Freitag, 24. Februar 2012

Prime Speaker

Heillos überfordert
Kritiker aus dem angelsächsischen Sprachraum haben den Einfall gehabt, Sebald als Prime Speaker of Holocaust zu ehren. Falls gemeint sein sollte, daß er von allen, die sich zum Thema geäußert haben, die höchsten literarischen Qualitäten aufweist, mag das angehen, obwohl Geschmack und Takt einer derartigen Prämierung fraglich bliebe. Wenn aber gemeint ist, der Holocaust habe in seinem literarischen Werk den thematischen Primat und er selbst eine Art Rudelführerschaft unter den literarischen Holocaustsprechern, so ist das eine falsche Meinung. Die Idee des Prime Speaker hat sich sicherlich erst bei Sebalds letztem veröffentlichten Prosawerk, Austerlitz, eingestellt, vielleicht das erste und zugleich auch letzte seiner Bücher, das die Vertreter der Idee gelesen haben. Falls sie versucht haben sollten, dann sozusagen rückwärts noch in das Gesamtwerk einzudringen, ist ihnen womöglich schon bald die Lust vergangen. Gehen wir den Weg zurück noch einmal gemeinsam. 

Die Ringe des Saturn haben wenig, das die These des Prime Speaker stützen könnte. Dem Despotismus im kaiserlichen China und den belgischen Verbrechen im Kongo, um nur diese zwei Dinge zu nennen, ist jeweils mehr Raum gegeben als dem Holocaustthema. Das Holocaustthema findet eine beeindruckende Gestaltung in der Episode des Majors Wyndham Le Strange, der an der Befreiung von Bergen Belsen teilgenommen hat und anschließend aus dem bürgerlichen Leben austritt. Daß er sich dabei in einen seltsamen Heiligen verwandelt, mag, wenn auch mit einigen Bedenken, noch durchgehen, weniger schon, daß der Blick auf Bergen Belsen unmittelbar an die Betrachtung der Heringe und ihrer massenhaften Tötung anschließt. Die Heringe waren überdies bereits in einen motivischen Zusammenhang - dem des Eisenbahntransports an die Stätten, an denen sich ihr Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird, wie es im blumig-schnarrenden Kommentarton des ihnen gewidmeten Films heißt - zum Holocaust gestellt. Von den Heringen geht es weiter zu den Seidenwürmern: Im Gegensatz zu dem ungeheuer dunklen, fast mitternächtlichen Heringsfilm war der Seidenbaufilm erfüllt von einer wahrhaft blendenden Helligkeit Männer und Frauen in weißen Laborkitteln hantierten da in lichtdurchfluteten, frischgeweißelten Räumen mit schneeweißen Spinnrahmen, schneeweißen Papierbögen, schneeweißer Abdeckgaze, schneeweißen Kokons und schneeweißen leinenen Versandsäcken. Die letzte Kapitelzwischenüberschrift des Buches lautet: Das Tötungsgeschäft, gemeint ist das an den Seidenraupen. Massentötung der Heringe, der Seidenraupen und Bergen Belsen sind, neben vielem anderen, in eine Reihe gestellt, für einen monothematischen Prime Speaker ein ganz und gar deviantes Vorgehen.

In den Ausgewanderten sieht es für die Vertreter der Prime-Speaker-These um einiges besser aus, ständig erscheint ihr Thema wetterleuchtend am Horizont. Wenn es bei einigen Rezensenten aber so klingt, als werde gleich viermal das Schicksal Walter Benjamins erzählt, so ist das in vielfacher Hinsicht falsch. Dr. Selwyn ist bereits im Jahre 1899 als Kind aus dem jüdischen Dorf bei Grodno nach England ausgewandert, selbst bei großzügiger Betrachtung weit jenseits der Reichweite der nationalsozialistischen Herrschaft, und auch in der Erzählung Ambros Adelwarth wird nach Amerika übersiedelt, bevor man vielleicht nach Amerika hätte fliehen müssen vor den Nazis. Paul Bereyters Lebenshoffnungen werden von den Nationalsozialisten zerstört, er selbst aber zieht als deutscher Wehrmachtssoldat ins Feld, ähnlich, allerdings nicht was den Dienst mit der Waffe anbelangt, liegen die Verhältnisse bei Max Aurach.

Die Schwindel.Gefühle sind thematisch kaum einschlägig und erfreuen sich vielleicht deswegen einer relativ geringen Beachtung unter Rezensenten, nur wenige, wie John Burnside* oder auch der kaum bekannte Vostre Servidor, erklären dieses Buch zu ihrem Favoriten unter Sebalds Werken. Auch das Elementargedicht Nach der Natur hat nichts an sich, das aus sich heraus die Prime-Speaker-Idee hätte generieren können.

Und wie sieht es bei Austerlitz, der eigentlichen Stütze der Prime-Speaker-These aus? Es ist bezeichnend, wenn Rezensenten, die umstandslos eine Holocaustgeschichte voraussetzen, sich dann beklagen, der Autor würde, bevor er endlich zur Sache kommt, auf absurde Weise und völlig planlos viele unnötige Seiten füllen mit seinen saft- und kraftlosen Sätzen. Der rettende Gedanke, es möchte womöglich keine Holocaustgeschichte sein, die man da liest, hat sich nicht eingestellt. Keinem Erzähler wird ein Vorwurf gemacht, wenn er zum abertausendsten Mal die Geschichte von Lise und Franz erzählt, ohne sich um den Holocaust zu scheren, aber wenn das Thema angeschlagen ist, haben alle anderen Themen und Motive ins Glied zu treten, dieses Diktat gilt nicht zuletzt für die Rezipienten. Da niemand sich dem Diktat gänzlich entziehen kann, ist es schwer, die wahren Proportionen von Austerlitz zuverlässig einzuschätzen. In jedem Fall ist der Holocaust hier weit mehr als nur ein Wetterleuchten, aber neben Agáta und Theresienstadt gibt es Wales, Bala und Andromeda Lodge, Gerald den Flieger und Marie de Verneuil, Bahnhöfe und andere Bauten, Papageien und Falter, Unterwasserflora und -fauna, sogar Rugby, denen allen, nach Sebalds Willen, die gleiche ungeschmälerte Daseinsberechtigung zugesichert ist.

In Sebalds geistiger Hintergrunddisposition lassen sich vielleicht drei Komplexe bestimmen: Zum einen ein tiefgehender Nihilismus, in einem Gespräch hat er unterstellt, wir alle wüßten um die Sinnlosigkeit der Welt und unserer Existenz, um in einem anderen Gespräch zu monieren, daß in Deutschland radikal nihilistische Denker vom Schlage Emil Ciorans fehlen; sodann ein ausgeprägter und ebenfalls offen im Gespräch eingestandener Hang zur Metaphysik, zu verfolgen unter anderem an den durch das Werk vagabundierenden Trümmern der Heiligen; und schließlich eine nicht weniger ausgeprägte Lebenszugewandtheit, wie sie sich äußert in der unvergleichlichen Schilderung einfacher Leute und ganz allgemein in der großen Freundlichkeit der Prosa. Es verwundert nicht, wenn sich über diesen spannungsreichen Feld als der einzig richtige Ton der einer großen Weltklage erhebt, einer Klage, die auch die Heringe, die Seidenraupen, die verreckten Tauben in ihrem Käfig und die an schwerem Hospitalismus leidende Wachtel zu gleichem Recht einschließt. Aber es nicht die ganze, die vom Menschen unabhängig zu denkende Welt, die einbezogen ist. Schon kurzes Nachsinnen führt zu der Feststellung, daß auch außerhalb des menschlichen Bereichs immer nur die Folgen menschlichen Handelns zum Klagethema erhoben werden, das Wüten des Haifisches im Heringsschwarm bleibt unbeachtet. In der biologischen Welt ginge es ohne den Menschen kaum weniger grauenhaft zu als mit ihm, mit der Maßgabe, daß ohne den Menschen, der es benennt, das Grauen kein Grauen ist. Wenn Sebald immer wieder eine Welt vor sich sieht, die sich vom Menschen befreit hat, aus der der Mensch verschwunden ist, so ist doch und gerade der Mensch sein Thema, der Mensch allerdings, der von der ihm nach dem Tod Gottes zugefallenen Aufgabe nicht nur heillos überfordert ist, sondern der sogar noch über alles legitim Erwartbare hinaus versagt. Sebalds Zuneigung gilt den Randbereichen der Menschheit, den einfachen Leuten auf der einen Seite und auf der anderen den Schöpfern großer Kunstwerke wie Grünewald oder Pisanello, den Glanzpunkten, in denen sich die Berufung des Menschen, wenn es sie denn geben sollte, am ehesten noch erfüllt. Im großen mittleren Bereich, dem des Handelns, sind Bau und Zerstörung die zwei Seiten Desselben, in die Zeit getreckt eine endlose Abfoge von Kalamitäten und Katastrophen. Nichts spricht dafür, daß das größte uns heimsuchende Unheil der Vergangenheit angehört. Die Handlungswelt zerfällt vor unseren Augen. Aus der Asche und dem Rauch großer Brände treten die Eremiten und säkularen Heiligen, Wittgenstein und seine Gefährten.

* In einem zu Sebalds zehnten Todestag in der FAZ veröffentlichten Aufsatz

Sonntag, 19. Februar 2012

Spinnen und Weben

Hochzeitsgewänder

A wedding dress or something white

In der fünfzigbändigen Sowjetenzyklopädie, in der man, nach Möglichkeit in einer der frühen Ausgaben, aus den unterschiedlichsten Gründen nicht genug lesen kann, waren den einzelnen Sowjetrepubliken umfängliche Kapitel gewidmet, die jeweils auch, veranschaulicht durch entsprechende Abbildungen, auf das als typisch angesehene Kunstschaffen eingingen. Was die bildende Kunst anbelangt, so spiegelten sich die europäischen Republiken  vorwiegend in Bildwerken nach der Art des sozialistischen Realismus, die asiatischen, im Höhenflug noch ein wenig zurück, waren stärker vertreten durch ornamentale Muster, darunter Webwaren, Teppiche, Gewänder. Spinnen wie auch Weben zählen zu den ältesten, bereits im frühen Neolitkikum nachgewiesenen Techniken der Menschheit, die damit weit zurückreichen in die Zeit, als die Kunst noch kein eigener Bereich war, sondern eng verbunden mit den Dingen des Alltags und auch mit dem den höheren Dingen zugewandten Kultus. Zu nicht geringem Teil waren Spinnen und Weben dann Teil der dörflichen, häuslichen Ökonomie, und dabei entstanden Kunstwerke der tiefsten Art.
Sebald hat wiederholt, im Werk und in Gesprächen, auf seine Herkunft und die seiner Literatur gleichermaßen aus einem ländlichen, bilder- und eindrucksarmen Raum erinnert, darin einen Reichtum gesehen – nur wo wenig ist, ist Platz für vieles - und mit dieser reichen Armut unter anderem den Wert begründet, den eine handwerklich saubere, dem Handwerk zugetane Literatur für ihn hatte. Es gibt eine Photographie, die ihn als jungen Mann auf einer landwirtschaftlichen Zugmaschine zeigt, aber das Bild wirkt gestellt und nicht so, als habe er in nennenswerter Weise zum Ernteertrag beigetragen. Bilder von Sebald mit einem Spinnrocken in der Hand oder am Webstuhl kennen wir erwartungsgemäß nicht, gleichzeitig aber ist bezeugt, welche hohe Bedeutung diese uralten Kulturtechniken schon in frühester Jugend für ihn hatten: Mit Hingabe füllte ich meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welche ich das Fräulein Rauch immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Damit ist nicht nur eine anrührende Begebenheit aus der Kindheit geschildert, sondern auch bereits eine erzählerische Absicht des Dichters offenbart, das dann noch lange Jahre auf die Umsetzung zu warten hatte. In den Ringen des Saturn gibt Sebald sich deutlicher noch als sonst als Textilarbeiter zu erkennen, da das durch das gesamte Buch gesponnene Motiv des Seidespinners das Motiv des Spinnens, also sozusagen sich selbst, als Thema noch einmal in sich trägt, um dergestalt im Muster unterschiedlichster Webstellen des Buches aufzutauchen. Aber auch in anderen Büchern Sebalds ist die Absicht einzuspinnen und zu verstricken ständig spürbar. In den Schwindel.Gefühlen dringen das Gracchusmotiv oder auch das der Zahl Dreizehn immer gleich und immer wieder verwandelt an die Weboberfläche. Die Ausgewanderten sind mit einem dem des Seidenspinners verwandten Faden, nämlich dem des Schmetterlingsjägers Nabokow vernäht und enden mit einem Bild des Spinnens und Webens aus der Textilstadt Lodsch, das ein in Sebalds Texten noch nicht ganz und gar beheimateter Leser vielleicht eher in den Ringen des Saturn suchen würden: Die mittlere der drei jungen Frauen hat hellblondes Haar und gleicht irgendwie einer Braut. Die Weberin zu ihrer Linken hält den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, während die auf der rechten Seite so unverwandt und unerbittlich mich ansieht, daß ich es nicht lange auszuhalten vermag. Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere.

Die Stelle in den Ringen des Saturn zu suchen, liegt umso näher, als die Parzen dort tatsächlich ein weiteres Mal auftreten: In einem der Nordzimmer, wo sie Unmengen von Stoffresten angehäuft hatten, verbrachten die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina jeden Tag ein paar Stunden damit, vielfarbige Kissenbezüge, Bettüberwürfe und dergleichen mehr zusammenzunähen. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder saßen die drei ledigen, beinahe gleichaltrigen Töchter auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiteten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort. Die Bewegung, mit der sie nach jedem Stich seitwärts den Faden in die Höhe zogen, erinnerte mich an Dinge, die so weit zurücklagen, daß es mir bang wurde um die wenige noch verbleibende Zeit. Was sie an einem Tag genäht hatten, trennten sie in der Regel am nächsten oder übernächsten wieder auf. Möglich, daß ihnen in ihrer Phantasie etwas von solcher außergewöhnlichen Schönheit vorschwebte, daß die fertigen Arbeiten sie unfehlbar enttäuschten, dachte ich, als sie mir bei einem meiner Besuche in ihrer Werkstatt ein paar der Zertrennung entgangene Stücke zeigten, denn eines davon zumindest, ein aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetztes, mit Seidenfäden besticktes oder vielmehr spinnennetzartig überwobenes Brautkleid, das an einer kopflosen Schneiderpuppe hing, war ein beinahe ans Lebendige heranreichendes Farbenkunstwerk von einer Pracht und Vollendung, daß ich damals meinen Augen so wenig traute wie heute meiner Erinnerung.
Dieses aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetzte, mit Seidenfäden bestickte oder vielmehr spinnennetzartig überwobene Brautkleid hatte Selysses wohl für das Fräulein Rauch im Sinn gehabt, aber über das für die Herstellung notwendige Vermögen verfügte er im damaligen frühen Stadium seiner Entwicklung noch nicht. Die Situation ist märchenhaft und mythenreich. Drei Schwestern, Tri Sestry, drei Parzen, Nähwerke, die am nächsten Tag wieder aufgetrennt werden, so wie Penelope am Totentuch des Laertes in der Nacht immer das wieder auftrennte, was sie den Tag über gewebt hatte. Das überwältigte Staunen des Dichters Selysses angesichts des gewobenen Kunstwerks ist ganz dasjenige des Malers Aurachs, als der in einer Traumsequenz Frohmann aus Drohobycz mit dem Modell des Jerusalemer Tempels vor sich sieht, sich über das Tempelchen beugt und zum ersten Mal in meinem Leben weiß, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Nicht nur, daß der Dichter sein Handwerk dem der Weberinnen vergleicht, von einem Webwerk findet er all seine eigenen Ambitionen übertroffen. Das allem Anschein nach sinnlose tägliche Arbeiten der drei Schwestern ist ein Inbild der Kunst, deren Daseinsbedingung offenbar die Sinnlosigkeit ist: I think all our philosophical systems, all our systems of creed are built in order to make some sort of sense, which there isn’t, as we all know. Dem Leser aber wird, während er noch Gedanken dieser Art nachhängt, immer deutlicher, daß das Hochzeitsgewand für ihn bestimmt ist, daß er mit dem Text nicht nur vertraut, sondern getraut sein soll, und wie und mit welcher Begründung wollte er sein Jawort verweigern.

Das Hochzeitsgewand ist aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetzt und mit Seidenfäden bestickt. Die Seidenspinnerei steht nicht am Anfang der Zeit, führt aber in große Ferne, noch über die orientalischen ehemaligen Sowjetrepubliken hinaus, bis an das äußerste Ende der Seidenstraße, nach China. Bis in die höchsten und allerhöchsten Kreise war das Leben der Chinesen eng mit dem der Seidenwürmer verwoben: Hingebungsvoll lauschte die Kaiserin auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das aus dem Hintergrund von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam. Diese blassen, beinahe transparenten Wesen, die bald ihr Leben lassen würden für den feinen Faden, den sie spannen, betrachtete sie als ihre wahren Getreuen, sie erschienen ihr als das ideale Volk, dienstfertig, todesbereit, in kurzer Zeit beliebig vermehrbar, ausgerichtet nur auf einen einzigen ihnen vorbestimmten Zweck, völlig das Gegenteil der Menschen, auf die grundsätzlich kein Verlaß war, auf die namenlosen Massen draußen im Reich so wenig wie auf diejenigen, die den innersten Kreis bildeten um sie und die, wie sie ahnte, jederzeit imstande waren, sie fallen zu lassen.

Niemand wird die Ansichten der Kaiserin teilen oder sich auf ihre Seite stellen wollen, aber der Bericht ist doch seltsam zurückhaltend und gleichmütig vorgetragen. Wenn in dem Buch den verschiedensten Aspekten des Seidenbaus, seiner splendeur et misère, nachgegangen wird, so verliert der Dichter für keinen Moment aus den Augen, daß es hier um Tiere geht, die, um die Seidenernte zu ermöglichen, ihren Lebenszyklus nicht durchlaufen dürfen. Wie sollte er es auch vergessen, nachdem er der Spur des Entomologen Nabokow gefolgt ist, in Andromeda Lodge in einer Wolke von Faltern gestanden und in Austerlitz’ Wohnung auf die in kleinen Bakelitsärgen andächtig aufbewahrten toten Motten gestoßen ist, mit ihren zusammengefalteten Flügeln aus einem man weiß nicht wie gewobenen Stoff. Die vorletzte Zwischenüberschrift des zehnten und letzten Kapitels der Ringe des Saturn lautet: Das Tötungsgeschäft: Und endlich die Abtötung, die dadurch geschieht, daß man die Kokons über einen beständig am Sieden gehaltenen eingemauerten Waschkessel schiebt. Drei Stunden müssen die in flachen Körben ausgebreiteten über dem aus dem Schaff aufsteigenden Wasserdampf liegenbleiben, und wenn man mit einer Menge fertig ist, so fährt man mit der nächsten fort, so lange, bis das ganze Tötungsgeschäft vollendet ist. Von der massenhaften Tötung der Larven wird rückerinnert an die massenhafte Tötung der Heringe weiter vorn im Buch: Im Gegensatz zu dem ungeheuer dunklen, fast mitternächtlichen Heringsfilm war der Seidenbaufilm erfüllt von einer wahrhaft blendenden Helligkeit Männer und Frauen in weißen Laborkitteln hantierten da in lichtdurchfluteten, frischgeweißelten Räumen mit schneeweißen Spinnrahmen, schneeweißen Papierbögen, schneeweißer Abdeckgaze, schneeweißen Kokons und schneeweißen leinenen Versandsäcken. - Die Heringe waren ihrerseits in einen motivischen Zusammenhang - dem des Eisenbahntransports an die Stätten, an denen sich ihr Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird, wie es im blumig-schnarrenden Kommentarton des Films heißt - zum Holocaust gestellt; von den Heringen ablassend wird der Blick überdies unmittelbar auf den Major Wyndham Le Strange und auf Bergen Belsen gelenkt.

Nun sollte niemand auf die Idee kommen - es ist allerdings schon zu spät für diese Warnung, das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen, der Vorwurf wurde erhoben -, daß innerhalb des politisch-ethischen Sprachbezirks ein egalisierender Vergleich zwischen Holocaust, Heringsfang und Larvenvernichtung angestellt ist. In der großen Klage aber über die von einem schlechten Demiurgen oder einem teuflischen Nichts falsch, nämlich auf dem Prinzip unablässiger Vernichtung errichtete Welt ist all das miteinander verwoben. Gleich anschließend an den Bericht vom Tötungsgeschäft, wird zum Abschluß des Buches ein aus lauter Kalamitäten wirr zusammengewebter Teppich der Geschichte ausgebreitet, Ausschußware, zu nichts gut, als von den Parzen verworfen und wieder aufgetrennt zu werden. Uns aber muß es nicht kümmern, solange wir in der stillen Muße eines Landhauses in Sebalds Prosabücher lesen, vier aus bunten Flicken vernähte, von den strengen Parzen ohne jeden Einwand gebilligte Webstücke, vier ans Lebendige heranreichendes Sprachkunstwerke voller Pracht und Vollendung, vier Gewänder, die dem Leser übergeworfen werden mit der Absicht, ihn einzuspinnen und zu verstricken. 
 


Mittwoch, 15. Februar 2012

Kommentar Siderodromophobie

Wir treffen hier auf eine der aufregendsten weiblichen Mitreisenden des Selysses, und das obwohl die Fahrstrecke nur kurz ist, er die Elektrische gar nicht bestiegen hat und sie keine Wirklichkeit außerhalb seiner panischen Vorstellungen hat. In dieser Stadt ist er, wie wir aus zuverlässiger Quelle wissen, mit der Bahn angelangt, unversehens aber hat ihn eine auf Straßenbahnen gerichtete Siderodromophobie befallen. Eine phantasierte Fahrt soll uns mit aller Deutlichkeit vor Augen führen, in welche unverantwortliche und ausweglose Lage er durch das Besteigen einer Elektrischen geraten würde. Wie könnte er einen Anspruch erheben, sich an der Schlinge zu halten, sich von dem Wagen tragen zu lassen? Was uns, gekleidet in ein einen vermeintlichen Albtraum, die Vernünftigkeit der Phobie beweisen soll, verwandelt sich unter der Hand in einen Wunschtraum. Ein Mädchen tritt auf. Er sieht sie, zunächst offenbar einige Meter entfernt, sozusagen von oben bis unten, auch ihr Gesicht. Dann muß er sich ihr angenähert haben, steht hinter ihr und betrachtet gleichsam mikroskopische Einzelheiten, die Ohrmuschel und den Schatten an deren Wurzel. Als nächstes kommt es zu einer eigenartigen Verschiebung, die, die er offenbar bewundert, soll über sich selbst verwundert sein. Seine wachsende Verirrung wohl bemerkend, bricht Selysses den mißlungenen Versuch ab, seine Phobie als in durchaus rationalen Bahnen verlaufend darzustellen, und verweist stattdessen auf sein Wohlgefühl außerhalb der Bahn, in Kaffeehäusern etwa. Es ist nicht auszuschließen, daß er insgeheim mit der schönen Unbekannten sich dort sitzen sieht. 

Dienstag, 14. Februar 2012

Land und Leute

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Er verbrachte im Anschluß an diesen für ihn deprimierenden Tag drei Wochen in der Wasserheilanstalt, die er vor dem Einnachten noch per Dampfboot erreichte. Ein Hausdiener mit einem langen grünen Schurz, der hinten mit einem messingnen Kettchen zusammengehalten wurde, führte ihn auf sein Zimmer, von dessen Balkon aus er auf den in vollendeter Ruhe in der einbrechenden Dunkelheit daliegenden See hinaussah. Es war nun alles blau in blau, und nichts schien sich mehr zu bewegen, nicht einmal das Dampfboot, das schon ein ganzes Stück weit draußen war auf dem Wasser. Am nächsten Morgen begann bereits die Anstaltsroutine. Das Publikum bestand hauptsächlich aus älteren Schweizer Frauen des Mittelstandes, also aus Menschen, bei denen sich ethnographische Eigentümlichkeiten am zartesten und verschwindensten zeigen. Wenn man sie daher an diesen konstatiert, dann sollte man sie doch schon sehr festhalten. Auch seine Unkenntnis ihres Deutsch half ihm, glaubte er, bei ihrer Betrachtung, denn sie waren dadurch für ihn viel enger gruppiert. Bereits während der Bahnfahrt durch die zum Erstaunen schöne Schweiz war ihm wieder in den Sinn gekommen, wie er vor einigen Jahren den Grammont bestiegen hatte. Es war ein ungetrübter Tag gewesen, und als er, nahezu restlos erschöpft, den Gipfel erreicht hatte, da sah er von dort droben die Genfer Seelandschaft vor sich, reglos bis auf die wenigen auf dem tiefblauen Wasser drunten mit der unglaublichsten Langsamkeit ihre weiße Spur ziehenden winzigen Schiffchen und bis auf die am jenseitigen Ufer in gewissen Abständen hin- und herfahrenden Eisenbahnzüge. Von den Menschen aber sah man jetzt mehr als vom Waggonfenster aus, wenn auch nicht eigentlich anderes, und wenn es um die Dichter geht, so würde er sich, wie er einem Freund schrieb, in der Beurteilung der Schweiz lieber als an Keller oder Walser an Meyer halten.

Montag, 13. Februar 2012

Tra donne

Fragen der Gerechtigkeit

Die Wächter dürfen nicht ruhen, sie sind unsere einzige Hoffnung. Im Falle Sebalds haben sie entdeckt und moniert, daß in seinem wissenschaftlich-essayistischen Werk die Dichterinnen, die Frauen fehlen. Naturgemäß ist jeder frei in der Entscheidung, worüber er schreibt und worüber nicht, die radikale Möglichkeit, gar nicht zu schreiben dabei nicht ausgenommen, die Freiheit aber steht, wie wir alle wissen, in enger Wechselbeziehung mit der Gerechtigkeit, die ihrerseits, sofern von dieser überhaupt unterscheidbar, auf Gleichheit gründet. Wenn Sebald in seinen Arbeiten zur österreichischen Literatur einen Bogen um Elfriede Jelinek macht, wird man dafür noch Verständnis aufbringen können, aber was ist mit der uns allen so lieben und so verzweifelten Ingeborg Bachmann? Er hätte sie nicht gleich ins Landhaus einladen müssen, dagegen können, angesichts der dort versammelten Herren, Gründe der Schicklichkeit sprechen, aber in der Unheimlichen Heimat war sie ohne Frage beheimatet.

Im Prosawerk sieht es auf den ersten Blick nicht so sehr viel besser aus. Wir wissen, daß sowohl Selysses als auch sein Doppelgänger außerhalb des Textes, Sebald also, verheiratet waren, aber keine Rede davon, daß Selysses’ Frau, Clara, ihn nach Italien oder Korsika begleitet hätte, nicht einmal an den Wanderung in der näheren Umgebung des Wohnortes hat sie teilnehmen können. An wenigen Stellen, abzuzählen an den Fingern einer versehrten Hand, sind ihr kleine und kleinste Auftritte als Komparsin zugestanden, so daß wir immerhin von ihr wissen. Die Protagonisten der Erzählungen sind samt und sonders Männer, Selysses selbst, Selwyn, Bereyter, Adelwarth, Aurach, Austerlitz. Da verfängt auch nicht ohne weiteres der Hinweis, allen, den Protagonisten und den Komparsen, sei schließlich, wie bei Pisanello, die gleiche ungeschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen.

Frauen trifft Selysses auf seinen Reisen und Wanderungen keineswegs in geringer Zahl, vorzugsweise als Mitreisende und Empfangsdamen. Die Begegnungen, so kurz und schlicht, wie sie immer verlaufen, erfordern doch eine Aufmerksamkeit und Wahrnehmungstiefe, die in Begleitung einer permanenten Reisegefährtin nicht möglich wäre. Können wir die Franziskanerin und das junge Mädchen im Zug nach Mailand uns vorstellen - die eine das Brevier und die andere eine Fotonovella vor Augen und dazu Selysses mit dem Beredten Italiener in der Hand - wenn zusätzlich Clara im Abteil säße; und wie sollte, weiter voran in den Schwindel.Gefühlen, die Begegnung mit der Winterkönigin in Claras Gegenwart verlaufen? Um die Unvergeßlichkeit dieser Begegnungen wäre es wohl geschehen.

Es bleibt nicht allein bei den flüchtigen Reisebegegnungen. Im Gespräch hat Sebald die Schwindel.Gefühle als ein Buch von der Liebe, de l’amour, bezeichnet und sich im gleichen Atemzug mit unverhohlenem Spott von der Gattung des sogenannten Beziehungsromans abgesetzt. Der Spott ist unangebracht, denn der Begriff der Beziehung ist für Fragen der Gerechtigkeit aufnahmefähiger als der der Liebe. Mit Stendhal und Kafka läßt er zwei höchst unterschiedliche Helden und Geschlagene der Liebe auftreten. Sie leiden überwiegend an der Liebe und theoretisieren sie in ihrer Not, der eine sieht in ihr einen Prozeß der Kristallisation, und der andere versucht sie von körperlichen Ansprüchen zu befreien. Was in Nach der Natur wenig entschlüsselt die schreckliche Separation der Geschlechter genannt wurde, die das Unglück auch der Heiligen sei, gewinnt am Exempel der beiden unheiligen Dichter klarere wenn auch noch immer nicht ganz klare Konturen, die wohl auch nicht aufzufinden sind in der Welt.
Das Spiel von Begehren, Erreichen und Verfehlen innerhalb der widersprüchlichen Dimensionen unserer Sehnsucht findet unter Menschen wohl immer statt, an den verschiedensten Schauplätzen, ist aber im erotischen Bezirk immens gesteigert. Alt geworden zeichnet Stendhal langsam, mit dem Stock, den er jetzt meistens mit sich führt, die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Staub. Rauhere Naturen hatten mit Kerben auf dem Henrystutzen oder der Silberbüchse Abschüsse anderer Art verzeichnet. Stendhal betrachtet seine Eintragungen und hat keinen Gewinn davon. Kafka ist einen vergleichbaren Weg nicht gegangen. Ehe und Familiengründung hat er immer als den einzig möglichen, ihm aber verwehrten Zutritt zur Lebenswirklichkeit angesehen. Wohl schon verzagend an seinem Schicksal, versucht er am Gardasee seiner Genueser Freundin die Theorie einer körperlosen Liebe nahe zu bringen. Sie aber hatte denn doch anderes und mehr erwartet, er seinerseits ist, als sie abreist, vor allem erlöst.

Selysses folgt in diesen Dingen gemäßigteren Bahnen. In noch sehr jungen Jahren versieht er sich keinerlei Gefahr oder größerer Schwierigkeit. Die Strecke vom Ersehnen zum Erreichen zu durchmessen, traut er sich ohne weiteres zu, und am Ziel erwartet ihn einzig märchenhaftes Glück, jedenfalls reicht der Blick weiter nicht: Mit Hingabe füllte ich meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welche ich das Fräulein Rauch immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können. Nach allem was wir wissen, ist es nicht zu diesem guten Ende gekommen, den Traum hat Selysses aber bewahrt, und in abgewandelter Form träumt er ihn in schon reifem Alter ein zweites Mal. Die Wirtin Luciana hat ihn ganz leicht an der Schulter berührt, vielleicht noch nicht einmal, und als sie später dann die Gendarmerie verlassen, in der Selysses ein Paßersatzdokument ausgestellt worden war, da war es ihm, als seien die beiden von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo sie wollten.

In den Schwindel.Gefühlen bewegen sich drei Probanden im erotischen Bezirk, der Vollstrecker, der Verzagende und der Träumer. Was immer wir von ihnen halten sollen, der grundlegende Fehler der bisherigen Betrachtung liegt darin, daß die Angelegenheit ausschließlich aus der Perspektive der Männer beleuchtet wurde. Naturgemäß kann nicht allen Damen nachgegangen werden, deren Spuren Stendhal in den Sand gezeichnet hat. Angela Pietragrua erklärt sich nach langem Drängen bereit, sich ihm hinzugeben, wie es damals hieß, allerdings unter der Bedingung, daß er sich, nach gewährter Gunst, ohne weiteren Verzug aus Mailand entfernen werde, ein sexuell souveränes Verhalten, daß die Wächtern letztlich nur billigen können. Métilde Dembowski bedenkt Stendhal, als sein unerklärliches Verhalten ihr schließlich zu lästig wurde, mit einem sehr trockenen Billett, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzt – auch da kann man nur beifällig nicken. Beifall würde auch Mme Gherardi verdienen, die sich von Stendhals kristalliner Liebestheorie keinesfalls einwickeln läßt, bei ihr hat es allerdings den Haken, daß sie womöglich von Stendhal, den die realen Damen denn doch sehr erschöpft hatten, nur ersonnen worden war. Die Genueserin kann man nur bedauern, daß sie bei ihrer Wasserkur auf diesen schwierigen und wenig verständlichen Menschen stoßen mußte, beim Fräulein Rauch, das man außerhalb der Traumwelt ihres Schülers eigentlich gar nicht kennenlernt, gibt es kaum etwas zu sagen, und bei Luciana Michelotti weiß man nicht so recht, was man sagen soll, ihre Perspektive wird uns nicht eröffnet, es ist aber nicht gut denkbar, daß sie keine hatte.

Die Erzählungen Bereyter und Austerlitz sind jeweils mit dem Nachsommermotiv versehen. Sie habe in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern – des näheren, wie Mme Landau mit spöttischem Gesichtsausdruck hervorhob – kennengelernt, die sämtlich auf die eine oder andere Art von sich eingenommen gewesen seien. Jeder dieser Herren, deren Namen sie, gottlob, größtenteils vergessen habe, sei lediglich nur ein ungehobelter Klotz gewesen, wohingegen man sich einen umsichtigeren und unterhaltsameren Kompagnon einfach nicht habe wünschen können als den von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen Paul Bereyter. Dreizehn Jahre haben sie gemeinsam verbracht, sie, falls die Rechnung stimmt, von ihren Fünfzigern in die Sechziger, er von den Sechzigern in die Siebziger. Daß er ein umsichtigeren und unterhaltsameren Kompagnon gewesen sei, ist schon der tiefste Einblick, den sie in ihr beider Zusammenleben gewährt. Man stellt sich in ihrer Weise glückhafte, von Alltagsfragen nicht berührte Jahre vor, soweit das in Anbetracht von Bereyters labilem Zustand möglich war. Der den Nachsommer dominierende Gartenbau fehlt nicht: Er hatte sich des ziemlich vernachlässigten Gartens angenommen, und tatsächlich war ihm ein wahrhaft einmaliges Verwandlungswerk gelungen. Die jungen Bäume, die Blumen, die Blatt- und Kletterpflanzen, die schattigen Efeubeete, die Rhododendren, die Rosensträucher, die Stauden und Boschen – es war alles am Wachsen, und nirgends gab es eine kahle Stelle mehr. Mme Landau zu treffen war für Bereyter ohne Frage eine Gunst des Lebens, die ihn am Ende dann doch nicht vor den inneren Abgründen bewahren kann. Austerlitz ist der Vorgabe Stifters insofern näher, als er Marie de Verneuil durch eigenes Verschulden, wenn man davon sprechen kann, verliert. Erst ganz am Ende der Erzählung begibt er sich erneut auf die Suche nach ihr.

In einer Beziehung wird aber gründlich von der klassischen Vorlage abgewichen. Bei Stifters Buch handelt es sich dem Kern nach um den minutiösen Bericht von einer Generationsübergabe unter den aufwendigsten Vorkehrungen. Bei Sebald fehlt die nachfolgende Generation. Seine Helden, die Mitglieder der Compagnia, stehen knapp am Rande zum Zölibats und verweigern die Prokreation. Wie sich die Frauen dazu stellen, wird nicht recht klar.
*
Was immer zugunsten des Dichters ins Feld zu führen versucht wurde, es kann und darf die Wächter nicht zufriedenstellen. Legitime Ansprüche einer gerechten Welt bleiben unerfüllt. Im Gespräch hat Sebald zudem eingeräumt, daß seine Schreibtätigkeit doch sehr zu Lasten seines persönlichen Umfelds gegangen ist. Sein Dichtertum hat er, so muß man vermuten, auf dem Rücken seiner Frau ausgelebt, er wäre nicht der erste.

Sonntag, 12. Februar 2012

Siderodromophobie

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Ich weiß nur, daß es mir ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist, in eines der öffentlichen Verkehrsmittel zu steigen und beispielsweise mit dem 41er Wagen einfach in das Stadtinnere oder mit dem 58er Wagen aus der Stadt herauszufahren, um, wie ich es früher nicht selten getan habe, spazierenzugehen in einem der Parks oder im Waldgelände. Man stelle sich vor, ich stünde auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn, oder vor den Schaufenstern ruhn. Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig. Der Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe den Stufen, zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte. Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus weißer klemmaschiger Spitze, die linke Hand hält sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe. Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel. Ich frage mich: Wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist, daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt? Das Einkehren in Kaffeehäuser und Gastwirtschaften hingegen bereitete mir keine besonderen Schwierigkeiten, Ja, es verhalf mir jedesmal, wenn ich mich einigermaßen gestärkt und ausgerastet hatte, zu einem zeitweiligen Gefühl der Normalität. 
 

Donnerstag, 9. Februar 2012

Kommentar Kur

Die Zypressen im Park deuten naturgemäß auf Italien hin, etwas unvermittelt wird an späterer Stelle dann aber Zürich in der Schweiz genannt, allerdings nicht in einer Weise, die Italien als Standort der Kur bündig ausschließen würde. Es ist eine Zeit tiefen Friedens im Park, die sich, obwohl bemessen, mit dem für einen Augenblick in der Luft anhaltenden Taubenpaar zu einer kleinen Ewigkeit dehnt. Der Park muß besondere Kostbarkeiten aufweisen, anders wäre die Pförtnerin in ihrem dunklen Gehäuse, die ja offenbar eine Wärterinnenfunktion ausübt, kaum erklärbar. Ob auch eine Einlaßgebühr bei ihr zu entrichten war, erfahren wir nicht, für einen Kurpark wäre das ungewöhnlich, aber immerhin denkbar bei Personen, die keinen Ausweis über die beglichene Kurgebühr vorweisen können. Die Erklärung für die Menschenleere im Park, die dann umständlich vorgebracht wird, ist ihrer Absicht nach wohl eher launig als realistisch. Von Selysses sind wir es überdies gewohnt, daß sich Räume und Gegenden, die er betritt, gern für ihn, und nur für ihn entvölkern. Wenn er selbst den Park ein zweites Mal nicht betritt, so wohl deswegen, weil sich ein metaphysischer Augenblick, wie er ihn erlebt hat, nicht wiederholen läßt. Nicht ganz durchsichtig ist die eigenartige Choreographie der Damen und Herren während der Grammophonvorführungen. Daß Selysses sich an den Unterhaltungen beteiligt, verwundert den vorgebrachten Erklärungen zum Trotz.

17.9.1911
Zur Kur

Dienstag, 7. Februar 2012

Una bella compagnia

Mit Wittgenstein verzahnt


Nicht wenige, die unvorbereitet auf das Einbandbild der Taschenbuchausgabe von Austerlitz gestoßen sind, haben gedacht, Wittgenstein als Kind vor sich zu sehen, eine Annahme, die, obwohl falsch, im Grunde richtig ist. Noch vor Austerlitz, dem Titelhelden, betritt Wittgenstein das Buch als der Philosoph, der vermittels reinen Denkens versucht, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Ob er damit philosophiehistorisch richtig eingeordnet ist, mag dahinstehen, aber die Augenpaare auf der dritten Seite, gleich unter denen der nachtgewandten und mit dem Dunkel vertrauten Eule, sind wohl die seinen.

Von allen Photographien, die es im Buch zu betrachten gibt, erheben nur die auf dem Einband - im Text taucht sie noch einmal auf - sowie die Ablichtung der Rugbymannschaft mit Dafydd Elias als Flügelstürmer, den Anspruch, den fiktiven Helden Austerlitz abzubilden, mithin sehen wir ihn einmal im Vorschulalter und dann noch einmal als Jugendlichen. Wir können Austerlitz’ Aussehen, wenn wir denn darauf aus sind, nur ausgehend von diesen Belegen eines frühen und eines sehr frühen Stadium seines Lebens erschließen. Die Aufgabe wird dadurch erschwert, daß er auf den beiden Photos keine große Ähnlichkeit mit dem jeweils anderen Bild seiner selbst hat.

Im Text des Buches wird die auffallende Ähnlichkeit seiner Person mit der Ludwig Wittgensteins ausdrücklich bestätigt, der entsetzte Ausdruck, den sie beide trugen in ihrem Gesicht, ist ein verbindendes Merkmal. Wenn ich auf eine Photographie von Wittgenstein stoße, so ist es, als blicke mir Austerlitz aus ihr entgegen, oder, wenn ich Austerlitz anschaue, als sehe ich in ihm den unglücklichen, in der Klarheit seiner logischen Überlegungen ebenso wie in die Verwirrung seiner Gefühle eingesperrten Denker, dermaßen auffällig sind die Ähnlichkeiten zwischen den beiden, in der Statur, in der Art, wie sie einen über eine unsichtbare Grenze hinweg studieren, in ihrem nur provisorisch eingerichtetem Leben, in dem Wunsch, mit möglichst wenig auslangen zu können, und in den für Austerlitz nicht anders als für Wittgenstein bezeichnenden Unfähigkeit, mit irgendwelchen Präliminarien sich aufzuhalten. – Nicht erwähnt wird die Haartracht der beiden.

Austerlitz’ Frisur findet aber schon sehr früh Erwähnung, gleich bei seinem ersten Auftreten im Antwerpener Bahnhof: Ein beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewellten Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm. Der Leser allerdings war nicht auf Siegfried eingestellt, sondern eben auf Wittgenstein, denn die Haartolle des Knaben im Pagenkostüm, von dem her wir uns Austerlitz denken sollen, entspricht in geradezu frappierender Weise der des erwachsenen Philosophen. Es ist genau diese Tolle, neben der auf ein gut situiertes Elternhaus hinweisenden Ausstaffierung, die uns hinter der Abbildung des fiktiven Austerlitz den realen Wittgenstein annehmen läßt.

Der Text allerdings ist an dieser Stelle auf die Gleichstellung noch gar nicht vorbereitet, auch gelingt mit Siegfried als optischem Partner ein gewagter humoristischer Kontrapunkt, der mit Wittgenstein ganz und gar nicht zu erreichen gewesen wäre. Austerlitz als germanischer Heroe, um alles in der Welt! Ausgaben mit einem anderweitig dekorierten Einband, etwa mit dem für Austerlitz, Wittgenstein und Selysses gleichermaßen unverzichtbaren Rucksack oder mit dem Wandereremblem, interferieren nicht in dieser Weise mit dem Lesevorgang. Auf den Einfall, zur Einstimmung des Leserschaft auf Langs Siegfried zurückzugreifen, ist bislang noch kein Editor gekommen, oder gerade erst in diesem Augenblick.

Im Gespräch hat Sebald sein Verhältnis zu Wittgenstein erläutert: Wittgenstein gehört zu meinen ständigen Begleitern, nicht so sehr, weil ich seine Philosophie sehr gut verstünde – das versteht ja bekanntlich fast niemand -, sondern weil ich die Geschichte seiner Persönlichkeit, wie sie sich entwickelt hat, mit all den pathologischen Facetten, die dazugehörten, für endlos faszinierend halte. Ich kann mich einfach nicht satt sehen, wenn man das so sagen kann, auf diese Weise, an den Bildern, die es von ihm gibt; nicht nur die Bilder seiner Person, sondern dem ganzen sozialen Umfeld. Das verzahnt sich irgendwie auf eine auf so eine vielfältige Weise mit meinen Interessen, daß er sozusagen zu einem Kompagnon, einem insgeheimen Kompagnon geworden ist für mich. - Was bedeutet VERZAHNT für das Werk?

Das Wort Kompagnon verweist bei Sebald auf eine sehr enge und tiefgehende Verbindung, sind doch für Mme Landau die ziemliche Anzahl von Männern, die sie – des näheren, wie sie mit spöttischem Gesichtsausdruck hervorhob – kennengelernt hat, in der Rückschau durch die Bank ungehobelte Klotz gewesen, wohingegen man sich einen umsichtigeren und unterhaltsameren Kompagnon einfach nicht habe wünschen können als den von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen Paul. Paul Bereyter ist, für jeden Sebaldleser leicht erkenntlich, eine frühe Version des Austerlitz – wobei mit früh keinerlei Gedanke des Minderen zu verbinden ist – und damit nach den Gesetzen der Logik, wenn A gleich B &c., ein weiterer Kompagnon Wittgensteins. Dessen Verzahnung, oder, wenn man die Gewebe- der Maschinenmetapher vorzieht: Verflechtung in die Texte beginnt mehr und mehr sichtbar zu werden.
Wenn sich Sebald auch, nach eigenem Eingeständnis, mit der Philosophie Wittgensteins nicht näher beschäftigt hat, so mögen ihm doch verschiedene seiner Aphorismen und Aussprüche zugesagt haben: Die Methode zu Philosophieren ist sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen - Sebald beansprucht für das Verfassen belletristischer Prosa eine ähnliche Position am Rande des Wahnsinns. Oder: Es ist mit ziemlich gleich, was ich esse, wenn es nur immer das Gleiche ist – man kann sich gut vorstellen, es sei Wyndham Le Strange, der Florence Barnes auf diese Weise instruiert, und andererseits muß Selysses bereits büßen für seine Neigung zu durchaus maßvollem Feinschmeckertum, ersichtlich zur Schadenfreude seines Doppelgängers außerhalb des Textes: Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht.

Auch Wyndham Le Strange gehört zur Compagnia. Mit Wittgenstein ist er nicht über des Aspekt des Aussehens verbunden - über seinen Gesichtsausdruck, seine Statur und Frisur sind wir nicht unterrichtet - wohl aber durch ein ebenso provisorisch wie endgültig eingerichtetes Leben und den Wunsch, mit möglichst wenig und ausschließlich mit schon Vorhandenem auslangen zu können, im Kern also über das Motiv des mißachteten Reichtums. Wittgenstein hat auf sein Vermögen verzichtet, weil er sich, nach eigenen Worten, wie ein aufgeblasener Schlauch gefühlt habe, solange er dieses Geld hatte. Daß er das Geld nicht Notleidenden oder wohltätigen Organisationen gab, sondern seinen ohnehin reichen Geschwistern, kreiden Menschen mit Gemüt ihm an, er habe keine soziale Sensibilität besessen, sagen sie. Auch Le Strange läßt alle philanthropische Anstalten vermissen, denn wenn er sein gesamtes, mehr als beträchtliches Vermögen der Haushälterin hinterläßt, so nicht weil sie arm, sondern nur weil sie seine naturgemäße und überdies einzig in Betracht kommende Erbin war, und außerdem wissen wir über das Verhältnis der beiden ohnehin nichts genaues. Cosmo Solomon, der ausschließlich mit dem dunklen Vokal O ausgestattete amerikanische Kompagnon des hellautenden Wittgenstein, betreibt offenbar auch ohne jedes soziale Gewissen gezielte Geldvernichtung, indem er sich viel an Plätzen wie Saratoga Springs und Palm Beach aufhält, einesteils, weil er ein hervorragender Polospieler war, und zum anderen, weil er in Luxushotels wie dem Breakers, dem Poinciana oder dem American Adelphi ungeheure Mengen Geld durchbringen konnte, woran ihm damals offenbar vorab gelegen war.

Thomas Bernhard gehört zum einen aus eigener Kraft, unabhängig von Wittgenstein zur Compagnia: Thomas Bernhard ist von sehr zentraler Bedeutung für mich gewesen, nicht nur weil ich seine Bücher für wunderbare komödiantische Kabinettstücke gehalten habe, sondern weil mich überhaupt diese Position, die er einnahm, die des großen Satirikers immer fasziniert hat. Bernhard war ein Fastenprediger. Ich sehe ihn wenn ich denke, irgendwie auf einer Kanzel, wie er also das Sonntagspublikum sozusagen fix und fertig macht, bis sie also nicht mehr schnaufen können. Mit Emyr Elias hat Sebald einen Prediger vom Schlage Bernhards entworfen, am Sonntag führte er der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen, so daß nicht wenige am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen.

Aber auch Bernhard war ähnlich wie Sebald von Wittgenstein fasziniert. In der Korrektur baut Wittgenstein noch einmal das Haus für seine Schwester, in der kleinen Farce Goethe schtirbt sehnt sich der Großmeister angesichts des nahenden Todes nur noch nach einem, nach Wittgenstein, und auch dem Neffen Paul wurde ein eigenes Buch gewidmet. Mehrfach wird auch ein großes Vermögen weggeschenkt, in der Auslöschung durchaus ethisch sensibel, möchte man meinen, an die Israelitische Kultusgemeinde. Es hat nichts geholfen, im Rahmen einer speziellen Form der Literaturkritik wurde nachgewiesen, daß damit das höchstmögliche Maß an politischer Korrektheit glatt verfehlt wurde. Worin das Schenkungsideal bestanden hat und wohl noch weiter besteht, ist dem Gedächtnis leider entfallen.

Le Strange begegnet uns in Verbindung mit christlichen Heiligen. Umschwärmt von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln ähnelt er dem Heiligen Franz, als er ein Erdloch als Wohnung bezieht, wird er offen dem Heiligen Hieronymus verglichen. Auf eine christliche Gesinnung kann nicht geschlossen werden, von Le Stranges Gedankenwelt wissen wir gar nichts, es sind mentale Bilder des Betrachters, die sich einstellen angesichts des wenigen, das über den Zaun des Grundstückes zu erblicken ist. Nach eigenem Bekunden areligiös aber der Metaphysik zugetan, konnte und wollte Sebald auf den christlichen Bildervorrat nicht verzichten. Franziskus und Hieronymus sind keine Heiligen der guten Werke, keine Meliorationsheilige, sondern Gebetsheilige, Einsiedler, Heilige der Askese mit geringer sozialer Sensibilität, wenn man auf den Wittgensteinkritiker zurückkommen will, Benns schwarze Kutten, auch wenn Le Strange einmal in einem kanariengelben Gehrock und dann wieder in einem veilchenfarbenen Trauermantel paradiert. Inmitten des die Gegenwart dominierenden, sich überschlagenden säkularen Meliorismus - überschlagend in dem Sinn, daß er fortwährend mehr Verbesserungsbedarf erzeugt als er stillen kann - ließe sich ein Meliorationsheiliger gar nicht mehr identifizieren. Sebalds, von Wittgenstein angeführte säkulare Heilige sind Einsiedler und Asketen, ihr Vermögen steht nicht zur Verfügung der Weltverbesserung, die, zahllosen Belegstellen im Prosawerk zufolge, die Weltverschlechterung als unveräußerliche Kehrseite hat.

Den Übergang vom christlichen zum säkularen Heiligen markiert bei Sebald der heilige Georg. Bei Grünewald tritt er uns entgegen, steht zuvorderst am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten, das mittelalterliche Tableau verlassen, bei Pisanello geht von seiner glorreiche ritterlichen Erscheinung etwas herzbewegend Weltliches aus. Wer behauptet, Sebald habe seine beiden Vornamen gehaßt und sich daher Max rufen lassen, hat ganz abgesehen davon, daß Sebald sich im Gespräch ausdrücklich zum G innerhalb des WG bekennt, das Werk offenbar nicht gelesen. Eher schon ist ihm der Name seines Patrons als unpassend für den Alltag erschienen. Der Heilige Georg ist ein weiterer Kompagnon, vermittels dessen Sebald sich als Selysses selbst zum Kompagnon wird, Mitglied der der von ihm entworfenen Compagnia.
Wittgenstein der Kompagnon und mehr oder weniger eng verzahnt mit ihm Bereyter, Austerlitz, Le Strange, Cosmo Solomon, Bernhard, auch, aber nur mit einem Fuß, Emyr Elias, San Giorgio, Selysses, una bella compagnia. Kafka steht einsam am Rande, ein Riese, keineswegs eine Randfigur.

Sonntag, 5. Februar 2012

Zur Kur


Nach meiner Ankunft ging ich sogleich in den Kurgarten und bin dort, während der frühen Nachmittagsstunden, auf einer steinernen Bank unter einer Zeder gelegen. Ich hörte die Luft aus- und einstreichen durch das Astwerk und das feine Geräusch, das der Gärtner machte beim Rechen der Kieswege zwischen den niedrigen Buchsbaumhecken, deren sanfter Geruch selbst jetzt noch im Herbst die Luft erfüllte. Lang war mir nicht mehr so wohl gewesen. Dennoch erhob ich mich schließlich. Beim Hinausgehen aus dem Garten beobachtete ich eine Zeitlang ein weißes türkisches Taubenpaar, das mehrmals hintereinander mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel sich erhob, eine kleine Ewigkeit stillstand in der blauen Himmelshöhe und dann, vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut, herabsegelte, ohne sich selbst zu rühren um die schönen Zypressen herum, von denen die eine oder andere vielleicht an die zweihundert Jahre schon gestanden hatte an ihrem Platz. Ich trat in den Vorhof hinaus, wusch mir an dem in die efeuüberwachsene Gartenmauer eingelassenen Brunnen, wie ich es beim Hineingehen schon getan hatte, das Gesicht und die Hände, warf einen letzten Blick zurück auf den Garten und erwiderte, indem ich mich dem Ausgang zuwandte, den Gruß der Pförtnerin, die mir aus ihrem dunklen Gehäuse heraus zunickte. Daß ich den Park so menschenleer gefunden hatte war ein Wunder und dann auch wieder nicht, denn während der Kur ist hier der Tag für alle ausgefüllt von Anwendungen, wie das Baden, Massiertwerden, Turnen und so weiter heißt, und von der Vorbereitungsruhe von diesen Anwendungen und der Erholungsruhe nach ihnen. Die Mahlzeiten allerdings nehmen wenig Zeit weg, da sie als Apfelmus, Kartoffelpurée, flüssiges Gemüse, Obstsäfte und so weiter sehr rasch, wenn man will ganz unbemerkt, wenn man will aber auch sehr genußreich hinunterrinnen, nur ein wenig aufgehalten von Schrotbrot Omeletten, Puddings und vor allem Nüssen. Dafür aber werden die Abende gesellig verbracht, sei es, daß man sich einmal mit Grammophonvorträgen unterhält, wobei wie im Züricher Münster Damen und Herren getrennt sitzen und bei lärmenden Liedern, zum Beispiel beim Sozialistenmarsch, das Hörrohr mehr den Herren zugewendet wird, während bei zarten oder besonders genau zu hörenden Stücken die Herren auf die Damenseite gehn, um nach Beendigung wieder zurückzukehren oder in einzelnen Fällen dort zu bleiben für immer. Man könnte meinen, bei diesen Unterhaltungen müßte ich nicht dabei sein. Das ist aber nicht wahr. Für den Besuch des Parks ist es dann ohnehin zu spät, und man muß sich doch irgendwie für den teilweise wirklich guten Erfolg der Kur bedanken, und dann sind hier schon so wenig Gäste, daß man wenigstens absichtlich sich nicht verlieren kann. Endlich sind aber auch die Beleuchtungsverhältnisse ziemlich schlechte, ich wüßte gar nicht, wie ich allein schreiben sollte, selbst bei diesen wenigen Zeilen geht etwas Augenlicht drauf.

Samstag, 4. Februar 2012

Kommentar Zwei

Eine lebens- und liebeserfahrene Frau blickt nachdenklich zurück. Was ihre Liebeserfahrung anbelangt, so schätzt sie sie gering ein, aus der ziemlichen Anzahl von Männern, die sie gekannt und näher gekannt hat, war ihr, wie sie dem jüngeren Gesprächspartner erläutert – aber woher wissen wir eigentlich, daß er jünger ist? – wie auch immer: einer nur war ihr wichtig, der arme Franz, le pauvre François, wie sie, möglicherweise eine Französin, Schweizerin oder auch Belgierin, ihn nennt, ein von seiner inneren Einsamkeit nahezu zerfressener Mensch. Gerade wer so einsam ist, braucht jemand zweites, der Lebensüberdruß ist allenfalls erträglich, wenn er an den eines anderen stößt, und Hilfe naht von der furchtbare Separation der Geschlechter. Sie versetzt sich auf die Seite männlichen Erlebens und ersinnt eine Frau, die, getreu der Vorstellung weiblichen Verhaltens, zum Ausruf Ekelhaftes Leben mit dem Fuß aufstampft. Das führt zu einer gewissen Aufrichtung des Mannes, der im gleichen Augenblick Gleiches denkt. Offenbar berichtet sie aus ihrem Zusammenleben avec le pauvre François, auch wenn es ohne Fußaufstampfen abgegangen ist. – Heißt es im Manuskript tatsächlich gerötet, getröstet wäre eher zu erwarten. Vielleicht aber ist an die Morgenröte oder ähnliches gedacht. 
 
Anfang 1908

Kommentar Vergeltung

In welchem Verhältnis der Verfasser des Briefes zu der Empfängerin, einer gewissen Sophie, steht, wird im einzelnen nicht deutlich, in jedem Fall aber gibt er sich Mühe beim Schreiben des Briefes. Die Fahrt hinunter zur Küste, zumeist im Leerlauf, dann aber auch immer wieder die mit einem gewaltigen Schlag im Getriebe einsetzende Motorkraft, wird fast lebendiger, als wenn man sie selbst unternommen hätte. Aber womöglich macht er sich nicht speziell für sie die Mühe, sondern kann nicht anders, hat sein Metier im Verfassen überragender Prosa. Die, so hat es den Anschein, eigens für Sophie entworfene Interpretation des Buchtitels einer seinerzeit nicht einmal unbekannten amerikanischen Kriminalschriftstellerin wirkt denn auch, bei aller Originalität, ein wenig an den Haaren herbeigezogen, und es bleibt offen ob Sophie sie nachvollziehen kann. Als der Reisende wieder zum Fenster herausschaut, scheint es, als sei der Tag der Vergeltung über das Land hinweggegangen. Vergeltung wofür? Diese Frage sollte man nicht stellen, wenn Kafka in der Nähe ist. 
 26.2.1911

Freitag, 3. Februar 2012

Tag der Vergeltung

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Was könnte ich Interessantes berichten von meinem kleinen Ausflug, liebes Fräulein Sophie? Mit einem alten, bis an die Fensterscheiben hinauf mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen bin ich an die Küste hinuntergefahren. Meine wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten lilafarbenen Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. Die meiste Zeit rollte der unsicher auf den Schienen schwankende Wagen im Leerlauf dahin, denn es geht dem Meer zu fast immer leicht bergab. Nur zwischendurch, wenn mit einem das ganze Gehäuse erschütternden Schlag das Triebwerk in Gang gesetzt wurde, war eine Weile das Mahlen der Zahnräder zu hören, ehe wir unter gleichmäßigem Pochen weiterrollten wie zuvor, an Hinterhöfen und Schrebergartenkolonien und Schutthalden und Lagerplätzen vorbei in das der östlichen Vorstadt sich ausdehnende Marschland hinaus. Für Ihre Hausbibliothek kann ich Ihnen aber ein Buch empfehlen, den Roman Der Tag der Vergeltung von A.K. Green, den ein Mann zwei Reihen hinter mir, auf der anderen Fensterseite gelesen hat – ich habe mich ein-, zweimal nach ihm umgesehen. Hat das Buch nicht einen bedeutungsvollen Titel? Der Tag ist eine Fahnenstange, das erste der sind die Pflöcke unten, das zweite der ist die Seilbefestigung oben, die Vergeltung ist ein, wenn schon nicht schwarzes, so dunkles Fahnentuch, dessen Sichdurchbiegen vom e zum u durch einen mittelstarken Wind (besonders das ng schwächt ihn) hervorgerufen wird. Durch das Coupéfenster gab es, nicht nur wegen des Schmutzes, wenig zu sehen, ab und zu ein einsames Flurwächterhäuschen, Gras und wogendes Schilf, ein paar niedergesunkene Weidenbäume und zerfallene, wie Mahnmale einer zugrundegegangenen Zivilisation sich ausnehmende Ziegelkegel, die Überreste ungezählter Windpumpen und Windmühlen, deren weiße Segel sich einst gedreht hatten über den Marschwiesen überall hinter der Küste.
Natürlich wäre ich stolz, wenn Sie bei meinem nächsten Besuch den Tag der Vergeltung schon hätten.

Donnerstag, 2. Februar 2012

Zu zweien

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Le pauvre François, sagte sie selbstvergessen und meinte dann, zu mir wieder hersehend, sie habe in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern – des näheren, wie sie mit spöttischem Gesichtsausdruck hervorhob – kennengelernt, die sämtlich auf die eine oder andere Art von sich eingenommen gewesen seien. Jeder dieser Herren, deren Namen sie, gottlob, größtenteils vergessen habe, sei lediglich nur ein ungehobelter Klotz gewesen, wohingegen man sich einen umsichtigeren und unterhaltsameren Kompagnon einfach nicht habe wünschen können als den von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen François. Das Leben mag ekelhaft sein, fügte sie nach längerem Schweigen hinzu. Gut, es ist ekelhaft, aber es ist nicht mehr so arg, wenn man es zu zweien sagt, denn das Gefühl, das einen zersprengt, stößt an den andern, wird durch ihn gehindert, sich auszubreiten, und sicher sagt man sich als Mann: Wie hübsch sie ekelhaftes Leben sagt und mit dem Fuß aufstampft dabei. Das dürfe ich im übrigen nicht so wörtlich nehmen, sagte sie mit einem Lächeln, mit dem Fuß aufzustampfen habe nie zu ihren Gewohnheiten gehört, sie mache nur rhetorischen Gebrauch von dieser als weiblich, mädchenhaft geltenden Geste. Die Welt sei auch zu zweien noch traurig, aber doch gerötet traurig, und ist denn, fragte sie noch, lebhafte Trauer von Glück so weit?



Mittwoch, 1. Februar 2012

Tired Eyes

Erschöpfte Detektive

Im Fernsehprogramm überwiegen die Filme mit kriminalistischem Einschlag gegenüber den verbrechensfreien, in den Buchhandlungen wachsen die mit Kriminalromanen gefüllten Regale ständig an. Mancher wird sich schon gefragt haben, warum in einer Umgebung, die den Frieden als höchstes Gut deklariert, so viele Menschen Mord und Todschlag als liebstes Freizeitvergnügen haben. Die Arten und Unterarten innerhalb der verbrechensgeneigten Film- und Literaturgattung sind ins Unermeßliche gewachsen. Neben den klassischen Detektiv englischer Provenienz, ausgezeichnet durch eine unfehlbare Beobachtungsgabe und eine nicht weniger unfehlbare Kombinatorik, trat schon bald der hard-boiled Private Eye amerikanischer Machart. Holmes und Poirot auf der einen und Marlowe und Spade auf der anderen Seite können sich mittlerweile an einer Unzahl mehr oder weniger verzerrter Spiegelbilder ihrer selbst erfreuen. Es gibt Serien, die eine ganze Polizeiwache oder NYPD-Precinct zum Protagonisten haben. Maigret steht wegen seiner unerschütterlich monogamen Einstellung ein wenig abseits, begründet aber vor allem die auf Einfühlung in das Milieu und, in der Endphase der Recherche, mystischer Versenkung beruhende Fahndungsmethode, ein schwerfälliger und fortwährend Tabakrauch ausstoßender Meister Eckhart im kriminellen Umfeld. Weitere wären zu nennen, insgesamt den Sieg davongetragen hat bis auf weiteres der auf den Hauptstraßen des Lebens gescheiterte, auf die eine oder andere Weise, wie es heißt, gebrochene Ermittler, ein Loser, der den Siegern nichts abgewinnen kann.

Verläßt man in der Buchhandlung das Regal mit den Kriminalromanen und gelangt in der Abteilung Deutsche Literatur zum Buchstaben S und dort zu Sebald, mag man glauben, sich vom Whodunit oder Roman Noir so weit entfernt zu haben wie nur möglich. Der Erzähler der Schwindel.Gefühle nennt aber das, woran er schreibt, und was dann die Schwindel.Gefühle sein werden, einen Kriminalroman. Die Vier langen Erzählungen sind sämtlich Ermittlungsberichte vor einer Wand enormer Verbrechen, ebenso die überlange Erzählung Austerlitz, und gleich zu Beginn der Ringe des Saturn wird eine Fahndung nach dem Totenschädel Thomas Brownes eingeleitet. Weitere Untersuchungen führen den Wanderer im Südosten Englands dann zum Zaun, der das Besitztum des Majors Wyndham Le Strange einfriedet und über den hinweg nur wenig zu erblicken ist.

Die Untersuchungen in Sebalds Büchern werden ganz überwiegend von dem hier Selysses genannten Erzähler durchgeführt, gegen Ende der Erzählung Paul Bereyter wird aber auch der Titelheld selbst investigativ tätig. Zur gleichen Zeit aber werden seine Augen endgültig müde, das Augenlicht droht zu erlöschen. Wyndham Le Strange ist schon bald dem, was er hatte sehen müssen, nicht mehr gewachsen und schränkt sein Gesichtsfeld radikal ein. Nachdem er an der Befreiung von Bergen Belsen teilgenommen hat, zieht er sich in noch jungen Jahren auf sein Landgut zurück, mit einer zum Schweigen angehaltenen Haushälterin und allem möglichen Federvieh, Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln als einzigen Gefährten bis zum Tod. In Jed Martin, dem Protagonisten aus Houellebcques letztem Roman, hatten wir einen Gesinnungsgenossen erkannt. Auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Erfolges als bildender Künstler Jed décida de déménager pour s’installer dans l’ancienne maison de ses grands-parents dans la Creuse. Er arrondiert das Grundstück durch Zukauf auf einen Umfang von nicht weniger als siebenhundert Hektar, zäunt das fortan ungenutzte Gelände ein und baut eine Straße hindurch, die es ihm erlaubt, ohne Berührung mit der umwohnenden Dorfbevölkerung von seinem Versteck aus einen einigermaßen entfernten Supermarkt zu erreichen. Indem sie ihm die biologische Existenz ermöglicht, tritt die Straße bei ihm gleichsam an die Stelle von Le Stranges Haushälterin.

Erstaunlich ist, daß ein ähnliches Verhalten inzwischen auch bei den Detektiven auftritt. In Peter Temples Buch Broken Shore (An Iron Rose, ein anderes Buch des Autors, hat ein ganz ähnliches Szenarium) hat Cashin, nach einem mißglückten Einsatz als homicide detective bei der Mordkommission Melbourne körperlich und seelisch erheblich lädiert, sich auf den Polizeiposten seines Heimatortes, einem kleinen Küstenflecks, versetzen lassen. Seine beruflichen Verpflichtungen sind kaum spürbar, vor allem anderen beschäftigt ihn der Wiederaufbau einer von seinem Großvater hinterlassenen einsamen Bauruine, eine Aufgabe, die seine Fähigkeiten im Grunde bei weitem übersteift, die er aber gleichwohl beharrlich verfolgt. Die Stelle des Federviehs bei Le Strange nehmen bei ihm zwei Königspudel ein. Der endgültige Übertritt ins Emeritenleben, eingemauert, ohne weitere Teilnahme an der Welt, hat sich bereits so gut wie vollzogen, als er dann doch in ein kriminalistisches Geschehen einbezogen wird, das der Autor mit viel Geschick aber gleichsam als Nebenhandlung präsentiert. Nur ein Schritt, nur ein Wimpernschlag der müden Augen, die nichts mehr sehen wollen, trennen den Detektiv vom säkularen Mönch.
Die offenliegenden Strukturen des Kriminalromans setzen verborgene Strukturen bei Sebald besser ins Licht. Der Kriminalroman ist ein legitimes Kind der Aufklärung. Die Wahrheit über das Verbrechen soll nicht länger durch ein Gottesurteil offenbart oder durch Folter erzwungen, sondern vom Detektiv mit dem Verstand eben: aufgeklärt werden. Aufklärung im philosophischen Sinn hat aber einen doppelten Sinn. Zum einen geht es um die Erhellung der Verhältnisse, mehr aber noch um die Erwartung, daß die geklärten Verhältnisse sich als klarer und heller erweisen, als zuvor vermutet, so als müsse das Licht alles, worauf es fällt, zum Guten verwandeln, als habe alles, was bislang im Dunklen lag, nur ungerecht beurteilt werden können, als habe jedes Vorurteil einen finsteren, jedes Urteil aber notwendig einen lichten Kern. Innerhalb dieses Erwartungshorizonts hätte dem Kriminalroman von Rechts wegen nur eine kurze Lebensdauer beschieden sein können, in einer gänzlich hellen Welt wäre ihm der Stoff ausgegangen. Offenbar aber ist der Vorrat an Dunkelheit unerschöpflich. Dem klassischen Detektiv war das nur recht, Holmes verfiel ohne zu lösenden Fall nach sehr kurzer Frist schon in Depressionen, Nero Wolfe war für seine aufwendige Haushaltung auf eine nicht abreißende Kette von Mandaten angewiesen. Immerhin, so konnte man glauben, wurde die Welt durch ihr Tun immer wieder für ein spürbares Stück zurechtgerückt. Dieses Gefühl ist den modernen Detektiven mehr und mehr abhanden gekommen und Sebald naturgemäß noch gründlicher. Von dem Kindheitstraum aber will auch er nicht lassen, dem Traum einer Welt, in der alles auf das beste geordnet war, so als setze sie sich tatsächlich bloß aus Wörtern zusammen, als wäre auch das Entsetzlichste in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit - ein Traum, der in all seiner Schlichtheit auch noch der elaboriertesten Erzählkunst zugrunde liegen kann, so als könne er hier, durch eine kleine Verschiebung nur, wahr werden. Viele, die das haltlos sich ausbreitende Dunkel spüren, versuchen, es durch Kriminalgeschichten notdürftig in Schach zu halten. Open up the tired eyes - aber nicht zu sehr.

Kommentar Winter

Jeder kennt die Wirkungen der Jahreszeiten auf das Gemüt, wenn sie sich auch bei den einzelnen höchst unterschiedlich sind. Einige verspüren viel, andere wenig, die einen macht der Sommer froh, andere der Winter. Hier spricht jemand, der in besonderem Maße dem Einfluß des Jahresverlaufs ausgesetzt scheint und den Winter als Leidenszeit erlebt. Daß er unaufhörlich durch unvollendete Selbstmorde stolpere, ist allerdings als absoluter Umstand vorausgeschickt, nicht durch die Winterzeit hervorgerufen, von ihr nur verstärkt. In der als glückhaft anzusehenden Kindheitserinnerung ist der Traum eines tiefen Winterschlafs, einer Art temporärer Leblosigkeit gestaltet. Im Frühjahr könnte nach übersprungener Zeit das Leben dann neu beginnen. Ganz so ist es nicht, aber immerhin, die Fenster und die Türen gehen auf und die gleiche Sonne und Luft dringt vom Garten aus in die Zimmer. Den Fluch des Lebens wird man nicht los, ist ihm aber für den Augenblick gewachsen.
April 1909