Montag, 19. März 2012

Fahrtwind

Rheinabwärts

Like the train’s beat

Was könnte es scheinen, als führen die Züge gar nicht, bei der Ausfahrt aus dem Prager Bahnhof versinken sie sogleich, und die Gare d’Austerlitz schluckt sie, um sie nicht wieder hervorzulassen. Vom Gipfel des Grammont aus sehen wir auf die am jenseitigen Ufer in gewissen Abständen hin- und herfahrenden Eisenbahnzüge, aber bei der großen Entfernung läßt sich eine nur für die Touristen veranstaltete Fassadenveranstaltung nicht ausschließen. Während der Fahrt ist Selysses oft ganz von seinen Mitreisenden gefesselt, der Franziskanerin und dem Mädchen, der Dame mit der Zigarre und anderen. Wir sind uns sicher, daß in Filmen die Abteilszenen im Studio geschossen werden, der Blick auf die vorbeiziehende Landschaft wird hinzugeschnitten, das Rattern der Räder kommt vom Band; warum sollten wir in der Prosa nicht mit ähnlichen Taschenspielereien rechnen und daß man Selysses nicht immer beim Wort nehmen kann, ist ohnehin bekannt. Um wirklich überzeugt zu sein, in einem Zug zu sitzen, bedarf es des Blickes auf die Landschaft, die, schwer zu verstehen, stumm unser Verschwinden betrachtet, während wir vorbeifahren; bedarf es des weiteren der Fahrgeräusche und des Fahrtwindes.

Der Fahrtwind schlägt uns um die Ohren mit einer Deutlichkeit, die zu wünschen nichts übrigläßt, als wir, von Wien her kommend, mit Selysses in die oberitalienische Ebene einfahren. Aufgewacht bin ich erst mit dem Gefühl, daß der Zug, der sich so lange mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Täler gewunden hatte, nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Ich riß das Fenster herab. Krachend schlugen mir die Nebelfetzen entgegen. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Bläulichschwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran. Ich beugte mich hinaus und suchte vergebens ihre Gipfel. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Kopf. Nach und nach brachte das Morgengrauen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, in sich zusammengesunkenes Bauwerk, Schutt- und Schotterhalden an den Tag.

Austerlitz muß für ein ganz ähnliches Erleben gar nicht erst aufzuwachen. Aus der Vogelperspektive sah ich eine lichtlose Landschaft, durch die ein sehr kleiner Eisenbahnzug dahineilte, zwölf erdfarbene Miniaturwaggons und eine kohlschwarze Lokomotive unter einer nach rückwärts gewandten Rauchfahne, deren Spitze, wie eine große Straußenfeder, fortwährend hin und her gerissen wurde bei der geschwinden Fahrt. Dann wieder, durch das Coupéfenster heraus, sah ich dunkle Tannenwälder, ein tief eingeschnittenes Stromtal, Wolkengebirge am Horizont weit über den Dächern und Windmühlen, deren breite Segel, Schlag für Schlag, das Morgengrauen durchteilten.


Geruhsamer ist die lange Fahrt von Prag nach Deutschland und dann den Rhein abwärts zur Fähre nach England. Jenseits von Pilsen ging es auf das zwischen Böhmen und Bayern sich dahinziehende Gebirge zu. Bald traten dunkle Waldungen nah an die Trasse der Bahn heran und verlangsamte sich das Tempo der Fahrt. Nebelschwaden oder niedrig treibende Wolken hingen zwischen den triefenden Tannen, bis die Strecke nach etwa einer Stunde wieder bergan führte, das Tal nach und nach weiter wurde und wir hinauskamen in die heitere Gegend. Der Himmel hatte sich ein wenig aufgetan, freundliche Sonnenflecken erhellten hier und da das Gelände, und der Zug, der auf der tschechischen Seite oft nur schwer voranzukommen schien, eilte nun plötzlich dahin mit einer ans Unwahrscheinliche grenzenden Leichtigkeit. Fast die ganze Zeit stand ich am Gang und schaute zum Fenster hinaus. Zwischen Würzburg und Frankfurt ging die Strecke durch eine baumreiche Gegend, kahle Eichen- und Buchenbestände, auch Nadelholz, Meile um Meile. Jenseits des Binger Lochs dann konnte ich meine Augen nicht mehr abwenden von dem in der Dämmerung schwer dahinfließenden Strom, von den Lastkähnen, die, anscheinend bewegungslos, bis zur Bordkante im Wasser lagen, von den Bäumen und Gebüschen am anderen Ufer, dem feinen Gestrichel der Rebgärten, den deutlicheren Querlinien der Stützmauern, den schiefergrauen Felsen und den Schluchten, die seitwärts hineinführten in ein, wie ich dachte, vorgeschichtliches und unerschlossenes Reich. Weiter von Osten her kommend, aus W. im Allgäu, war Selysses seinerzeit auf die gleiche Rheinstrecke eingebogen. Ich saß im Expreß nach Hoek van Holland und fuhr durch das mir von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land. Seitwärts zogen die Felder vorbei und die Äcker, auf denen die blaßgrüne Wintersaat vorschriftsmäßig aufgegangen war; Waldparzellen, Kiesgruben, Fußballplätze, Werksanlagen und die entsprechend den Bebauungsplänen Jahr für Jahr weiter sich ausdehnenden Reihen- und Einfamilienhäuser hinter den Jägerzäunen und Ligusterhecken. Eigenartig, daß fast nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Als wir den Rheinstrom entlangfuhren, schaute man durch die Scheiben des Abteilfensters auf das Wasser und die steilen Abhänge des jenseitigen Ufers hinaus. Es mußte ein starker Nordwind aufgekommen sein, denn die Heckflaggen der stromaufwärts die graue Flut durchpflügenden Lastkähne wehten nicht nach rückwärts, sondern wie auf einer Kinderzeichnung nach vorne zu, was dem ganzen Bild etwas ebenso Verkehrtes wie Rührendes gab. Das Licht draußen hatte zusehends abgenommen, bis nur mehr eine fahle Helle das Stromtal erfüllte. Bald weitete das Rheintal sich aus, in der Ebene erschienen die glitzernden Wohntürme, und der Zug rollte hinein nach Bonn, wo die Winterkönigin ausgestiegen ist.

Fahrtgeräusche und mechanisches Innenleben der Fortbewegungsmaschinerie werden hörbar, als Selysses mit dem Zug aufbricht zu seiner englischen Wallfahrt. Mit einem alten, bis an die Fensterscheiben hinauf mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen bin ich an die Küste hinuntergefahren. Meine wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten lilafarbenen Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. Die meiste Zeit rollte der unsicher auf den Schienen schwankende Wagen im Leerlauf dahin, denn es geht dem Meer zu fast immer leicht bergab. Nur zwischendurch, wenn mit einem das ganze Gehäuse erschütternden Schlag das Triebwerk in Gang gesetzt wurde, war eine Weile das Mahlen der Zahnräder zu hören, ehe wir unter gleichmäßigem Pochen weiterrollten wie zuvor, an Hinterhöfen und Schrebergartenkolonien und Schutthalden und Lagerplätzen vorbei in das der östlichen Vorstadt sich ausdehnende Marschland hinaus.

In jungen Jahren hatte er bereits auf der Fahrt nach Abermaw das ihn dort erwartende Glück verspürt: Schon zu Beginn des Sommers, wenn wir mit der kleinen Dampfbahn westwärts das Tal hinauffuhren, merkte ich, wie mir das Herz aufzugehen begann. Schleife um Schleife folgte unser Zug den Windungen des Flußlaufs, durch das offene Waggonfenster schauten die grünen Wiesen herein, die steingrauen und die geweißelten Häuser, die glänzenden Schieferdächer, die silbrig wogenden Weiden, die dunkleren Erlengehölze, die dahinter aufsteigenden Schafweiden und die höheren, manchmal ganz blauen Berge und der Himmel darüber mit den immer von Westen nach Osten ziehenden Wolken. Dampffetzen flogen draußen vorbei, man hörte die Lokomotive pfeifen und spürte den Fahrtwind kühl an der Stirn.

Eisenbahnzüge können, wie oft schon auf einer einzigen Reise bemerkbar, ein sehr unterschiedliches Format haben. Über Amsterdam, Köln und Frankfurt reisend, erreichte ich mein Ziel nach einigem Umsteigen und längeren Aufenthalten in den Bahnhofswirtschaften von Aschaffenburg und Gemünden. Die Züge wurden von Mal zu Mal langsamer und kürzer, und zuletzt, von Gemünden bis Kissingen, reiste ich tatsächlich, was ich bis dahin nicht für möglich gehalten hätte, in einem Zug – falls das hier noch die richtige Bezeichnung ist -, der nur mehr aus einer Lokomotive und einem einzigen Wagen bestand. Schon bald wird Selysses’ Blickfeld nahezu zur Gänze von dem debilen Brotzeitmachenden und der Apfelschnitzfrau verstellt, so daß von der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft gerade soviel noch zu sehen ist: Der Zug folgte den Schleifen des Flußlaufs durch das Wiesental. Hügel und Wälder zogen langsam vorbei, Abendschatten legten sich über das Land.

Und nun fahren wir zusammen mit Selysses heraus aus dem Bild. Langsam bewegte sich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus, vorbei an den rußigen Ziegelmauern die mir wegen der in sie eingelassenen Nischen immer wie Teile eines weitläufigen und hier an die Oberfläche tretenden Katakombensystems vorgekommen sind. Aus den Fugen und Ritzen des im letzten Jahrhunderts fertiggestellten Mauerwerks sind im Verlauf der Zeit zahlreiche Schmetterlingssträucher gewachsen, die ja bekanntlich mit den ärmlichsten Bedingungen vorliebnehmen. Als ich im Sommer zuletzt an diesen schwarzen Wänden vorbeigefahren war, standen die spärlichen Gewächse gerade ein bißchen in Blüte. Und beinahe hätte ich meinen Augen nicht trauen wollen, wie ich, während der Zug vor dem Signal wartete, von einer Stunde zur anderen, bald oben, bald unten, bald links, immer in Bewegung, einen Zitronenfalter sich herumtreiben sah. Wo die Häuserwüste jetzt weiter sich auftat, erhoben sich in der Entfernung drei ganz und gar eingerüstete, von wabernden grünen Blachen umgebene Wohntürme, und noch viel weiter draußen, vor dem lichterlohen Himmelstreifen am westlichen Horizont, wallte aus der die gesamte Stadt überziehenden blauschwarzen Wolkendecke wie eine ungeheure Trauerfahne ein Regenschauer herab.
Das herausgelöste Motiv der Zugfahrt ergibt keine eigene Sinnmelodie wie etwas das der Lichtverhältnisse, es ist nur einfach eine Freude, die Fahrten beisammenzuhaben. Die Lektüre kann das eigene Reisebegehren mildern, wie könnte man aus eigener Kraft gleich tiefes Erleben erreichen, und so bleibt man vielleicht mit seinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause. Und umgekehrt, wem vielleicht das Warten auf den Bahnhöfen, die Lautsprecherdurchsagen, das Sitzen im Zug, das draußen vorbeiziehende, ihm nach wie vor vollkommen fremde Land, die Blicke der Mitreisenden, wem all das eine einzige Pein ist, dem verlaufen plötzlich die Fahrten auf das glücklichste. Es ist ein schöner Tag, er hat ein ganzes Abteil, wenn nicht gar den ganzen Waggon für sich, durch das Fenster strömt die Luft herein, und er spürt in sich erheben eine Art festtäglicher Heiterkeit.

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