitte des Bildes liegt eine pesttote Mutter, das lebende Kind noch am Arm. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Heilige Thekla, bitt für uns, auf daß wir von aller ansteckenden Sucht und unversehenem Tod sicher erlediget und von allem Anlauf des Verderbens barmherzig erlöset werden. Amen.
Selysses macht dann aber in Venedig keine Anstalten, Fresken Tiepolos in Augenschein zu nehmen, überhaupt ist nicht recht klar, warum er nach Venedig fährt, das er dann möglichst schnell wieder verläßt. Er denkt immerhin noch an das Deckengemälde in der Chiesa Santa Maria della Visitazione, an das Tiepolo, wie er notiert, unmittelbar nach der Inhaftierung Casanovas letzte Hand angelegt hat. Tiepolo kommt ihm ein weiteres Mal in den Sinn, als er Jahre später auf dem Sebaldweg von Oberjoch nach Wertach wandert, samt der von ihm seit langem gehegte Vorstellung, daß Tiepolo, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, sich in Zirl entschlossen hat, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen. Und er sah den Tiepolo, der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritzten Gesicht und trotz de Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. Selysses nimmt dann aber auf der Rückfahrt nicht den Weg über Würzburg. In den Ausgewanderten wird nachträglich der Maler Aurach als Emissär in die fränkische Metropole entsandt: Später standen wir noch im Treppenhaus der Residenz, und ich starrte an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für mich zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes von Tiepolo empor, wo unter einem bis in die höchsten Höhen sich aufwölbenden Himmel die Tiere und Menschen der vier Weltgegenden in einem phantastischen Leibergetümmel versammelt sind. Seltsamerweise sei der in Würzburg verbrachte Nachmittag ihm vor wenigen Monaten erst wieder in den Sinn gekommen, als er beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbands über das Werk Tiepolos lange sich nicht habe losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Freskomalerei, von den darin dargestellten hellen und dunklen Schönheiten, von dem knienden Mohr mit dem Sonnenschirm und der wunderbaren Amazonenheldin mit dem Federputz auf dem Kopf. Einen ganzen Abend bin ich über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie hineinzusehen.
Wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht: an diesen Gedanken schließ Selysses Jahre später an bei der Betrachtung eines Freskos Giottos. Ob der Besuch von langer Hand geplant war, wird nicht deutlich, es sind unstete Wege, die Selysses traumwandelnd zum verborgenen Ziel führen. Ich weiß nicht, was mich den Entschluß fassen ließ, nicht in Venedig zu bleiben, sondern unverzüglich nach Padua weiterzufahren und dort die Kapelle des Enrico Scrovegni aufzusuchen, von der ich bislang bloß eine Beschreibung kannte, in der die Rede ist von der unverminderten Kraft der Farben der Fresken des Malers Giotto und von der immer noch neuartigen Bestimmtheit, die über jedem Schritt, jedem Gesichtszug der in ihnen gebannten Figuren waltet. Wie ich dann, hereingetreten aus der Hitze, die an diesem Tag in den frühen Morgenstunden schon über der Stadt lastete, tatsächlich im Inneren der Kapelle vor den vom Gesims bis zum Bodensaum in vier Reihen sich hinziehenden Wandbildern stand, erstaunte mich am meisten die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können?

Den eigentlichen Bildgegenstand, Il Compianto sul Cristo morto, nimmt Selysses kaum war, sondern konzentriert sich allein auf das, was sich über den Köpfen vollzieht. Das Geschehen am Himmel ist von ganz anderer Art als bei Tiepolos Theklagemälde. Gewaltig zieht dort Gottvater mit seinem Gefolge dahin, in gefährlicher Bodennähe überdies, und selbst vom Absturz und Einschlag des besiegten Pestgeistes muß man noch schlimme Kollateralschäden unter den Erdenbewohnern befürchten. Bei Giottos Fresko herrscht eine ganz andere Situation. Gottvater hat sich in die Weiten des Himmelsgewölbes zurückgezogen und die Geschäfte an seinen Sohn abgetreten, der allerdings, so mußte es zunächst scheinen, schon kurz darauf scheitert. Was über die Köpfen dahinzieht, ist leichte geflügelte Himmelskavallerie, die sich auf die Weh- und Weltklage beschränken muß. Warum die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren das Wunderbarste sind, was wir uns jemals haben ausdenken können, muß jeder selbst sehen oder auch nicht, Selysses ist kein belehrender Kunsthistoriker.

Die Betrachtung der Bilder Pisanellos scheint von langer Hand geplant. Die nächstfolgenden Tage beschäftigte ich mich so gut wie ausschließlich mit meinen Nachforschungen über Pisanello, deretwegen ich mich entschlossen hatte, nach Verona zu fahren. Der Leser muß sich trotzdem fragen, was geschehen wäre, hätte Selysses sich noch vor dem Besuch der Chiesa Sant' Anastasia mit der fatalen, die sofortige Flucht bewirkenden Pizza in der Pizzeria Verona gestärkt. Die die Bildbetrachtungen leitende Zufallsabhängigkeit scheint auch hier nicht ganz ausgeschlossen.
Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Es war diese, seit langem schon gehegte Zuneigung zu dem Maler Pisanello, die mich wieder in die Chiesa Sant' Anastasia führte, dort das Fresco anzusehen, das er über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat. Kaum ein Strahl Tageslicht durchdringt das Seitenschiff der Sant' Anastasia. Selbst mitten am hellsten Nachmittag herrscht hier die tiefste Dämmerung. Nur schattenhaft ist darum das Bildwerk Pisanellos über dem Torbogen der vormaligen Kapelle zu erkennen. Durch das Einwerfen von Tausend-Lire-Münzen in einen Blechkasten kann es aber illuminiert werden auf eine gewisse, manchmal sehr lang und manchmal sehr kurz erscheinende Zeit. Dann ist deutlich zu sehen der heilige Georg, wie er im Begriff steht, gegen den Drachen auszuziehen, und Abschied nimmt von der Principessa. Von der linken Hälfte des Gemäldes ist einzig das etwas verwaschene Untier erhalten mit zwei noch flügellosen Jungen aus seiner Brut. Einiges an Knochen und Gebein, Überreste der zur Befriedigung des Drachens geopferten Tiere und Menschen, liegen verstreut umher. Die Leere, in die das Fragment ausufert, läßt aber nach wie vor das Entsetzen erahnen, das die Bewohner der palästinensischen Stadt Lydda der Legende nach damals erfüllt hat. Eine eher nördlich anmutende Gegend erhebt sich, wie man der Art der Darstellung entsprechend sagen muß, in den blauen Himmel. Auf einem Meeresarm weist ein Schiff mit geschwellten Segeln als einziges Objekt der Komposition in die Ferne. Sonst ist alles Gegenwart und diesseitig, das wellige Land, die gepflügten Felder, die Hecken und Hügel, die Stadt mit ihren Dächern, Türmen und Zinnen und der Galgen, dessen baumelnde Gehenkte — ein beliebter Kunstgriff jener Zeit — der Szene eine eigene Lebendigkeit verleihen. Gebüsch, Gesträuch und Blattwerk sind auf das sorgfältigste gemalt und mit Liebe auch die Tiere, denen Pisanellos größte Aufmerksamkeit immer gegolten hat: der landeinwärts fliegende Storch, die Hunde, der Schafbock und die Pferde der sieben Berittenen, unter denen sich ein kalmückischer Bogenschütze befindet mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht. In der Mitte des Bildes die Principessa in einem Federkleid und San Giorgio, von dessen Rüstung das Silber abgeblättert ist, den aber der Glanz seines rotgoldenen Haupthaars noch umgibt. Zum Erstaunen ist es, wie es Pisanello verstanden hat, den jäh heraustretenden, seitwärts schon auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges.

Die Betrachtungsweise ist bei dem Pisanellobild weitaus systematischer als bei Tiepolos Thekla oder gar bei Giottos Beweinung. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen, in denen sich nicht zuletzt der eigene Kunstwille spiegelt, wird das Bild einer genauen Beschreibung unterzogen, die Stadt, das Gebüsch, die Tiere und die Menschen, Gehenkte und Lebende, bis hin zu einer Einzelheit, die kaum jemandem zuvor aufgefallen war, nämlich die durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges. Und doch fehlt ein Wichtiges in der Beschreibung, unerwähnt bleibt das, was fehlt, der Himmel nämlich über der Stadt und dem Land. Er ist radikal weggeschnitten, sogar die obersten Zinnen und Türmchen wurden dabei versehrt. Kein göttlicher Wille waltet sichtbar über dem Land, keine Engelsklage ist zu vernehmen, alle Aufmerksamkeit und Hoffung ist auf das menschliche Tun gerichtet, auf den Ritter und Namenspatron Georg und vielleicht auch darauf, daß das Unglück selbst der Heiligen, ihr Geschlecht, daß die furchtbare Separation der Geschlechter ihren Schrecken verliert.
Die Fortsetzung der Geschichte vom Drachentöter betrachtet Selysses, schon auf der Heimfahrt, auf einem weiteren, in der Londoner Nationalgalerie aufgehängten Bild Pisanellos. Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der hl. Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappella di paglia - sehr verwunderlich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken.

Der Himmel ist zurück, in der oberen Region gibt es aber Anlaß weder zum Eingreifen in das Erdengeschehen noch zur Klage. Unterhalb der Madonna herrscht eine Szenerie der Ausgewogenheit, links, eher dunkel aber nicht verstoßen, die Vergangenheit, rechts, im Licht, die Gegenwart in Gestalt des Ritters von der herzbewegenden Weltlichkeit, ohne den geringsten Schatten der Sündhaftigkeit, black and white in perfect harmony. Die weibliche Besetzung des Himmelsraums läßt womöglich zusätzlich Gutes erhoffen.

In vertiefter Weise beschäftigt sich Selysses auf seinen Alpenreisen, abgesehen vom Schaffen des Allgäuer Kunstmalers Hengge, der in einen anderen Kontext gehört, nur mit Bildwerken religiösen Inhalts, die auf die eine oder andere Weise dem nachgehen, was über unseren Köpfen geschieht. Tiepolos Deckengemälde, für die vor allem der venezianische Maler berühmt ist und auf denen sozusagen unterschiedslos alles über unsere Köpfe gerückt ist, würden sich in diesem Zusammenhang schwer deuten lassen, so das vielleicht aus diesem Grunde ihre nähere Besprechung ausbleibt. Sebald hat im Gespräch immer wieder seine areligiöse Ader betont, gleichzeitig aber die Überzeugung, daß der Mensch keineswegs Herr seiner Lage ist, die Dinge sich über seinen Kopf hinweg entwickeln. Die alte Einsicht, wonach der Mensch denkt, Gott aber lenkt, que l’homme suppose et Dieu dispose, ist vom Tod Gottes nur insofern betroffen, als der Lenker und Disponent jetzt keinen Namen mehr hat. Nicht wenige glauben gar, Jehova, dessen Name ohnehin nicht genannt werden durfte, habe sich umbenannt in Sistemos und den Menschen bei dieser Gelegenheit die besondere Gunst entzogen. Der heilige Namenspatron Georg, der sich schon zu Beginn des Elementargedichtes Nach der Natur bereit gemacht hat, über die Schwelle des mittelalterlichen Rahmens zu treten, markiert bei Pisanello con cappella di paglia einen mythischen Augenblick des Ausgleichs von menschlichem Können und Einsicht in seine Begrenztheit. Einen weiteren realen Augenblick kann man vielleicht für das neunzehnte Jahrhundert annehmen, als alles noch hätte anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Menschlicher Größenwahn hat das inzwischen weggefegt, das Ende der Welt ist nicht mehr fern und auf das Jahr 2013 festgelegt.
*Zu den Bilddetails siehe Christian Wirth



Mittwoch, 4. April 2012

Wertach (W.)

Einwohnerverzeichnis

Früher war umfänglichen Romanen mit starkem Personalaufkommen gern eine Auflistung der Handelnden beigegeben, von den Lesern durchaus begrüßt, zumal dann, wenn sie sich mit ungewohnten ausländischen Namen konfrontiert sahen. Bei Kriminalromanen ergab sich zusätzlich der Vorteil, daß die bereits Ermordeten von der Liste der möglichen Mörder buchstäblich gestrichen werden konnten. Dabei mußten allerdings die Augen für ein mögliches besonders trügerisches Verhalten doch ein wenig offen bleiben, allzu oft sind grauenhafte Taten aus einem vermeintlichen Grab heraus verübt worden. Noch für die umfänglichsten Bücher Tolstois aber - um ihn zu nennen und zugleich den Nebenweg der Kriminalgeschichte wieder zuverlassen - war eine derartige Gedächtnisstütze allerdings mehr als unnötig, da hier alle, die Komparsen nicht weniger als die Hauptdarsteller, ungeachtet ihrer fremdländischen Benennung mit dem Merkmal der Unvergeßlichkeit auftreten. Unvergeßlich sind auch die überdies kaum in Handlungsstränge und Intrigen verstrickten Bewohner der Ortschaft W. in Sebalds Büchern. Wenn sie in der Folge gleichwohl aufgelistet werden, so nicht zur Entlastung der Erinnerungskraft, sondern weil es schön ist, sie auf engem Raum beieinander zu haben, so als seien sie zusammengetreten zu einer Gemeindeversammlung.
Bauern
Die Bauern treten mit Ausnahme von Romanas Vater (siehe dort) und dem im Zusammenhang mit dem toten Kind der Seelos Lena (siehe dort) kurz erwähnten Bauern Erd nicht individuell, sondern als Gruppe auf. Im Engelwirt, heute eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit, seinerzeit aber ein übel beleumundeten Wirtshaus, hockten sie bis tief in die Nacht hinein und tranken, vor allem im Winter, oft bis zur Besinnungslosigkeit. Die Bauern saßen wie auch die Holzknechte fast immer gruppenweise beieinander am oberen beziehungsweise unteren Ende der Gaststube. Auch jetzt hocken sie, die meisten wie früher mit dem Hut auf dem Kopf, unter dem riesigen Holzhauerbild mit einer vielleicht etwas erhöhten Bereitschaft zur Mäßigung.

Ebentheuer Eustach
Eustach ist der Sohn, das jüngste Kind des Uhrmachers Ebentheuer (siehe dort), er hat einen Wasserkopf, sitzt auf einem hohen Stühlchen und schwankt sachte hin und her.

Ebentheuer, Uhrmacher
Die Türschelle schepperte und gleich darauf standen wir in dem kleinen Uhrenladen des Uhrmachers Ebentheuer, in dem eine Unzahl von Standuhren, Regulatoren, Wohnzimmer- und Küchenuhren, Weckern, Taschen- und Armbanduhren durcheinandertickten, gerade so als könne ein Uhrwerk allein nicht genug Zeit zerstören. Währen der Großvater (siehe dort), der seine Sackuhr in Reparatur gegeben hatte, sich mit dem Ebentheuer, der wie immer die Lupe ins linke Auge geklemmt hatte, über das unterhielt, was seiner Sackuhr gefehlt hatte, schaute ich über den Ladentisch hinweg in das dunkle Wohnzimmer hinein.
Ekrem, Türke
Ein nur vorübergehender Bewohner der Ortschaft, dem man seltsamerweise das Bureau des verstorbenen Baptist Seelos (siehe dort) vermietet hatte. Zirka fünfundzwanzigjährig hat er in der Küche große Mengen türkischen Honig hergestellt und dann auf den Jahrmärkten verkaufte. Der Seelos Maria (siehe dort) hat er das Mokkasieden beigebracht, und die Seelos Lena (siehe dort) ist eines Tages mit einem Kind von ihm niedergekommen, das aber zum Glück bloß eine Woche gelebt hat. Der Ekrem ist bald darauf, wenn nicht zuvor schon, aus W. verschwunden und hat in München einen Südfrüchtehandel angefangen.

Engelwirtin
Die aktuelle Engelwirtin ist die einzige allein in der aktuellen Erzählzeit angesiedelte Dorfbewohnerin. Hinter der Rezeption im Engelwirt war die sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Nirgends hatte man eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie den, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Er verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, seinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber.
 
Georg, Heiliger
Der Heilige ist schon seit Generationen Bewohner der Ortschaft. Am Ende der hohen Friedhofsmauer durchbohrt er Tag für Tag und Jahr für Jahr ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen.
 
Hengge, Maler
Der Maler Hengge ist zwar kein Bewohner des Ortes, aber durch seine Bildwerken allgegenwärtig in W. Zur Gemeindeversammlung ist er trotz unüberhörbarer Anfeindungen von Seiten des Selysses herzlich eingeladen. In den 30er Jahren war er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes gestanden und bis nach München hinaus bekannt gewesen. Überall in W. und in der weiteren Umgebung konnte man an den Hauswänden seine stets in braunen Farben gehaltenen Wandmalereien sehen, die von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, nur dann abgewichen, wenn ihm ein besonderer Gegenstand ausdrücklich vorgegeben war. Der Maler Hengge war sehr wohl imstand, sein Repertoire auszuweiten. Doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt.

Köpf, Bader
Wie den Schmied (siehe dort) bekommen wir auch den Bader Köpf nicht zu Gesicht. Der Rasiersessel stand leer. Das Rasiermesser lag, aufgeklappt, auf der marmorierten Platte des Waschtischs. Vor nichts fürchtete ich mich mehr, als wenn der Köpf, bei dem ich mir jeden Monat einmal die Haare schneiden lassen mußte, mir mit diesem an dem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Hals ausrasierte. Derart tief hat diese Furcht in mich sich eingegraben, daß mir, als ich viele Jahre später zum ersten Mal eine Darstellung der Szene sah, in welcher Salome das abgeschnittene Haupt des Johannes hineinträgt, sogleich der Köpf in Erinnerung gekommen ist.

Mayr, Bäcker
Nichts ist ihm in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte mich alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Aus Weißbrotteig waren diese Seelenwecken gebacken und so klein, daß man sie leicht in einer geschlossenen Hand verbergen konnte. Jeweils vier davon kamen auf eine Reihe.

 
Melchior
Am unteren Ende der Gasse tauchte ein Fahrzeug auf, wie er zuvor noch nie eins gesehen hatte. Es war eine allseits weit ausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach. Unendlich langsam und völlig geräuschlos glitt sie heran, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der ihm, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Da unter unseren Krippenfiguren einer der drei Weisen aus dem Morgenland und zwar derjenige mit dem schwarzen Gesicht, einen lila Mantel mit hellgrünen Besatz trug, stand es für ihn außer Zweifel, daß der Fahrer des Automobils in Wahrheit der König Melchior gewesen ist. Zunächst ist man sich sicher, daß der Neger nicht zur ständigen Bewohnerschaft der katholischen Ortschaft zu zählen ist, wird aber nach seiner Identifizierung als Melchior schwankend im Urteil. Zur Gemeindeversammlung ist er in jedem Fall herzlich eingeladen.

Piazolo Dr.
Den sicher schon auf die Siebzig zugehenden Dr. Piazolo sah man zu jeder Tages- und Abendstunde im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Am Fuhrwerk, das den toten Jäger Schlag (siehe dort) in den Ort transportierte, zog Dr. Piazolo die schwarzen Motorradhandschuhe aus und betastete den sowohl von der Kälte als auch durch das längst erfolgte Eintreten der Leichenstarre unbeweglich gemachten Körper mit einer für ihn ungewöhnlichen Scheu an verschiedenen Stellen. Nur wenige Tage später diagnostiziert er bei dem mit einer schweren Krankheit niederliegenden Selysses Diphtheritis.

Rambousek Dr.
Bis zum Ende der vierziger Jahre praktizierte im Haus Alpenrose der Dr. Rambousek. Dr. Rambousek war nicht lange nach Kriegsende aus einer mährischen Stadt nach W. gekommen. Daß dieser kleine, korpulente, stets auf eine großstädtische Weise gekleidete Mann in W. nicht Fuß zu fassen vermochte, war nicht verwunderlich. Seine verhangenen, fremdländisch wirkenden und wohl am besten mit dem Wort levantinisch zu bezeichnenden Gesichtszüge, die allzeit über seine großen dunklen Augen zur Hälfte gesenkten Lider, und sein ganzer irgendwie angewandter Habitus ließen weinig Zweifel daran, daß er zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden mußte. Während der in W. verbrachten Jahre hat er keinem einzigen Menschen sich anschließen können. Es hieß von ihm, daß er leutscheu sei, und man hat ihn kaum jemals auf der Gasse gesehen.

Rambousek, Frau und Töchter
Mit ihrem Mann den beiden halbwüchsigen Töchtern Felicia und Amalia ist die blasse Frau des Dr. Rambousek (siehe dort) aus der mährischen Stadt Nikolsburg nach W. gekommen, was für sie wahrscheinlich eine Verbannung an das Ende der Welt gewesen ist. Dr. Rambousek wurde eines Abends von seiner Frau, die mit ihren Töchtern dann bald aus W. weggezogen ist, leblos und kalt im Ordinationszimmer aufgefunden.

Romana
Die Romana war die ältere von zwei Töchtern einer Häuslerfamilie. Sie half im Engelwirt aus und am Abend, bevor noch die Gäste kamen, war sie mit dem Abwischen der Tische und Bänke, mit dem Kehren des Bodens oder dem Trocknen der Gläser beschäftigt. Einmal aber sah man durch die offene des Holzschopfs einen Schemen. Es war der Jäger Schlag (siehe dort), der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten.
 
Romanas Familie
Die Häuslerfamilie hatte im Bärenwinkel ein, verglichen mit den anderen Höfen, spielzeugartiges Anwesen, das auf einem Hügel lag und an die biblische Arche erinnerte, weil es von jeder Art zwei zu geben schien – außer dem Elterpaar und den beiden Schwestern, der Romana und der Lisabeth, gab es eine Kuh und einen Ochsen, zwei Schweine, zwei Gänse und so weiter. Das kleine Haus mit seinem geschindelten Walmdach sah einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleich. Und jedesmal, wenn jemand vorbeikam, schaute gerade der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fenster heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen.
 
Rauch, Lehrerin
In der Schule hat das Fräulein Rauch, das ihm nicht weniger bedeutete als die Romana, die Unglückschronik von W. mit ihrer gleichmäßigen Schrift an die Tafel geschrieben und darunter mit farbiger Kreide ein brennendes Haus gemalt. Sie ging in ihrem enganliegenden grünen Rock durch die Reihen. Wenn sie in seine Nähe kam, spürte er bis in den Hals hinauf sein Herz. Im nächsten Frühjahr wurde er nach meiner langen Krankheit dem Fräulein Rauch zwei Stunden täglich in die Obhut gegeben. Mit Hingabe füllte er seine Hefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welche er das Fräulein Rauch auf immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war ihm damals, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Sallaba, Pächter im Engelwirt
Im oberen Stock des Engelwirts hatte der einbeinige Pächter Sallaba seine Wohnung Er besaß eine große Anzahl eleganter Anzüge und Krawatten mit Einstecknadeln. Es war aber weniger seine für W. wirklich außergewöhnliche Garderobe als seine Einbeinigkeit und die erstaunliche Geschwindigkeit und Virtuosität, mit der er sich auf seinen Krücken fortbewegte, die ihm den Anstrich des Weltmännischen gab. In derselben Nacht, als das Schankmädchen Romana und der Jäger Schlag im Holzschopf zueinander fanden, hat der einbeinige Engelwirt Sallaba die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört. Überall auf dem Boden lag knöcheltief zerbrochenes Glas. Es war ein einziges Bild er Verheerung. Draußen auf dem Gang sah es nicht viel besser aus.

Sallabas Frau
Eine sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich verabscheuende Frau. Völlig außer sich und geradezu vernichtet von der Zerstörungswut ihres einbeinigen Ehemanns (siehe dort) sitzt Frau Sallaba auf der Kellerstiege und weint sich die Augen aus.
 
Schlag Hans, Jäger
Hans Schlag war aus dem Schwarzwald kommend in den bayerischen Forstdienst übernommen worden. Er war ein stattlicher Mann mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden überschatteten Augen. Stundenlang, oft tief bis in die Nacht, saß er bei seinem Glas, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Einmal aber sah man durch die offene des Holzschopfs einen Schemen. Es war der Jäger Schlag, der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana (siehe dort) hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Kurze Zeit später wurde aus dem Jungholz die Nachricht gebracht, daß man den Jäger Hans Schlag eine gute Stunde außerhalb seines Reviers, auf der Tiroler Seite, auf dem Grund eines Tobels liegen gefunden habe. Das graugrüne Habit war kaum derangiert oder sonst in Mitleidenschaft gezogen. Ohne weiteres hätte man glauben können, der Schlag sei bloß eingeschlafen, wäre nicht die entsetzliche Blässe seines Gesichts gewesen und das vom Frost durchwachsene, steif und festgefrorene Haar. Aus dem Autopsie bericht ging hervor, daß auf dem linken Oberarm des Toten eine kleine Barke eintätowiert war.
 
Schmied
Den Schmied, der ein fester und solider Bewohner des Ortes ist, bekommen wir gleichwohl nicht zu sehen. Aus der Schmiede roch es nach verbranntem Horn. Das Essenfeuer war ganz in sich zusammengesunken, und das Werkzeug, die schweren Hämmer, Zangen und Raspeln lagen und lehnten herrenlos überall herum. Nirgends rührte sich etwas. Das Wasser im Bottich, in den der Schmied sonst jeden Augenblick mit dem glühenden Eisen, daß es zischte, hineinfuhr, war so still und glänzte von dem schwachen Widerschein, der vom offenen Tor auf seine Oberfläche fiel, so tiefschwarzdunkel, als hätte noch nie jemand es angerührt und als sei ihm bestimmt, in solcher Unversehrtheit bewahrt zu bleiben.

Schwarz Valerie
Die Modistin Valerie Schwarz wohnt im Posthalterhaus, stammt, anders als der Dr. Rambousek, nicht aus dem Mährischen, sondern aus dem Böhmischen und besitzt trotz ihrer geringen Körpergröße eine Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat. Sie preist die Heilkunst des Dr. Rambousek in den höchsten Tönen und verbreitet nach seinem Tod die Kunde oder auch das Gerücht, er sei Morphinist gewesen.

Seelos Babett
Babett ist die Schwester des Baptist, der Bina und der Mathild (siehe jeweils dort). Mit der Bina führt sie das Café Alpenrose, in das nie jemand hineingegangen ist. Während die Bina, mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend, in einer Tour im Haus und im Vorgarten herumlief, saß die Babett den ganzen Tag in der Küche und faltete Geschirrtücher zusammen, um sie gleich wieder auseinanderzutun und von neuem zusammenzulegen.

Seelos Baptist
Er ist der Abraham der Seelossippe, deren Angehörige eigentlich auf den Namen Ambroser hört, von allen aber immer nur mit dem Namen des von ihnen bewohnten Seeloshauses, auf der gegenüberliegenden Seite des Engelwirts, gerufen werden. Baumeister von Beruf, hatte er vor dem Krieg achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet. Fast sämtliche größeren Bauten in W. und der Umgebung waren am Reißbrett des Baumeisters Ambroser entworfen und unter seiner Aufsicht ausgeführt worden. Gestorben war er am Maifeiertag des 33er Jahres an einem Gehirnschlag. Man hatte ihn in seinem Bureau über dem Lichtpausapparat zusammengesunken gefunden, den Bleistift hinterm Ohr und den Zirkel noch in der Hand.

Seelos Benedikt
Gegen Ausgang des Krieges hatte man den Seelos Benedikt, der immer ein furchtsames Kind gewesen ist, auf die Unteroffiziersschule nach Rastatt geschickt. Den Benedikt, sagte Lukas (siehe dort) und wollte näheres dazu nicht verlauten lassen, hat das Unglück aufgefressen. Wir wissen somit wenig über ihn, halten es aber für unwahrscheinlich, daß er derselbe Benedikt ist, den man am Mittag oft sehen konnte, wie er in einem Gummischurz in der Metzgerei die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch.

Seelos Bina
Bina ist die Schwester des Baptist, der Babett und der Mathild (siehe jeweils dort). Mit der Babett führt sie das Café Alpenrose, in das nie jemand hineingegangen ist. Während die Bina, mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend, in einer Tour im Haus und im Vorgarten herumlief, saß die Babett den ganzen Tag in der Küche und faltete Geschirrtücher zusammen, um sie gleich wieder auseinanderzutun und von neuem zusammenzulegen.

Seelos Maria
Die Seelos Maria war eine schwere langsame Frau, die seit dem Tode ihres Mannes Baptist (siehe dort), der einige Jahre schon zurücklag, Schwarz trug und ihre Tage beim Kaffeesieden verbrachte, das sie auf türkische Art vornahm. Vielleicht hatte sie es vom Baptist gelernt, der vor dem Krieg achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet hatte. Möglicherweise ist es aber auch der Ekrem (siehe dort) gewesen, der der Seelos Maria das Mokkasieden beigebracht und der auf seinen Wegen den schwarzen Kaffee aufgetrieben hat, über den die Maria auch in der nötigsten Zeit stets verfügte.
 
Seelos Lena
Die Seelos Lena ist eines Tages mit einem Kind des Ekrem (siehe dort) niedergekommen, das aber zum Glück nur eine Woche gelebt hat. Der winzige weiße Kindersarg wurde auf dem großen schwarzen Leichenwagen von dem Rappen des Bauers Erd auf den Friedhof hinaufgezogen wurde und beim Begräbnis ist das Regenwasser heruntergeronnen von dem Lehmhaufen neben der kleinen Grube. Die Lena ist bald darauf nach Kalifornien ausgewandert, wo sie einen Telefoningenieur geheiratet hat, mit dem sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Über den Unfall hat man nie viel in Erfahrung bringen können.

Seelos Lukas
Jetzt lebte von den Seelos allein noch der Lukas in W. Das Seeloshaus war aufgegeben worden, und der Lukas bewohnte das kleine Nachbarhaus, in dem früher die Babett, die Bina und die Mathild (siehe alle dort) gewirtschaftet hatten. Der Lukas war, nachdem er bis in sein fünfzigstes Jahr in einer Bauspenglerei gearbeitet hatte, aufgrund einer allmählich ihn verkrüppelnden Arthritis vorzeitig in den sogenannten Ruhestand getreten und verbrachte nun die Tage daheim auf dem Sofa. Während er nun den ganzen Tag auf dem Sofa lag oder höchstens mit nutzlosen kleinen Arbeiten im Haus herum verbrachte, war es ihm geradezu unbegreiflich geworden, daß er einmal ein guter Torwart gewesen war und daß er, der immer öfter von schweren Depressionen geplagt wurde, im Dorf seinerzeit den Hanswursten gemacht hatte, ja daß er jahrelang in der Fasnacht das Ehrenamt des Fasnachtskaspers innegehabt hatte.

Seelos, Frau des Lukas
Die Frau des Lukas (siehe dort) hat weiterhin das Schreibwarengeschäft des alten Specht (siehe dort) geführt.
Seelos Mathild
In der Regel hat der Großvater (siehe dort) einmal in der Woche der Mathild einen Besuch abgestattet, um mit ihr Karten zu spielen und lange Gespräche zu führen. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber bald unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist, wo man sie fortan heimlich eine rote Betschwester geheißen hat. Die Mathild ihrerseits hat sich, nach dem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Sie ist einen schönen Tod im eigenen Bett mitten in der Nacht. Genau so, wie sie sich jeden Abend hingelegt hat, hat die Frau des Lukas (siehe dort) sie gefunden am nächsten Morgen.

Seelos Peter
Der Peter, der Wagner gewesen war, hatte im rückwärtigen Teil des Seeloshauses seine Werkstatt gehabt. In der Zeit nach dem Krieg, als er an die Sechzig gewesen sein dürfte, ist er meist im unteren Dorf herumgegangen und hat den Leuten bei der Arbeit zugeschaut. Er vernachlässigte die Wagnerei mehr und mehr, nahm Aufträge zwar noch an, führte sie aber nur zur Hälfte oder gar nicht aus und verlegte sich darauf, komplizierte pseudoarchitektonische Pläne zu machen, wie beispielsweise den eines über die Ach gebauten Wasserhauses. Er ist dann ins Spital nach Pfronten eingeliefert worden, hat sich aber im Spital nicht halten lassen, sondern ist in der ersten Nacht auf und davon. Man ist bis heute nicht auf die geringste Spur gestoßen von ihm.

Selysses

Selysses’ Eltern
Beim Vater ist der Kunstsinn nicht in befriedigender Weise entwickelt. Im Aufsatz des Schranks hatten eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz gefunden, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. Am Sonntag hörte der Vater frühmorgens schon die Rottachtaler oder andere eingeborene Musikanten mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen, denn er, der nur zum Wochenende zu Hause war, hatte eine besondere Vorliebe für diese altbayerische Volksmusik. Über die diesbezüglichen oder sonstigen Neigungen der Mutter ist nichts bekannt. Sie preist in den höchsten Tönen die ärztliche Kunst des Dr. Rambousek (siehe dort) und läßt sich später von der Valerie Schwarz (siehe dort) flüsternder Weise im Gespräch berichten, der inzwischen verstorbene Dr. Rambousek. Ansonsten ist das Elternpaar im Mobiliar der Wohnung so gut wie verschwunden. Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden; aus einer Kredenz, auf welcher eine irdene Bowle und zwei kristallene Blumenvasen auf gestickten Deckchen symmetrisch angeordnet waren; aus dem ausziehbaren Eßtisch mit den sechs Sesseln, aus einer Couch mit einem Sortiment handgearbeiteter Kissen; und aus zwei kleinen Alpenlandschaften in schwarzlackierten Rahmen, die versetzt an der Wand hingen.
Selysses’ Großvater
Beim Herauskommen aus einer Haustür ist der Großvater zuerst stehengeblieben, um nach dem Wetter zu schauen. Den kleinen Selysses hat er nach Möglichkeit überallhin mitgenommen. In der Regel einmal in der Woche ging der Großvater in die Alpenrose hinüber, um der Mathild (siehe dort) einen Besuch abzustatten. Diese wöchentlichen Besuche bestanden darin, daß die beiden ein paar Kartenspiele miteinander machten und ausgedehnte Gespräche führten, zu denen es ihnen an Stoff offenbar nie mangelte. Der Großvater behielt nach einer alten Gewohnheit zum Kartenspielen immer den Hut auf. Zuhaus war es seine tägliche Gewohnheit, den für ihn auf dem Herdschiffchen eigens warm gehaltenen, von ihm aber verabscheuten Milchkaffee nach und nach, wenn die Mutter gerade nicht hersah, in den Ausguß zu schütten. Als Selysses mit Diphtheritis daniederlag, hat ihm der Großvater lauwarmes Wasser in den Mund getropft, das über die offenen Brandflächen im Inneren des Halses langsam hinunterrann. Als der Großvater dann Jahre später während des ersten Föhnsturms nach dem sibirischen Winter sechsundfünfzig im Sterben lag, hat Selysses die ihm in zunehmendem Maße verhaßte Zither zum ersten und letzten Mal freiwillig aus ihrem Kasten genommen und dem Großvater, der halb schon hinübergedämmert war ein paar Sachen vorgespielt, zuletzt einen langsamen Ländler in C-Dur.
Specht, Buchdrucker
Als die Frau des Lukas Seelos (siehe dort) das Schreibwarengeschäft des alten Specht führt, ist dieser wohl schon nicht mehr unter den Lebenden, wir wissen es aber nicht mit Sicherheit. Seinerzeit hat der Buchdrucker Specht in der Fasnacht immer noch den Christbaum im Laden gehabt und oft sogar bis auf Ostern, und es sei vorgekommen, daß man den Specht hätte drängen müssen, den Baum wenigstens rechtzeitig zur Fronleichnamsprozession aus dem Fenster zu tun. Der Specht, der seit den zwanziger Jahren alle vierzehn Tage das vierseitige Botenblatt, geschrieben, redigiert, gesetzt und gedruckt hat, ist ein äußerst in sich gekehrter Mensch gewesen. Er trug jahraus, jahrein einen grauen Kattunmantel, der bis nahezu an den Boden reichte, und hatte eine runde Stahlbrille auf. Am Abend sah man ihn im Schein der Lampe am Küchentisch sitzen und die Artikel und Berichte schreiben, die in den Landboten aufgenommen werden sollten.
Unsinn Frau, Ladenbesitzerin
Frau Unsinn führt ein Konsumgeschäft, in dem sie eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet hat, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Gegenüber dem Goldglanz der Sanellawürfel erschein alles, was sonst im Laden der Frau Unsinn zu sehen war, das Mehl in der Truhe, die Bratheringe in der großen Blechdose, die eingeweckten Gurken, der einem Eisberg gleichende riesige Kunsthonigblock, die blaugemusterten Pakete Zichorienkaffee und der in ein feuchtes Tuch eingeschlagne Emmentaler, in einem traurigen Zustand der Verdämmerung begriffen. Die Sanellapyramide ragte hinein in die Zukunft und im Geiste baute man sie höher und höher, so hoch, daß sie schon bis in den Himmel hinauf reichte.

Waldmann, Dackel
Der Dackel oder Dachshund Waldmann ist Eigentum des Jägers Hans Schlag, an dessen Rucksack er stets festgebunden ist Auch als es im Holzschopf zu erotischen Tätlichkeiten zwischen der Romana und seinem Herrn kommt, hat er wie immer angebunden an den Rucksack still neben diesem an der Erde gestanden und herübergeschaut. Vor dem Überqueren der Riese aber, das dem Schlag zum Verhängnis geworden ist, hatte er den Dachshund in den Rucksack gesteckt und dieser ist im Sturz irgendwie abgestreift worden. Der arme Waldmann hat dann vom Frost stocksteif gefroren zu Füßen seines toten Herrn gelegen, war aber noch lebendig gewesen.

Wurmser, Pfarrer
Der Dr. Piazolo (siehe dort) hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll.
Zobel, alter Engelwirt
Die mehrere hundert Stück umfassende Ansichtskartensammlung ist von dem alten Engelwirt angelegt worden, der vor seiner Heirat mit der Rosina (siehe dort) den Großteil seines beträchtlichen Erbes in der Weltgeschichte verfahren hatte und jetzt seit Jahren bettlägrig war. Es hieß, er habe in der Hüfte eine große Wunde, die nicht verheilen wolle. Er habe in der Jugend eine Zigarre, die er verbotenerweise geraucht hatte, vor seinem Vater verbergen wollen und in den Hosensack gesteckt. Die Brandwunde, die er sich dabei zugezogen hatte, sei zwar bald besser geworden, sie sei aber später, als der Engelwirt gegen fünfzig ging, immer wieder aufgegangen und schließe sich nun überhaupt nicht mehr, ja, sie würde größer von Jahr zu Jahr, und es könne wohl sein, daß er bald am Brand sterben müsse. Den Engelwirt habe man nie zu Gesicht bekommen, und die Engelwirtin, die ohnehin kaum etwas sagte, hat ihn auch nie erwähnt.

Zobel Johannes und Magdalena
Die Kinde der Engelwirtsleute, Johannes und Magdalena, die nicht viel älter gewesen sind als Selysses, sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Magdalena mit dem schweren Trinken angefangen hat nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen.

Zobel Rosina, alte Engelwirtin
Im ersten Stock wohnte noch die Engelwirtin, Rosina Zobel, die die Führung der Wirtsstube vor etlichen Jahren aufgegeben hatte und sich seither den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube aufhielt. Entweder sie saß in ihren Ohrensessel, oder sie ging hin und her, oder sie lag auf dem Kanapee. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht hatte oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hatte. Man sah sie nie bei einer Arbeit; weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen.
Je mehr Bilder ich aus der Vergangenheit versammle, desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit sich so abgespielt haben soll, denn nichts an ihr ist normal zu nennen, sondern es ist das allermeiste lächerlich, und wenn es nicht lächerlich ist, dann ist es zum Entsetzen – Selysses äußert diese Überlegungen gegenüber dem Lukas Seelos, und der stimmt ihm uneingeschränkt zu. Der Leser ist nicht in der Lage dieser beiden, die das alte Wertach ebenso wie das neue W. kennen, er macht erst in diesem Augenblick die Bekanntschaft des alten W., das ihm also neu ist. Wenn er einiges Lächerliches und einiges Entsetzliches sieht, so ist es doch keineswegs tonangebend. So hat das elterliche Haus der Romana sicher nichts Entsetzliches, aber in seinem Format als liebevoll ausgemalte, zum Lächeln zwar anregende Idylle auch nichts Lächerliches. Die pausierende Schmiede ist als ein metaphysischer Augenblick gestaltet, diesmal sogar ohne ein Schwimmvogelpaar auf der Wasseroberfläche, das auf dem begrenzten Areal eines Bottichs ohne Frage auch fehl am Platz gewesen wäre. Das Entsetzen in der Frisöranstalt des Köpf ist dem Scherz zuliebe maßlos übertrieben, und auch wer nicht am Alpenrand aufgewachsen aber ähnlichen Jahrgangs ist, kann sich den von der Sanellapyramide ausgehenden transzendenten Schauder ohne Mühe vergegenwärtigen ebenso wie die amerikanische Seligkeitsverheißung, für die der Melchior steht. Gut erinnert er auch das heraufziehende Zeitalter der Marilyn Monroe und Anita Ekberg und versteht die Genugtuung, eine Person wie die Valerie Schwarz leibhaftig am Ort zu haben, auch wenn die ernstliche Neigung sich dann der sicher um einiges zarter gebauten Romana und schließlich dem noch sanfter ausgestatteten Fräulein Rauch zuwendet. Der Buchdrucker Specht schließlich erinnert ihn an verwandte Gestalten in alten Westernfilme, etwa den Journalisten in John Fords Liberty Valence. Die alten Westernfilme aber waren im moralischen Rahmen des Beredten Italieners gefertigt, in dem Selysses einige Zeit zuvor noch beifällig gelesen hatte: als wäre auch das Entsetzlichste in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. Der größte Teil des alten Wertach ist denn auch gar nicht dem urteilenden Blick des Erwachsenen ausgesetzt, sondern wird gesehen mit den Augen des Kindes in seiner dem menschlichen Urteil entrückten Ewigkeitsgestalt. Der andere Blick fällt auf das Design der elterlichen Wohnung. Alles in allem läßt sich ein Ort wie W., will man obendrein bei der Wahrheit über die Lage der Menschen bleiben, kaum warmherziger schildern. Heilige Thekla, bitt für uns.