Sonntag, 8. Januar 2012

Las einst Stifter


Ich war sehr traurig

Wer den Nachsommer ein erstes Mal liest, sieht sich ins Paradies versetzt, das war wohl die Absicht des Autors. Bei der zweiten Lektüre fragt man sich, ob es nicht eher die Hölle ist und hat jedenfalls keinen Zweifel, daß sich der Zorn der 68er Rebellen ganz ausdrücklich und nicht ohne Grund gegen dieses Buch gerichtet hat. Bei einer dritten Lektüre stellt man sich zur Abwechslung vor, das Buch sei von einem Autor unserer Tage verfaßt und hat dann für Augenblicke das Gefühl eines seltsamen Avantgardismus, in dem man kaum Fuß fassen kann.

Selysses liest Stifter nicht, Stifter kommt in Sebalds erzählerischem Werk nicht vor und er wurde auch nicht ins Landhaus eingeladen. Die Einschätzung seiner eigenen Prosa als altväterlich und stifternah hat Sebald, bei zugestandener und betonter Nähe zur süddeutschen Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts, eher amüsiert als geärgert, und in der Tat, in Sebald einen Epigonen Stifters zu sehen, ist ein Urteil aus dem Reich der Blinden und Tauben. Der Literaturwissenschaftler Sebald hat zwei Aufsätze zu Stifter veröffentlicht, die spürbar anders und weniger verwandtschaftlich ausfallen als die zu Keller, Hebel oder Robert Walser. Er schätzt Stifter deswegen nicht gering, wenn er sich selbst vor die Wahl zwischen Storm und Stifter stellt, gibt er Stifter den Vorzug. Wie andere auch mag er den Nachsommer als ein schwer erträgliches Werk von eigenartiger Schönheit angesehen haben.

Reger in Thomas Bernhards Alten Meistern hält nur noch ausgesprochen wenig von Stifter, den er einmal geliebt hat: Stifters Prosa ist alles andere als gestochen und sie ist die unklarste, die ich kenne, sie ist vollgestopft mit schiefen Bildern und falschen und verqueren Gedanken. Stifter ist auf den längsten Strecken seiner Prosa ein unerträglicher Schwätzer, er hat einen stümperhaften und, was das Verwerflichste ist, schlampigen Stil, der noch dazu grammatikalisch unter aller Kritik ist, und er ist tatsächlich außerdem auch noch der langweiligste und verlogenste Autor, den es in der deutschen Literatur gibt. - Es gibt keinen Beleg dafür, daß Bernhard die Einschätzung seines Helden teilt, offenbar aber verleiht er ihr mit einigem Genuß Sprache. Richtig ist in jedem Fall, daß Stifter immer wieder mit grammatikalischen und syntaktischen Wendungen überrascht, die auf einem alten, inzwischen verschollenen Regelwerk fußen müssen.

Wie dem auch sei, nicht nur in den Alten Meistern, sondern auch im Nachsommer geht es in nicht unerheblichem Maße um die alten Meister und um die Frage der Perfektion in der Kunst und, bei Stifter, auch im Leben. Noch in jedem dieser Meisterwerke, so Reger, habe er einen gravierenden Fehler, habe er das Scheitern seines Schöpfers gefunden und aufgedeckt. Adorno spricht wohl auf eine ganz ähnliche Erfahrung an, wenn er im Feuerwerk die perfekteste Form aller Künste sieht, da sie sich das Bild im Moment seiner Vollendung dem Betrachter wieder entzieht: nur was sich durch sofortiges Verschwinden der Probe aufs Exempel entzieht, kann Perfektion behaupten. Stifter aber zielt auf Perfektion in Ewigkeit.


Er benötigt dafür eine extrem auf- und ausgeräumte Welt, die erstarrt in ihrer Ordnung. Bücher stehen in Schränken hinter Glastüren, einzelne können für den Leseakt entnommen werden und sind dann zurückzustellen, auf den Tischen können sie nicht verbleiben. Die Bilder sind in einem Bilderzimmer gesammelt, Drucke und Stiche liegen in Mappen unter Verschluß. Über die Frage, ob ein Haus besser getüncht oder ungetüncht dasteht, vergehen nicht wenige Seiten. Im Garten findet sich kein kranker Ast, kein welkes Blatt. Eine sinnreich eingewöhnte Vogelwelt hält Raupen und Insekten in Schach, ein Blatt, das dennoch Schwäche zeigt, wird umgehend gerupft. Es fehlen Gartenschädlinge wie Spring- und Wühlmäuse, denen die Singvögel nicht gewachsen sind. Die Baumstämme werden im Frühjahr gewaschen und danken es durch gesteigerte Lebenskraft. Die Domestizierung der Natur stößt, das ist zugestanden, an ihre Grenzen, im Gebirge und im Gestein versiegen die Möglichkeiten des Menschen in Raum und Zeit. Eie erste Antwort liegt im Wechsel der inneren Gestimmtheit: solche Fragen stimmten ernst und feierlich.

Der Stil entspricht der dargestellten Welt in ihrem aufgeräumten Zustand. Die leichtgebauten Sätzen bewegen sich von einem Dingabstraktum zum nächsten: Gegenstände, Geräte, Seltenheiten, Kostbarkeiten, Schnitzarbeiten, - selten wird etwas in seiner individuellen Dinglichkeit gewürdigt. Das Leben der Protagonisten scheint wie ein bloßes Wandeln zwischen den Kostbarkeiten, mal die Bibliothek, mal das Bilderzimmer, mal das Altertumszimmer, mal die Marmorgestalt, mal die Kunstschreinerei, dann in den Garten, und, voller Abenteuerlust, darüber hinaus: Sie ging nicht bloß bei dem großen Kirschbaume öfter in das Freie, und ging dort zwischen den Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu der Straße. Ein der Zahl nach schwer überschaubares dienendes Personal ist derweil beschäftigt, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Einem insgeheim aufkommenden Überdruß an der eintönigen Lebensweise wird jederzeit ein Ortswechsel Herr, von der elterlichen Stadtwohnung ins Rosenhaus, von dort ins Sternenhaus und zurück, dazwischen Aufenthaltsorte minderer Bedeutung. Zwischen Verlobung und Hochzeit schiebt Heinrich vorsorglich noch eine zweijährige Europareise ein, so als habe nicht alles schon lange genug gedauert. Gesellschaftliche Realität ist weitestgehend ausgeschlossen, auch die psychologische bis hin zu den üblichen Gemütsregungen. Man zuckt zusammen, als es an einer Stelle unvermittelt heißt: Ich war sehr traurig.


Selbstredend ist jeder Dichter hinsichtlich des von ihm behandelten Weltausschnittes hochselektiv, gerade bei Sebald aber hat man in besonderem Maße das Gefühl, er könne den Ausschnitt, wenn er nur wollte, beliebig erweitern, seinen unmittelbar in Sätze sich umformenden Blick auf jeden beliebigen Gegenstand richten. Stifter dagegen ist essentiell auf die getroffene Auswahl angewiesen, jedes zusätzlich eindringende Element könnte alles zerreißen. Auf der Handlungsebene geht es um wenig anderes als darum, das zu einem fragilen Kunstwerk umgestaltete Leben nicht nur unbeschadet, sondern auch ohne jede Änderung von der einen an die nächste Generation zu übergeben. Der unvermeidliche Wandel verharrt nach Möglichkeit unter einer unberührten Decke: das Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist, möge nur allgemach Platz finden und ohne zu große Störungen sich einbürgern. Der Generationswechsel ist keine Angelegenheit von Tagen, Wochen, Monaten oder auch Jahren, wie auf niedrigeren Stufen der Evolution wird auf dieser für die höchstmögliche gehaltenen, das ganze Leben zum Dienst an der Reproduktion, nicht der biologischen, wohl aber der kulturellen. Die ältere Generation kann im wesentlichen nur geduldig zuwarten, ist allerdings, sobald sich Gelegenheit ergibt, jederzeit auch zu ausufernden unterrichtenden Litaneien bereit, die begierig aufgesogen werden. Der Generationenwechsel hat alle Anzeichen einer säkularen Himmelfahrt der Jungen, bei der das Wundersame durch quälende Langsamkeit ersetzt ist. Als der junge Heinrich eine Theatervorstellung des König Lear besucht, macht man sich um ihn ernste Sorgen, wie nur soll er das auf der Bühne gezeigte mehr als schnöde Verhalten der Jungen den Alten gegenüber verkraften, das sein Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigen muß.
Die da oben warten, daß die Jungen zu ihnen aufrücken und sie abtreten können, haben, in deutlicher Ansprache ihrer Gottgleichheit: ihresgleichen nicht auf Erden. Aber auch vom göttlichen Generationenwechsel kann niemand behaupten, er sei glatt vonstatten gegangen. Unter den Gemälden Stifters findet sich neben zahlreichen Fels- und Waldstücken eine, offenbar einem älteren Gemälde nachempfundene Kreuzesabnahme. Der festgehaltene Augenblick ist nicht der der Himmelfahrt, aber der, an dem der geringe menschliche Beitrag an ihr einsetzt, nachdem der Tod am Kreuz schon alles zerstört zu haben schien. Auch der Freiherr von Risach selbst ist Exempel einer gescheiterten Stabübergabe zwischen den Generationen, erst ein später Sommer im Licht der geglückten Verbindung von Heinrich und Nathalie, beide nicht zuletzt von ihm bestens herangebildet, ist ihm gegönnt.Naturgemäß ist die Liebe zwischen Risach und Mathilde in dieser späten Phase zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an sich.

Eine Welt, in der die Menschen den Gegenständen dienen, in der jeder nicht sorgfältigst geprüfte Fortschritt unerwünscht ist und alles Betreiben nur dazu dient, das Erreichte unbeschädigt weiterzureichen: da mußte es notgedrungen zum 68er Aufstand kommen. Der Aufstand hat sein Ziel erreicht, der Mensch unserer Tage steht, wie er wollte und glaubt, inmitten von allem, und die Welt gruppiert sich als die fortwährend wachsende Menge der möglichen Konsumgüter um ihn. Dagegen, um auf die besondere Maßnahme der dritten Lektüre zurückzukommen, kann sich avangardistische Kunst richten. Stifter litt an einem krankhaften Konsumismus in Form einer zügellosen Freßsucht, und es fällt schwer, sein Bild einer nicht dem Konsum preisgegebenen, einer nicht nur zu respektierenden, sondern zu verehrenden Welt, mit den menschgemachten schönen Gegenständen, den Kunstwerken zumal als Gefäßen der Weltverehrung, nicht als Gegenbild und Genesungssehnsucht anzusehen. Im Nachsommer sind die Mahlzeiten nach einer ehernen Regel angesetzt, undenkbar daß eine auch nur um eine Viertelstunde verschoben oder gar ausgelassen wird. Der Schrecken des Hungers ist damit gebannt, mehr Worte werden über das Essen nicht verloren, nur daß es in jedem Fall und immer sehr einfach ist.

Die verhandelte Frage, ob Gott lache, hat das Mittelalter dahingehend beschieden, daß er nicht lacht. Auch in Stifters säkularem Paradies wird nicht gelacht, Spuren von Humor sind, sofern vorhanden, zur Unkenntlichkeit gering. Sebalds Sätze sind immer von einem in seinen Bedeutungen ständig changierendem Lächeln getragen, nicht zuletzt bei den wenigen Essensszenen, wenn Selysses im Bahnhofsbistro zu Venedig um seinen Capuccino kämpft, auf Reisen ein geeignetes Lokal für die Abendmahlzeit sucht oder in Lowestoft die Gabel an einem panierten Fisch verbiegt. Sein Erleben einer sich verkonsumierenden, kombustierenden Welt geht offenbar nicht kontrastiv auf eine übermäßige Essensneigung zurück. Wenn er der Sehnsucht nach einer ausgewogenen Welt nachgibt, ist er weniger an Stifters mit allen Merkmalen des Zwanghaften ausgestatteten Version orientiert als an Hebels Welt, in der alles zum Besten geordnet scheint dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegengehalten werden, in denen das ausgestandene Unglück entgolten wird, wo auf jeden Feldzug ein Friedenschluß folgt, jedes Rätsel, das uns aufgegeben wird, eine Lösung hat, und selbst die kuriosesten Kreaturen wie die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der auf das sorgfältigste austarierten Ordnung.

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