Freitag, 30. September 2011

Kommentar Bücherhandwagen

Auch der wahre Leser, von dem es heißt, er würde, bei fehlender Alternative, auch das Telephonbuch einer großen Stadt wie Paris von vorn bis hinten durchlesen, verzagt angesichts der dortigen neuen Nationalbibliothek, in der auch noch die unschuldigsten Bücher wie Schwerstverbrecher in einem Hochsicherheitstrakt verwahrt sind. Wie eine Befreiung ist es da, an den Bücherständen am Seineufer entlangzugehen, wo die Bücher nicht nur die in ihnen enthaltenen Geschichten, sondern auch und vielleicht zuerst ihre eigene Geschichte erzählen wollen. Von besonderer Art ist das Erlebnis auf dem Boulevard Poissonnière, den wo schon stößt man heute noch auf einen Bücherhandwagen, der geheime, verbotene und unanständige Bücher feilbietet. Geschäfte dieser Art werden mittlerweile problemlos auf andere Weise abgewickelt.

Bücherhandwagen

Donnerstag, 29. September 2011

Internationaler Kaffeehausvergleich

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich setzte mich in eine der Bars an der Riva, trank meinen Morgenkaffee, studierte den Gazzettino und machte mit einige Notizen zu einem Traktat über König Ludwig in Venedig. Der Kaffee ist eigentlich immer gut in Italien. In Paris, vor wenigen Wochen, war ich zuerst gegen das Café Biard, weil ich glaubte, daß man dort nur schwarzen Kafe bekomme. Es zeigte sich, daß auch Milch zu haben war, wenn auch nur mit schlechtem schwammigen Gebäck. Als ich in einem guten Caffeehaus bei der Station der Versailler Dampfbahn den gelungenen Versuch gemacht hatte, Apfelstrudel und Mandelgebäck aus einer Bäckerei unter den Augen eines in der Tür lehnenden Kellners aufzuessen, führte ich das auch im Café Biard ein und fand, daß man dadurch abgesehen vom Genuß des feinen Gebäcks zum deutlichern Genuß des eigentlichen Vorteils dieser Cafee kommt, nämlich des vollständigen Unbeachtetseins bei ziemlich leerem Lokal, guter Bedienung, nahe allen Menschen hinter dem Pult und vor der immer geöffneten Ladentür. Nur muß man sich damit abfinden, wenn der Boden gekehrt wird, was wegen des unmittelbar von der Gasse hereinkommenden, an dem Pult sich hin und her schiebenden Besuchs häufig geschieht und wobei auch von der Gewohnheit nicht abgewichen wird, die Gäste nicht zu beachten. Das Pult brachte mit im übrigen in Erinnerung, daß der Kaffee in Italien zwar so gut wie immer von herausragender Qualität, aber oft nicht leicht zu erlangen ist. Gestern noch hatte ich ebenso entschlossen wie verzweifelt versucht, am von einem wahrhaft höllischen Lärm umbrandeten Stehbuffet in der Ferrovia einen Capuccino zu trinken. Als eine Art feste Insel ragte das Buffet heraus aus der wie in einem Ährenfeld schwankenden Menge der Menschen. Aus Leibeskräften mußte man zunächst, wenn man wie ich eines Billets ermangelte, sein Begehren zu den auf erhobenen Posten sitzenden Kassiererinnen hinaufschreien, die nur mit einer Art Schürze bekleidet, mit lockigem Haar und halbgesenkten Blick in völliger Ungerührtheit über den Häuptern der Bittsteller schwebten und willkürlich, wie mir schien, irgendeinen der von den einander durchdringenden und sich überschlagenden Stimmen vorgebrachten Wünsche herausgriffen, sodann den Preis des Verlangten hinausriefen in den Raum und huldvoll und verächtlich zugleich einem das Zettelchen und das Wechselgeld aushändigten. Einmal im Besitz des inzwischen einem schon lebenswichtig erscheinenden Billets mußte man sich in die Mitte der Cafeteria hinüberkämpfen, wo die männlichen Angestellten dieses ungeheuren Gastronomiebetriebs hinter einem kreisförmigen Buffet mit Todesverachtung geradezu dem andrängenden Volk gegenüberstanden und ihre Arbeit mit einer Gelassenheit erledigten, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Panik die Wirkung eines zerdehnten Zeitablaufs hervorbrachte. Der Eindruck, daß hier Gericht gehalten wurde über ein korrumpiertes Geschlecht, wurde noch dadurch verstärkt, daß den weißgekleideten, würdevollen Männern, die im Inneren des Kreises offensichtlich auf einer erhöhten Plattform sich befanden, das Buffet nur etwa bis zur Hüfte reichte, den Außenstehenden hingegen bis unter die Schultern, wo nicht gar bis zum Kinn. Mein Capuccino wurde serviert, und einen Augenblick war mir zumut, als hätte ich mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen. Er schmeckte, wie nicht anders erwartet, hervorragend.

Bücherhandwagen

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich glaube nicht, daß von den Lesern der alten Nationalbibliothek viele hinausfahren zu der neuen Bibliothek am Quai Francois Mauriac. Wenn man nicht mit einem jener führerlosen, von einer Gespensterstimme dirigierten Métrozüge an der in einem desolaten Niemandland gelegenen Bibliotheksstation ankommen will, ist man gezwungen, das letzte, meist sehr windige Stück am Flußufer entlang zu Fuß zu gehen bis zu dem in seinem Monumentalismus von dem Selbstverewigungswillen des Staatspräsidenten inspirierten und, wie ich gleich bei meinem ersten Besuch erkannt habe, in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisenden und den Bedürfnissen jeden wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetzten Gebäude. Zu ruhigem Atem kam ich nach dem Besuch der Bibliothek denn auch erst wieder, als ich, zurück im Stadtinneren, bei den Bouquinisten mit ihren artgerecht gehaltenen Büchern an den Ufermauern der Seine entlangging. In gewissem Sinne trostreich nach dem Aufenthalt in der Nationalbibliothek war selbst noch das Rufen einer Frau mit einem kleinen Bücherhandwagen am Abend auf dem Boulevard Poissoniere, trotz des nicht nur in literarischer Hinsicht zweifelhaften Angebots, das sie unterbreitete. Blättert, blättert meine Herren, sucht Euch aus, alles was daliegt wird verkauft. Ohne zum Einkaufen zu drängen ohne auch aufdringlich hinzusehn nannte sie innerhalb ihres Rufens gleich den Preis des Buches, das einer der Umstehenden in die Hand nahm. Sie schien nur zu verlangen daß rascher geblättert wurde, rascher die Bücher in den Händen wechselten, was man verstehn konnte wenn man zusaht, wie hie und da einer langsam ein Buch aufhob, langsam und wenig drin blätterte, langsam es hinlegte und endlich langsam wegging. Das ernste Nennen der Preise von Büchern, deren Unanständigkeit so lächerlich war, daß man sich einen Kaufabschluß unter den Augen des ganzen Publikums zuerst nicht vorstellen konnte.

Mittwoch, 28. September 2011

Kommentar Tischgesellschaft

Unter Menschen, und so auch hier an diesem großen Tisch fühlt er sich nicht wohl, die Worte seines unmittelbaren Tischnachbarn aber machen ihm aus irgendeinem Grunde Mut, richten ihn ein wenig auf. Er schaut sich um und sieht des weiteren lauter Frauen an seinem Tisch, die ihn ihrerseits zu seiner nicht geringen Überraschung offenbar ständig im Auge haben und um sein sogenanntes leibliches Wohl bemüht sind. Wenn er nur halbwegs den Teller leer hat, werden ihm gleich die entferntesten Schüsseln angereicht. Lediglich die unmittelbar zu seiner Linken, die besonders Schöne, betrachtet ihn, so denkt er, falls überhaupt, weiterhin mit Unbehagen. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmt ihn, wenn sie dann doch bisweilen in ihrer merkwürdig dunkel gefärbte Stimme das Wort an ihn, den Stummen, richtet.Tischgesellschaft

Dienstag, 27. September 2011

Tischgesellschaft

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Beim Anhören der Aussprüche seines Tischnachbarn verspürt er, obschon er weiß, daß diese Bemerkungen gar nicht an ihn gerichtet sind, in sich ein leichtes Aufwallen der Zuversicht und eine Art stummer Solidarität. Es sind zwei Männer am Tisch mit sechs oder sieben Schweizer Frauen. Wie sich da die entferntesten Schüsseln, wenn er nur halbwegs den Teller leer hat oder aus Langweile im Saal herumschaut, erheben, in den Händen der Frauen (er redet sie Frau und Fräulein durch einander an) sich rasch nähern und wenn er dankt und nichts mehr will auf dem gleichen Weg langsam zurückgehn. Bemerkenswerterweise beginnt nun auch das junge Mädchen zu seiner Linken, von der er annimmt, daß sie über den stummen Herrn zu ihrer Rechten, also über ihn, unglücklich sei, für ihn Gestalt anzunehmen. Sie ist eher klein gewachsen, kommt aus Genua, sieht eher italienisch aus, ist aber, wie auch die anderen Frauen, aus der Schweiz und hat, wie sich nun herausstellt, eine merkwürdig dunkel gefärbte Stimme. Es kommt ihm jedesmal wie ein außergewöhnlicher Vertrauensbeweis vor, wenn sie, was selten genug geschieht, mit dieser Stimme das Wort an ihn richtet.

Kommentar Dichter im Hotel

Bei allem, was ihm widerfährt und was von ihm berichtet wird in den vier Büchern, ist dies vielleicht die glücklichste Zeit des Selysses, mühelos dahinschreibend, ohne den Faden zu verlieren, unter Lucianas gleichsam segnendem Augen. Später wird er Luciana ehelichen, wenn auch nur im Rahmen eines sekundenhaften Tagtraums. Ein Traum nur, also keine Ansprüche an die Wirklichkeit des Erlebens, und vielleicht ist es allein diese Anspruchslosigkeit, die das Glück ermöglicht. Daß er schreibt in dieser Zeit, ist der andere unverzichtbare Teil, die andere Voraussetzung des Glücks. In dem Augenblick des Glücks schreibt er über den, den er am Nebentisch sitzen sieht, sein Unglück ihm immer gegenwärtig, so wie er selbst aufgebrochen war, um über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Das erlebte Glück wird er aber nur wenig später für sich und auch für uns schriftlich festhalten, vielleicht in den Oktoberwochen, die er in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel mit Blick auf den Großvenediger verbringt, denn offenbar ist es das Formprinzip der Schwindel.Gefühle, daß das Aufschreiben des Erlebten dem Erleben in kurzem Abstand folgt und sich unauflöslich mischt mit dem Aufschreiben eines längst Vergangenen, Stendhal etwa und Kafka betreffend, wie es ursprünglich geplant war.

Dichter im Hotel

Samstag, 24. September 2011

Dichter im Hotel

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich saß an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür, hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen. Nicht wenige dieser Ereignisse hatten mit ihm zu tun, den ich, so schien mir, nur wenige Tisch entfernt sitzen sah, gerade so wie ich an dem meinen saß. Trotzdem es regnete, war er ganz allein, nur sein Unglück ihm immer gegenwärtig. Im Speisesaal nebenan wurden Gesellschaftsspiele gespielt, an denen er sich wegen Unfähigkeit, wie er sich sagte, nicht beteiligte. Ja trotzdem er endlich, nach seinen unerbittlichen Maßstäben, nur Schlechtes schrieb, fühlte er doch weder das Häßliche noch das Entehrende weder das Traurige noch das Schmerzliche dieses übrigens organischen Alleinseins, wie wenn er nur aus Knochen bestünde. Die Dame die sich in einem Zinngeschirr Milch holte, kam zurück und fragte ihn, ehe sie sich in ihre Karten wieder einarbeitete: Was schreiben Sie eigentlich? Beobachtungen? Tagebuch? und da sie wußte, daß sie seine Antwort nicht verstehen würde, fragte sie gleich weiter: Sind Sie Student? Er antwortete ohne an ihre Schwerhörigkeit zu denken: Nein, aber er habe studiert, während sie schon wieder Karten legte, er mit diesem Satz allein blieb und durch sein Gewicht gezwungen, sie noch eine Weile ansah. Mir selbst ging, gerade auch, nachdem diese ebenso nebelhafte wie eindringliche Erscheinung wieder verflogen war, das Schreiben mit einer mich selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Zeile um Zeile füllte ich die Bogen des linierten Schreibblocks, den ich von zu Hause mitgenommen hatte. Luciana, die hinter mir an der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir herüber, als wolle sie sich vergewissern, daß mir der Faden nicht abgerissen sei. Sie brachte mir auch, wie ich er mir erbeten hatte, in regelmäßigen Abständen einen Expreß und ein Glas Wasser. Ab und zu auch ein in eine Papierserviette gewickeltes Toastbrot. Meistens blieb sie dann eine Weile bei mir stehen und knüpfte, gerade wie es dem geisterhaften Gefährten mit der Zinngeschirrdame geschehen war, eine kleine Unterhaltung an, in deren Verlauf sie ihre Augen stets über die beschriebenen Blätter gleiten ließ. Und auch sie fragte einmal, was ich sei, ein Journalist vielleicht oder ein Schriftsteller, für einen Studenten war ich denn doch zu alt bereits. Als ich ihr sagte, daß weder das eine noch das andere ganz zutreffe, wollte sie wissen, was ich gerade zu Papier bringe, worauf ich ihr wahrheitsgemäß sagte, daß ich in zunehmenden Maße das Gefühl habe, es handle sich um einen Kriminalroman, der in Oberitalien, in Venedig, Verona und Riva spiele und nicht wenig mit dem Herrn zu tun habe, der eben noch nur einige Tische weiter gesessen habe. Daher käme naturgemäß auch Limone und das Hotel in der Geschichte vor und sogar sie selber. Es ließ sich nicht entscheiden, ob sie der Hinweis auf den nur geisterhaft vorhandenen Nachbarn oder die Einbeziehung ihrer eigenen Person mehr verstörte, jedenfalls ging sie geschwind hinter die Theke zurück, wo sie ihre Arbeit mit der ihr eigenen zerstreuten Genauigkeit erledigte. Immer öfter mußte ich zu ihr herüberschauen, und wenn unsere Blicke sich trafen, lachte sie jedesmal wie über ein dummes Versehen. 

Freitag, 23. September 2011

Kommentar Paris

Während einer gemeinsamen Unterbrechung ihrer Arbeit in der Pariser Bibliothek suchen Marie de Verneuil und Selysses (in der Gestalt des Jacques Austerlitz) ein Café auf. In aufgeräumter Stimmung versetzt Marie sich zurück in die Vergangenheit der Stadt und entwirft, mit Worten, die auch von Kafka sein könnten, ein Bild aus den Tagen der Kommune. Auffällig, allerdings wenig schmeichelhaft ist dabei der Platz, den sie der deutschsprachigen Fraktion innerhalb des Geschehens einräumt. Sie verwendet für diesen Teil ihrer Darlegung aufs Haar genau Worte, die Selysses an anderer Stelle zur Kennzeichnung des Schweizer Dichters Keller und seines Umfeldes entworfen hatte, allerdings für die Zeit des Vormärz und nicht für die Zeit der Pariser Kommune. Greifbar sind die Verschiedenheiten der Nationalcharaktere herausgearbeitet, wenn auch allenthalben entlang des Rheins die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag schöne Blüten trieb, die Verwirklichung der Volksherrschaft zu erwarten war und alles noch anders hätte kommen können, als es dann tatsächlich kam.


C'est de cette facon que l'homme va toujours plus haut, vers la lumière

Paris jetzt und einst


Donnerstag, 22. September 2011

Paris jetzt und einst

Aus dem Schattenreich
Kommentar

An diesem Tag sei es auch gewesen, daß Marie, die wie er in der Dokumentensammlung arbeitete und seine seltsame Traueranwandlung bemerkt haben mußte, ihm einen Kassiber zuschob, mit dem sie ihn einlud auf einen Kaffee. In dem Zustand, in dem er sich befand, gab er sich keine Rechenschaft über die Ungewöhnlichkeit ihrer Handlungsweise, deutete vielmehr nur mit wortlosem Kopfnicken sein Einverständnis an und ging mit ihr durch das Stiegenhaus und über den inneren Hof auf die Bibliothek hinaus, durch einige der an diesem frischen Morgen von einer angenehmen Luft durchwehten Gassen bis hinüber zum Palais Royal, wo die beiden dann lange unter den Arkaden gesessen sind, unmittelbar neben einer Schaufenstervitrine, in der Hunderte und Aberhunderte von Zinnsoldaten in den bunten Monturen der Napoleonischen Armee in Marsch- und Schlachtformationen aufgestellt waren. Das Gespräch in dem Arkadencafé drehte sich zunächst hauptsächlich um die Geschichte und das Bild der französischen Hauptstadt in der Vergangenheit. Leicht sei es etwa, so sagte Marie, angeregt zu diesen Überlegungen vermutlich durch die Zinnsoldaten, sich in das Paris vor hundertundfünfzig oder, besser vielleicht noch, hundert Jahren zurückzuversetzen. Ein gewöhnlicher Tag, auf den Boulevards ist es, sonnig und schön, ruhige Spaziergänger, gegen Hotel de Ville verändert es sich, dort ist eine Revolte der Kommunarden mit vielen Toten, Truppen kommen. Am linken Ufer der Seine zischen die preußischen Granaten. Quai und Brücken sind still. Zurück zum Théatre Francais. Das Publikum kommt aus einer Vorstellung der Mariage de Figaro. Die Abendblätter erscheinen gerade, dieses Publikum sammelt sich um die Kioske, in den Champs Elysées spielen Kinder, Sonntagsspaziergänger sehen neugierig einer Kavallerieeskadron zu, welche mit Trompeten vorüberreitet. Eine gar nicht geringe Schar von Zukunftsbewegten auch aus Deutschland und der Schweiz war Teil des historischen Geschehens. Eine erhaltene kolorierte Karikatur, die ein solches Häufchen zeigt, ist allerdings alles andere als ein Dokument des politischen Radikalismus, der ja aus dieser Windrichtung in den Ländern deutscher Sprache nie überschäumend war. Nur zwei der porträtierten währschaften Männer haben eine Waffe dabei, einer hält, wahrscheinlich zur Stärkung des Muts, die Schnapsflasche in der Hand, der mäusegleiche Fähnrich trägt einen Registerband unter dem Arm und auf seine Fahne gestickt ist als Leitmotiv des deutschen Teils der Bewegung ein überschäumender Bierkrug. Der kleine Mann, der in der Mitte die Trommel rührt ist ein nicht unbekannter Schweizer Dichter als seltsamer Tambour mit Zylinderhut. Im einem, wohl zur Betonung der Internationalität des Unternehmens, in französischer Sprache gehaltenen Brief an die deutsche Mutter steht zu lesen: Tu n’imagines pas, comme ce Paris est immense mais les Parisiens sont de droles de gens, ils trompettent toute la jounée. Offenbar hat bei den Allemands vor allem die musikalische Seite der Angelegenheit Eindruck hinterlassen. Vierzehn Tage war kein warmes Wasser in Paris und Ende Jänner war das Ende der viereinhalbmonatigen Belagerung. Marie schwieg für einen Augenblick und wechselte dann das Thema. Das Gespräch wendete sich baugeschichtlichen Dingen zu, so ging es unter anderem um eine Papiermühle in der Charente, die, so Marie zu den geheimnisvollsten Orten gehörte, an denen sie je gewesen sei.

Kommentar Paare

Hatten ihm in Gruppen auftretende ältere Tirolerinnen gerade noch deutlich mißfallen, so wird die einzelne, in Begleitung ihres erwachsenen Sohnes reisende alte Tirolerin Selysses, den ersichtlich irgendetwas aus der Fassung gebracht hat, zum Trost in seinem Unglück. Unüblich ist schon seine Freude, als die beiden sich in Rovereto zu ihm in das einzige nicht freie Abteil setzen, so als habe der Himmel sie geschickt. Die Gesten, mit denen die Mutter ihren von einer Krankheit oder einem Unwohlsein heimgesuchten Sohn beruhigt, lenkt er insgeheim auch auf sich. In Bozen, wo die beiden Tiroler aussteigen, hat er sich bereits soweit gefaßt, daß er die statt ihrer ins Abteil gekommenen zwei italienischen Ehepaare während der Weiterfahrt beobachten kann. Seine Beobachtung bleibt allerdings fahrig. Nachdem er das eine Paar noch zu gleichen Teilen gewürdigt hat, sieht er sich fest an der anderen Frau, der mit dem Schleier, der zweite Ehemann wird ganz vergessen. Vielleicht aber ist es gar keine Italienerin, die da reist, sondern Joelle Van Dyne. Wir hätten dann eine Beschreibung ihres immer hinter dem Schleier verborgenen Gesichts, die über das bislang Bekannte hinausgeht, und wen wollte es verwundern, wenn ihr Begleiter - und keineswegs, wie fälschlich unterstellt: Ehemann - darüber ins Hintertreffen gerät.

Paare

Mittwoch, 21. September 2011

Kommentar Ciceroni

Das bucklicht Männlein ist laut Benjamin ein Markenzeichen Kafkas, hier nimmt Sebald sich seiner an, und das Männlein erweist sich als harmlos und nett, rührend in seiner Begeisterung und bedauernswert angesichts der fehlenden Resonanz seiner Anstrengungen. Kafka eröffnet aber sogleich einen neuen Gefahrenherd, er tritt zurück und stolpert in die Kutte eines in undurchsichtige Geschäfte verwickelten Geistlichen, wir atmen einen Hauch von Schwarzmarkt, Pornographie, Mißbrauch. Zweifellos ist auch hier alles ganz harmlos und der nicht weniger kunsthistorisch bewanderte Geistliche berät nur den Ansichtskartenreisenden bei der Zusammenstellung seines Sortiments oder etwas ähnliches dieser Art. Gleichwohl sind wir froh, als der Blick zurückfindet zu dem alten gebeugten Cicerone, der da steht vor den Ausflüglern mit erhobenen Zeigefinger, wie ein winziger Schullehrer vor einer um Haupteslänge ihn überragenden Kinderschar.

Ciceroni

Dienstag, 20. September 2011

Ciceroni

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Die große Innenhof war menschenleer bis auf eine Gruppe später Ausflügler, denen ein sicherlich nahezu achtzig Jahre alter, wenn nicht noch ältere Cicerone mit einer dünn und brüchig gewordenen Stimme die Einzigartigkeit des Bauwerks beschrieb. Der alte Mann, der wenig mehr als vier Fuß messen mochte, trug ein um vieles zu großes Jackett, das, da er bucklig war und stark vornübergebeugt ging, mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte. Ich trat, um einen besseren Überblick auf die Gruppe zu gewinnen einige Schritte zurück und fand mich unversehens neben einem von mir zuvor nicht bemerkten schlecht rasierten Geistlichen, der Karten besprach, die ihm ein Ansichtskartenreisender zu Dutzenden gepackt vorzeigte. Ich schaute ihn, auch ein wenig durch die Hitze beeinflußt, so aufmerksam an, daß ich ihm schließlich mit dem ganzen Absatz in die Kutte trat. Niente, sagte er, und sprach weiter immer mit starkem, durch italienische Ah! angezeigtem Atemzusetzen. Die Gruppe der Ausflügler zeigte sich unterdes wenig beeindruckt von der Architekturbegeisterung des verwachsenen Fremdenführers, der, indem er sich auf den Ausgang zubewegte, das eine oder andere seinen schönen Ausführungen noch anfügte, wobei er stets einhielt, sich umwandte und den Zeigefinger der Rechten gegen die gleichfalls stehenbleibende Gruppe erhob wie ein winziger Schullehrer vor einer um Haupteslänge ihn überragenden Kinderschar.

Montag, 19. September 2011

Paare

Aus dem Schattenreich
Kommentar
In Rovereto steigt eine alte Tirolerin ein mit einer aus Lederflecken zusammengenähten Einkaufstasche. Sie ist in Begleitung ihres vielleicht vierzigjährigen Sohnes. Über die Maßen dankbar bin ich den beiden, als sie, obschon der Waggon ganz leer ist, sich hereinsetzen zu mir. Hin und wieder ergreift den Sohn ein Krampf in seiner Brust. Die Mutter macht ihm dann zur Beruhigung einige Zeichen in die Fläche seiner linken, wie ein unbeschriebenes Blatt offen in ihrem Schoß liegenden Hand. Nach und nach wird es mir besser. Wir sind in Bozen. Die Tirolerin steigt aus mit ihrem Sohn. Noch an der selben Station, also in Bozen, nimmt ein italienisches Ehepaar ihren Platz ein und nur wenig später mischt es sich mit einem andern. Ein Ehemann läßt sich nur küssen und gibt beim Hinausschauen aus dem Fenster nur seine Schulter für ihre Wange her. Als er in der Hitze den Rock auszieht und die Augen schließt, scheint sie ihn genauer anzusehn. Hübsch ist sie nicht, sie hat nur dünnes Lockenhaar um das Gesicht. Die andere aber mit dem Schleier, von dessen blauen Tupfen einer öfters ein Auge verdeckt, deren Nase zu bald abgeschnitten scheint, deren Falten um den Mund jugendliche Falten sind, für die Zwecke ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit. Ihre Augen fahren, wenn sie das Gesicht senkt, hin und her, wie ich das bei uns nur bei Leuten mit Augengläsern gesehen habe.

Sonntag, 18. September 2011

Kommentar Seine

Der Parisreisende wird, wenn er von einem erhöhten Standpunkt herabschaut auf das endlos sich ausdehnende Häusermeer, den Eindruck einer auf seltsame und eher ungute Weise aufgeblühten Karstlandschaft haben, und nicht glauben, daß es die selbe Stadt ist, die ihm bei einem ersten Gang entlang des Flusses und über die Inseln der Seine gleich so nah gekommen war. Kafka hat weder den verfremdenden Blick von hoch oben herab noch den liebevollen Blick des Promenierenden. Wie immer sieht er, ohne es zu wollen, Eigenes. Diesmal ist es allerdings so, als wolle er seinen Blick austesten, als habe er eine Malerinspiration für eine noch unbekannte abstrakt-figürliche Darstellung der Stadt.

Samstag, 17. September 2011

Kommentar Tiroler Weiber

Mehrfach äußert Selysses gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen eine ebenso unverblümte wie unbegründete Abneigung, ein Benehmen, das in dieser Form einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Unbegründet sind seine Abneigung vielleicht nicht im Sinne von grundlos aber in dem Sinne, daß sie uns nicht nachvollziehbar begründet. Es mag noch hingehen, wenn sich die Aversionen, wie das mehrfach der Fall ist, gegen die eigenen Allgäuer Landsleute richten, da ist man sozusagen unter sich. Was aber ist mit den Belgiern und den Tirolern? Die männliche Tiroler Bevölkerung huldigt, so seine Behauptung, einer extremen Trunksucht, die Bedienerinnen im Innsbrucker Bahnhof hängen ihm auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul an und die älteren Tirolerinnen mißfallen ihm ganz einfach. Kafka versucht zu vermitteln. Das Gespräch der alten Frauen sei längst nicht so eintönig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, der Tiroler Dialekt keineswegs unverständlich. Die Gesprächsfetzen, die er auffängt, lassen auf eine zwar nicht hochklassige und wohl auch ein wenig wunderliche, letztlich aber doch akzeptable Konversation schließen. Selysses zeigt sich aber keineswegs versöhnt, ist vielmehr offensichtlich erleichtert, als auch noch die letzte der Frauen aus dem Bus ausgestiegen ist. Er ist nun allein.

Tiroler Weiber

Tiroler Weiber

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise eine ganze Anzahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem mir aus der Kindheit vertrauten, hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt, ähnlich wie die Dohlen, vornehmlich, ja ausschließlich, wie es zunächst schien über den nicht mehr enden wollenden Regen. Die Unterhaltung gewann dann aber doch an Weite und Diversität, ein kameradschaftlicher Verkehr alter Frauen im Bus. Erzählungen von alten Frauen, die von Automobilen überfahren wurden. Ihre Mittel auf der Reise: niemals Sauce essen, das Fleisch herausnehmen, die Augen während der Fahrt geschlossen halten dabei aber reden, aber dabei reden, zum Obst Brot essen, kein hartes Kalbfleisch, Herren bitten, einen über die Gassen hinüber zu führen, Kirschen sind das schwerste Obst, die Rettung der alten Frau. Die Sonne trat hervor, die Tirolerinnen verstummten eine nach der andern. Gegen Mittag - die Tirolerinnen waren längst alle in Reutte, in Weißenbach, in Haller, Tannheim und Schattwald ausgestiegen – erreichte der Bus mit mir als letztem Fahrgast das Zollamt von Oberjoch.

Freitag, 16. September 2011

Coule la Seine

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Vom 18. Stockwerk des Südostturms überblickt man von dem sogenannten Belvedere aus die gesamte im Laufe der Jahrtausende aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsenen Stadtagglomeration, ein fahles Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz, die mit ihren konzentrisch sich ausbreitenden Verkrustungen weit über die Boulevards Davout, Soult, Poniatowski, Masséna und Kellermann hinausreicht bis an die im Dunst jenseits der Vorstädte verschwimmenden äußerste Peripherie. Man konnte den Eindruck haben, daß sich dort unten das Leben zerreibe, daß der Körper der Stadt befallen sei von einer obskuren, unterirdisch fortwuchernden Krankheit. Schaut man herab vom Turm der Bibliothek, so versteht man nicht, warum Paris als schöne, vielen als die schönste Stadt überhaupt gilt. Wieder zu ebener Erde angelangt und noch ein wenig schwindelig, hinterläßt der Gang durch die Straßen nach dem Turmerlebnis bei manchem den Eindruck eines gestrichelten Paris. Ihm fallen die aus den flachen Kaminen herauswachsenden hohen dünnen Kamine auf, mit den vielen kleinen blumentopfartigen, die äußerst stummen alten Gaskandelaber, die Querstriche der Jalousien, denen sich in den Vorstädten die gestrichelten Schmutzabdrücke an den Hauswänden anfügen, die dünnen Leisten auf den Dächern, die in der rue Rivoli zu sehen sind, das gestrichelte Glasdach des Grand Palais des Art, die strichweise geteilten Fenster der Geschäftsräume, die Gitter der Balkone, der aus Strichen sich bildende Eifelturm, die größere Strichwirkung der Seiten- und Mittelleisten der Balkontüren gegenüber unseren Fenstern, die Sesselchen im Freien und die Kaffeehaustischchen, deren Beine Striche sind, die goldspitzigen Gitter der öffentlichen Gärten.

Donnerstag, 15. September 2011

Kommentar Last

Gemessen an den Seiten, die in Sebalds Werk auf ihn entfallen, ist Cosmo Solomon im Schattenreich ganz übermäßig vertreten, aber schließlich ist er ein Fürst im Glanz und in der Finsternis, ein dunkles Abbild Wittgensteins. Wie dieser ist er Jude, ausgebildet als Ingenieur, flugtechnisch interessiert, offenbar homosexuell und reich, wie dieser wendet er sich ab vom ererbten Reichtum. Während aber Wittgenstein sich mehr oder weniger still abwendet vom Geld, während seine verschiedenen Neffen in Bernhards Werk es wegschenken, übt Cosmo Solomon sich in seiner Destruktion. Im Alltag aber, von Kafka in einem Regionalzug der Französischen Staatbahnen beobachtet, abseits der Luxushotels, der Polocourts und der Spieltische, ist er, wie wir nun sehen, Wittgenstein noch ähnlicher als bislang gedacht. Wo Wittgenstein immer seinen Rucksack dabei hat, ist es bei Solomon ein kleiner Koffer, der ihm gleichwohl auch noch eine Last ist. Wenn Selysses Kafkas Jäger Gracchus entmythologisiert, verharmlost, so verharmlost Kafka nun den Solomon. Im Abteil treibt er Spielchen mit einem Spielchen mit einem seltsamen, mantelähnlichen Kleidungsstück, etwas Kindliches wird sichtbar an ihm. In größter Not wird er später, vergeblich allerdings, Zuflucht in seinem alten Kinderzimmer suchen.

Wie eine Last

Mittwoch, 14. September 2011

Kommentar Gassen

Gleich das zweite Bild im Austerlitzbuch zeigt, nach der einer Eule, Wittgensteins Augenpartie. Eingeführt wird er als Vertreter einer Zunft, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versucht, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. An einer späteren Stelle des Buches wird eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Philosophen und dem Titelhelden hergestellt. Sie betrifft zwei Ähnlichkeiten, einmal den nach der Beobachtung des Erzählers immer entsetzten Gesichtsausdruck der beiden und zum anderen den Rucksack, den beide immer mit sich getragen haben. Die Wittgensteinisierung des Buches geht aber über diese Berührungspunkte hinaus. Gerald Fitzpatrick, der jüngere Freund Austerlitzs, verkörpert Wittgensteins frühe Leidenschaft für das Fliegen, seine wissenschaftliche Tätigkeit in Cambridge als Astrophysiker ist der des am gleichen Ort tätigen Philosophen nicht unähnlich. Wittgensteins Metapher von der Sprache als Stadt hat Austerlitz zu einer eleganten Paraphrase veranlaßt, mit der er seine zeitweiligen Aphasie veranschaulicht, beide, das Original und die Paraphrase, sind in diesem Schattenstück enthalten. Wittgenstein ist das Urbild der vielleicht fünfzig Gerechten, die Sebalds allen sonstigen Anzeichen nach zum Untergang bestimmten Welt bevölkern.In den Gassen der Sprache

Dienstag, 13. September 2011

In den Gassen der Sprache

Aus dem Schattenreich
Kommentar

A mad crackpot genius named Wittgenstein, who believed that everything was words


Auch er hat ja ständig seinen Rucksack dabeigehabt, in Puchberg und Otterthal geradeso wie wenn er nach Norwegen fuhr oder nach Irland oder nach Kasachstan oder zu den Schwestern nach Hause, um das Weihnachtsfest in der Alleegasse zu feiern. Immer und überall ist der Rucksack mit ihm gereist, ich glaube, sogar über den Atlantischen Ozean, auf dem Liniendampfer Queen Mary, und dann von New York nach Ithaka zu fahren. Nicht dabeigehabt hat er ihn wohl nur bei den Flugexpeditionen in seiner Cessna über das schneeglänzende Gebirge oder die Vulkaninsel des Puy de Dome, die schöne Garonne hinab bis nach Bordeaux. Nachdem er zur Fortsetzung seiner Arbeit von Cambridge an ein astrophysisches Institut in Genf übergewechselt war, habe ich ihn mehrfach besucht und bin Zeuge geworden, wenn wir aus der Stadt hinaus- und am Seeufer entlangwanderten, wie seine Gedanken, gleich den Sternen selber, allmählich aus den sich drehenden Nebeln seiner Phantasien hervorkamen. Von der Sprache, seinem liebsten Thema, sagte er - mit dem für ihn typischen, immer ein wenig entsetzten Ausdruck im Gesicht -, sie sei ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten: und dies umgeben von einer Menge Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. Als er noch nach einer planvollen logischen Geometrie in der Sprache suchte, habe er sich naturgemäß nur verirren können in ihr. Jetzt verliere er sich nicht selten auf ganz andere Weise in dem sprachlichen Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die, wie gesagt, weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinauswachsenden Außenbezirken, und oft gleiche er einem Menschen, der sich, aufgrund langer Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist.

Montag, 12. September 2011

Wie eine Last

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Zweifellos neigte der Cosmo Solomon zum Exzentrischen. Hochtalentiert, hat er sein Ingenieurstudium abgebrochen, um selber in einer alten Fabrikhalle in Hackensack Flugapparate zu bauen. Zur gleichen Zeit hat er sich freilich auch viel an Plätzen wie Saratoga Springs und Palm Beach aufgehalten, einesteils, weil er ein hervorragender Polospieler war, und zum anderen, weil er in Luxushotels wie dem Breakers, dem Poinciana oder dem American Adelphi ungeheure Mengen Geld durchbringen konnte, woran ihm damals offenbar vorab gelegen war. Am Reichtum als solchem hat ihm längst nicht mehr gelegen, der Smoking war ihm so selbstverständlich wie die abgerissene Reisetracht und gereist ist er unterschiedslos in internationalen Luxuszügen oder, wie heute, in einem Dritteklasseabteil der Chemins de Fer Francais. Wer ihn nicht kannte oder doch nur vom Hörensagen, hätte nicht an ihn gedacht, wie er dort saß mit dem langen, geringelten, nur gelegentlich von den Fingern durcharbeiteten Haar, dem starken Glanz in den Augen, der langsam gekrümmten Nase, den Höhlungen unten in den Wangen, dem amerikanisch geschnittenen Anzug, dem zerfransten Hemd, den überhängenden Socken. Sein Koffer war klein, er trug ihn aber beim Aussteigen wie eine Last. Sein Französisch war unruhig gemacht von englischen Betonungen und Wendungen, der Jargon kann sich ausruhen, so stark ist das Englische. Alle waren voller Lebhaftigkeit nach der durchfahrenen Nacht. Er tat so, als befestige er etwas hinten am Hemdkragen, zuckte mit dem Körper, um zu sehen, ob es hält, zog dann dieses mantelähnliche Etwas zuerst über den rechten, dann über den linken Arm und hüllte sich schließlich ganz ein, bis ihm, wie man erkannte, gerade angenehm wurde. Bewegungen in den Beinen zeigten, wie geradezu sorglos man in so einem Mantel gehen kann. Es war fast gar kein Spott dabei, es wurde vielmehr vorgebracht wie von einem, der Reisen macht und daher einiges gesehen hat. Etwas Kindliches mischte sich zu. 

Freitag, 9. September 2011

Kommentar Domm de Milan


Auf seinen Reisen und Wanderungen durch Italien trifft Selysses allenthalben auf Spuren Kafkas, im Bahnhofspissoir von Desenzano hat er mit dem Graffito Il cacciatore an den Jäger Gracchus erinnert und nur wenig später steigt er als Zwillingspaar in den Bus nach Riva, den auch Selysses benutzt. Naturgemäß hat Kafka auch bereits vor ihm den Mailänder Dom besucht und die oberste Galerie bestiegen, wen kann der Realitäts- und Identitätsverlust des Selysses da noch überraschen. Auch der Leser weiß schon bald nicht mehr, wer nun die Stufen emporhastet, wer den Schaffner tief unten sieht und wer die Dachuhr auf gleicher Höhe. Da wird es zur Erlösung, wenn das zu Einem verschmolzene Paar mit äußerster Geistesanstrengung sich Klarheit verschafft über den Umstand, daß es sich bei den tief unten über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handelte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. Es besteht Hoffnung, daß sie in einem weiteren Schritt auch zu sich selbst zurückfinden.

Domm de Milan

Kommentar American Landscape

Daß Selysses mitten in seiner Schilderung der amerikanischen Landschaft, beim bloßen Anblick eines jungen, an einem unerwarteten Ort auftauchenden Amerikaners, nicht nur vom Präteritum ins Präsens, sondern auch von der deutschen in die englische Sprache wechselt, ist überraschend aber nicht unerklärlich, beherrschte er die eine Sprache doch so gut wie die andere. Schwindelerregend ist dagegen der Umstand, daß der englische Abschnitt haargenau dem entspricht, mit dem Foster Wallace, der sich einen Namen gar nicht einmal an erster Stelle als Landschaftsdichter gemacht hat, so atemberaubend und unvergeßlich sein Fragment gebliebenes, erst nach Sebalds Tod in Angriff genommenes Romanwerk Pale King eröffnen wird, schwindelerregend umsomehr, als die menschliche Erscheinung in der heruntergekommenen Gegend vor einer der Hütten, wenn man es recht bedenkt, Foster Wallace nicht unähnlich ist. Nun ist Selysses als Plagiator, als Spieler im Schattenreich der Literatur wohlbekannt - und an dieser Stelle geht es um nichts anderes, als dieses Spiel im Schattenreich fortzusetzen -, das vorgreifende Plagiat aus einem noch gar nicht geschriebenen Werk ist gleichwohl eine extreme und neue Entwicklung. Daher kann auch die andere Möglichkeit, Foster Wallace sei eine in dieser Form nicht veröffentlichte Skizze Sebalds in die Hände gefallen, nicht ganz außer Acht gelassen werden, überzeugen kann das aber auch nicht. Das ganze bleibt rätselhaft. Andererseits ist es ohnehin eine Fiktion, ein literarisches Werk in enger Form einem Einzelnen zuzuschreiben, Literatur entsteht aus Literatur. We are all of us brothers, wird denn auch beschwichtigend zu Bedenken gegeben. An anderer Stelle hat Sebald allerdings festgehalten, kaum etwas sei so unwandelbar wie die Bosheit, mit der die Literaten hinterrücks übereinander reden. Er selbst hat aber zahlreiche Ausnahmen gemacht.

American Landscape

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Vom Flughafen aus bin ich an jenem zweiten Januar des Jahres 1981, es war ein licht- und trostloser Tag in Richtung Süden gefahren. Gleich außerhalb des Flughafengeländes wäre ich um ein Haar von der Straße abgekommen, als ich über einem dort aufgeworfenen wahren Riesengebirge aus Müll einen Jumbo wie ein Untier aus ferner Vorzeit schwerfällig in die Luft sich erheben sah. Er zog einen schwarzgrauen Rauchschleier hinter sich her, und einen Augenblick lang war mir, als habe er die Schwingen bewegt. Dann ging es hinaus in eine ebene Gegend, in der es, den ganzen State Parkway entlang, nichts gab als Krüppelholz, verwachsenes Heidekraut und von ihren Bewohnern verlassene, teils mit Brettern vernagelte Holzhäuser, umgeben von zerfallenen Gehegen und Hütten, nirgends ein Mensch. Umso überraschend war es, als vor einer dieser Hütten plötzlich ein noch sehr junger, kaum zwanzigjähriger, kräftiger und ungemein sportlich wirkender junger, von mir, falls es nicht nur eine Halluzination war, im Vorbeifahren nur für einen flüchtigen Augenblick wahrgenommener Mensch mit schulterlangem Haar auftauchte. Und schon ging die Fahrt weiter, past the flannel plains and blacktop graphs and skylines of canted rust, and past the tobacco brown river overhung with weeping trees and coins of sunlight through them on the water downriver, to the place beyond the windbreak, where untilled fields simmer shrilly in the A.M. heat: shatterscane, lamb’s-quarter, cutgrass, sawbrier, nut-grass, jimson-weed, wild mint, dandelion, foxtail, muscadine, spine-cabbage, goldenrod, creeping charlie, butter-print, nightshade, ragweed, wild oat, vetch, butcher grass, invaginate volunteer beans, all heads gently nodding in a morning breeze like a mother’s soft hand on your cheek. An arrow of starlings fired from the windbreak’s thatch. The glitter of dew that stays where it is and steams all day. A sunflower, four more, one bowed, and horses in the distance standing rigid and still as toys. All nodding. Electric sounds of insects at their business. Ale-colored sunshine and pale sky and whirls of cirrus so high they cast no shadow. Insects all business all the time. Quartz and chert and schist and chondrite iron scabs in granite. Very old land. Look around you. The horizon trembling, shapeless. We are all of us brothers.

Donnerstag, 8. September 2011

Domm de Milan

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Ich bin die Via Moscova hinabgegangen, über die Via Palestro in die Via Marina hinein; über die Via Gesù, ein Stück die Via Monte Napoleone entlang und auf die Via Alessandro Manzoni, über die ich schließlich auf die Piazza della Scala gelangte, von der ich auf den Domplatz hinüberging. Staunend und benommen bin ich in den Dom eingetreten zwischen Portieren, braun wie in Cadenabbia. Im Inneren des Doms setzte ich mich eine Zeit nieder, machte die Schuhbänder auf und wußte, wie ich mich mit unverminderter Deutlichkeit erinnere, auf einen Schlag nicht mehr, wo ich mich befand. Trotz des angestrengtesten Versuchs, mir Rechenschaft zu geben über den Verlauf der letzten Tage, die mich hierher gebracht hatten, wußte ich nicht einmal zu sagen, ob ich noch in der Landschaft der Lebendigen oder bereits an einem anderen Ort weilte. Ein seltsames Verlangen stieg in mir auf, ein Architekturbild des Doms zu liefern, weil der Dom rund herum eine reine Darstellung der Architektur ist, im größten Teil keine Bänke, wenig Standbilder an den fernen Wänden hat und die einzelnen Besucher auf den Bodenplatten als Maßstäbe seiner Ausdehnung aufgestellt sind oder als Maßstäbe seiner Ausdehnung sich bewegen. Erhaben war der Dom, erinnerte aber viel zu schnell an die Galerie. Unverantwortlich schien es mir in diesem Augenblick, ohne Notizen zu reisen, selbst zu leben. Das tödliche Gefühl des gleichförmigen Vergehens der Tage war unmöglich länger noch zu ertragen. An der Lähmung meines Erinnerungsvermögens änderte sich auch dann nichts, als ich auf die oberste Galerie des Doms hinaufstieg. Ein vorausgehender junger Italiener erleichtert den Aufstieg, indem er eine Melodie summte, den Rock auszuziehn versuchte, durch Ritzen schaute, durch die nur Sonnendunst zu sehen war, und immer auf die Ziffern tippte, welche die Stufenzahl anzeigten. Unter immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen nahm ich das vom Dunst über der mir nun vollends fremd gewordenen Stadt verdüsterte Panorama in Augenschein. Wo das Wort Mailand hätte auftauchen sollen, rührte sich nichts als ein schmerzhafter Reflex des Unvermögens. Der Mechanismus der Elektrischen unten schien wie verdorben, ramponiert, so schwach rollten sie, nur durch die Biegung der Geleise geführt. Ein Schaffner eilte, von meinem Standpunkt aus gesehen, schief und niedergedrückt zu einer Elektrischen und sprang auf. Von der Hinterfront des Doms schaute man, hinweg über einen Wasserspeier in Mannsgestalt, dem Wirbelsäule und Gehirn herausgenommen sind, damit das Regenwasser einen Weg hat, einer großen Dachuhr gerade ins Gesicht. Ein starker Wind erhob sich und ich mußte mich einhalten, um herabschauen zu können, wo jetzt nicht allein nur der Schaffner, sondern viele Menschen sich in seltsamer Neigung über die Piazza bewegten, als stürze ein jeder einzelner seinem Ende entgegen. Laufet eilends vor dem Wind, ging es mir durch den Kopf, und zugleich kam mir der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten kreuz und quer über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen.

Mittwoch, 7. September 2011

Kommentar Inferriate

Selysses tritt aus dem Mailänder Bahnhof und begibt sich zu Fuß in die Stadt. Die weitere Schilderung überläßt er zunächst Kafka. Der gibt wieder einmal nicht viel auf die bekannten Sehenswürdigkeiten, die Scala erkennt er nicht einmal, als er vor ihr steht, und von den Spitzen des Doms fühlt er sich nur belästigt. Seltsam berührt fühlt er sich hingegen von den Mailänder Fenstergittern, die, wie im Bild illustriert, tatsächlich oft ins Absonderliche gehen. Bald schon hat er genug vom Schauen und will nur noch ins Hotel, sich auf das Bett zu legen, die Hände unterm Kopf verschränken und nur mehr den Plafond betrachten. Bei seinem Gang hat er einen unguten Eindruck von der Stadt gewonnen und findet Verständnis bei dem Droschkenfahrer, der stumm auf die doppelte Sicherung seines Fahrzeugs durch Gitter und Madonnenbildnis – a bhfad uainn an drochrud - verweist. Das Hotel Boston in der Via Lodovico S. erweckt nicht den ungeschmälerten Eindruck einer sicheren Schutzburg.
Inferriate di Milano

Dienstag, 6. September 2011

Inferriate di Milano

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich trat aus der Halle des Bahnhofs hinaus in die bleierne Luft des Abends und dann durch die Kolonnaden hindurch auf die östliche, die falsche Seite des Bahnhofs und von dort in die Stadt hinein. Unterhaltend sind die verschiedenen Gitter in den Häusern. Unter dem Bogen der Einfahrt zur Skala habe ich sie gesucht und war gegenüber ihrer einfachen abgekratzten Fassade über diesen Irrtum auch dann nicht erstaunt, als ich auf den Platz hinaustrat. Die Billigung des sich ins Innere der Stadt hin steigernden Verkehrs wächst, bis man auf dem Domplatz nicht sieht als langsam das Denkmal Vittorio Emanuels umfahrende Elektrische. Der Dom belästigt mit seinen vielen Spitzen. Man wendet sich und sucht das Hotel. In der Droschke sitzend, hielt ich mich mit beiden Händen an meine Tasche. Auf meine möglichst leichthin gemachte über das gefährliche Mailänder Pflaster antwortete der Fahrer mit einer Geste der Hilflosigkeit. Er hatte ein Gitter an seinem Seitenfenster und ein buntes Medaillon Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen. Wir fuhren über die Piazza Cincinnato, bogen links in die Via San Gregorio ein und dann noch einmal links in die Via Lodovico S., wo wir vor dem Hotel Boston hielten, einem ungut und schmalbrüstig aussehenden Haus.

Montag, 5. September 2011

Kommentar Tag und Nacht

Zu sagen, Sebald Bücher seien kaum weniger von Tieren als von Menschen bevölkert, wäre, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, eine mörderische Untertreibung. Am liebsten sind ihm die Geschöpfe, die, dem Menschen weder nützlich noch schädlich, ein von ihm weitgehend unbeachtetes Leben führen wie etwa die Nachtfalter. Insgeheim beschäftigen müssen sie uns aber doch, wie sonst wären ihre wunderschönen, vom Menschen ihnen zugeteilten Namen zu erklären, Porzellan- und Pergamentspinner, spanische Fahnen und schwarzen Ordensbänder, Messing- und Ypsiloneulen, Wolfsmilch- und Fledermausschwärmer. Es wird Tag, Selysses ruht und Kafka, obwohl nicht unbedingt als Tagmensch bekannt, übernimmt die Beobachtung der Bienen. Zunächst notiert er aus der Attitüde des Entomologen, lenkt dann aber den vergleichenden Blick auf den Menschen: Ob es Menschen gibt, die so mit dem ganzen Leib arbeiten möchten? Tänzer und andere im Bereich der darstellenden Kunst Tätige, könnte man antworten. Sebald greift erneut ein und ergänzt den Individual- durch den Sozialvergleich, der Bienenkorb als Symbol der Kapitalakkumulation. Ungeklärt bleibt, in welcher Sozialformation, der der Bienen oder der der Menschen, es dunkler zugeht.
Bei Tag und bei Nacht

Sonntag, 4. September 2011

Liest nicht Foster Wallace

Unendlicher Spaß

Mit der amerikanischen Literatur hat Sebald sich weniger beschäftigt, in der Jugend hat er für eine kurze Frist versucht, die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an sich auszubilden, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, so schreibt er, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Ein Hinweis, daß Sebald David Foster Wallace als Autor noch kennengelernt hätte, ist nicht bekannt, dabei wäre wissenswert, wie er sich zu ihm gestellt hätte, vertreten die beiden Autoren doch gegensätzliche, zugleich aber auch auf seltsame Weise verwandte Formen der Erzählliteratur. Foster Wallace’s riesenhaftes Buch Infinite Jest geht über den Leser hinweg wie ein Gletscher, der unendliches Moränenmaterial ebenso langsam wie beharrlich und völlig unausweichlich vor sich herschiebt, Sebalds Held wandert auf schmalen Pfad auf den Spuren Lebender und Toter durch eine ebenso alemannisch aufgeräumte wie rätselhafte Welt. Wallace's einmal finsteres und dann wieder ungezwungenes Lachen ist nicht vergleichbar mit dem stillen Lächeln der Sätze Sebalds.

Beide Autoren kennen keine die Gesamtkonzeption des Buches haltenden herkömmlichen Romanintrigen, wer mit wem gegen wen &c. Wenn bei Wallace die verbale Geröllawine das Durchhalten einer Intrige nicht zuläßt, so hat Sebald nach eigenem Bekunden den haphazard way des Schreibens, jenseits von Plot und Intrige, bei der Beobachtung der Bewegungen seines Hundes in den Feldern Südostenglands erlernt. Der Foster Wallace in der Uferlosigkeit gleichende Gaddis spielt mit zentralen Systemen der amerikanischen Wirklichkeit, Justiz und Geld, bei Wallace selbst stößt man weder auf die Wall Street noch auf das Pentagon, er bewegt sich in Randbereichen, einer Tennisakademie und einem Heim für den Drogenentzug. Randbereiche unserer Wirklichkeit, wenn auch ganz andere, sind das bevorzugte, wenn nicht einzige Milieu auch in Sebalds Büchern.

In einem Aufsatz setzt Foster Wallace sich scharf ab von der vorausgegangenen Generation der US-Literatur, den Great Male Narcissists, er nennt Mailer, Roth und Updike. Ihr und ihrer unzähligen Epigonen Verdienst war nicht zuletzt, die Welt mit der detailverliebten Schilderung abertausender Blow, Hand, Up the Ass und, notgedrungen, Vaginaljobs beschenkt zu haben. Bei Foster Wallace tritt Sexualität in zum Teil drastischer, immer aber beiläufiger Form auf, und von Hal Incadenza, am ehesten ein Alter Ego des Autors, heißt es, lifetime virginity sei sein conscious goal. Wenn das auch nicht ganz ernst zu nehmen ist, so rückt Hal damit doch in die Nähe Sebaldscher Helden, denen Liebesgeschichten, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorkommen und jedenfalls nicht geeignet, eine umfänglichere Erzählung zu tragen.

Im Zentrum des Romans vom unendlichen Spaß aber steht the idea of destruction by entertainement. Bei Ratten wird eine Droge getestet, die unbegreifliche und endlose Glücksgefühle hervorruft. Als man den Tieren beibringt, die Euphorie durch einen Hebeldruck zu erneuern, sind sie an nichts anderem mehr interessiert als an dem Hebel, so daß sie nach kurzer Zeit an, von ihnen nicht registriertem, Durst und Hunger krepieren. Für die Menschen soll, nach dem Willen frankokanadischer Separatisten und Terroristen an die Stelle der Droge die Filmrolle Infinite Jest treten mit einem derart unvergleichlichen Unterhaltungswert, daß sie zum gleichen Ende führt, eine gegenüber Sebald, der in seinen Vernichtungsvisionen noch mit dem mit der überkommenen Vorstellung des Feuers arbeitet, durchaus moderne Form der Apokalypse und zugleich eine wahrhaft groteske Verzerrung des Traums vom Ewigen Frieden. Gegen Kant und mit Kleist, Pascal und eben auch Sebald sieht Foster Wallace, daß dem Menschen in dieser Welt nicht zu helfen ist, am allerwenigsten vielleicht durch Frieden. Wollte man die beiden Autoren auf die niederländische Malerei projizieren, so wäre leicht zu entscheiden, wer eher dem wüsten Rubens und wer eher dem feinen Vermeer nahesteht. Von Rubens allerdings heißt es, er sei ein glücklicher Mensch gewesen. Beide, von Vermeer und Rubens kommend, treffen sich bei Bosch.

Samstag, 3. September 2011

Bei Tag und bei Nacht

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Als es Abend wurde und wir die Glühstrumpflampe in einer flachen, an den Rändern mit Erikastauden bewachsenen Mulde aufgestellt und entzündet hatten, begannen die Nachtfalter, von denen wir während des Aufstiegs keinen einzigen zu Gesicht bekommen hatten, wie aus dem Nichts heraus einzuschwärmen in tausenderlei Bogen und Schraubenbahnen und Schleifen, bis sie, schneeflockengleich, um das Licht ein stilles Gestöber bildeten aus Porzellan- und Pergamentspinnern, spanische Fahnen und schwarzen Ordensbändern, Messing- und Ypsiloneulen, Wolfsmilch- und Fledermausschwärmern, Jungfernkindern und alten Damen, Totenköpfen und Geistermotten. Am Morgen dann kommen wieder die Bienen, spazieren über den Honig wie Schlittschuhläufer, ertrinken, arbeiten sich wieder los, wobei sich ihr Hinterleib abzutrennen scheint, schleppen einen kleinen Honigfaden hinter sich her. Während sie saugen, zittert ihr Hinterleib rhythmisch. Ob es Menschen gibt, die so mit dem ganzen Leib arbeiten möchten? Immer wieder haben sich die Menschen unter Schaudern mit den staatenbildenden Insekten verglichen. Das heraldische Motiv des Bienenkorbs versinnbildlicht im übrigen nicht die dem Menschen dienstbar gemachte Natur, auch nicht etwa den Fleiß als eine gemeinschaftliche Tugend, sondern das Prinzip der Kapitalakkumulation. Die Bienen hier stechen nicht.

Freitag, 2. September 2011

Kommentar Reading Room

Beim Gang durch die Gassen von Ajaccio wird Selysses vom Wunsch erfaßt, er möge in einer dieser steinernen Burgen wohnen, bis an sein Lebensende mit nichts beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit, eine Sehnsucht, die naturgemäß nicht Wirklichkeit werden kann. Im englischen Lesesaal für Seeleute findet sich annähernder Ersatz, wenn man annimmt, von den genannten Beschäftigungsformen sei es die liebste, einfach hinausschauen auf die stürmische, über die Promenade hineinbrechende See, um so das leere Verstreichen der Zeit zu verspüren. Hilfreich ist, daß die Population, für die der Lesesaal ursprünglich eingerichtet wurde, also die der Seeleute, eine verschwindende Spezies ist, die das ersehnte Verschwinden der Menschheit von unserem Planeten mithin beispielhaft vorwegnimmt. Die wenigen noch verbleibenden Fahrensleute unterscheiden sich nicht merklich von den Dingen. Stoßen die Menschen, wenn im Hinterzimmer eine Partie Pool gespielt wird die Kugeln, oder setzen die Kugeln das Queue und den es haltenden Arm in Bewegung. Während Selysses noch die zeitlose Stimmung des Reading Rooms goutiert, wendet sich Kafka, dem Allgemeinen wie immer wenig zugetan, einem bestimmten Tag zu. Er träumt auch nicht den Traum vom Verdämmern und langsamen Verschwinden der Menschheit, zumindest die alte Dame, die er, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, für eine Kapitänswitwe hält, wird scharf ins Licht gerückt. Allerdings bleiben mehr Fragen als Erkenntnisse, wie kann sie Regen und Schwüle verwechseln, und was hat es mit den Karten auf sich. Offenbar handelt es sich, beidseitig bedruckt wie sie sind, nicht um Karteikarten, die sie mit Exzerpten füllt, auch scheinen es sich kein Spielkarten zu sein, die sie, Anweisungen des Buches folgend, nach Art einer Patience auslegt. Der schwarzgekleidete Mann, der im Guardian liest, ist wohl kein schlichter Matrosen oder Fischer, näheres über ihn erfährt man nicht.
Sailors’ Reading Room

Donnerstag, 1. September 2011

Sailors’ Reading Room

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es gibt hier, das ist noch hinzuzufügen, ein kleines Häuschen oberhalb der Promenade, in dem der sogenannte Sailors’ Reading Room untergebracht ist, eine gemeinnützige Einrichtung, die, seit die Seeleute am Aussterben sind, in erster Linie als eine Art maritimes Museum gilt. An den Wänden hängen Barometer und Navigationsinstrumente, Galionsfiguren und Schiffsmodelle in Glaskästen und Flaschen. Auf den Tischen liegen alte Register der Hafenmeisterei, Logbücher, Abhandlungen über die Segelschiffahrt, verschiedene nautische Zeitschriften und Bücher mit Farbtafeln auf denen legendäre Hochseeklipper und Ozeandampfer wie der Conte di Savoia und die Mauretania abgebildet sind. Der Reading Room ist fast immer leer, bis auf ein, zwei der noch überlebenden Fischer und Seefahrer, die wortlos in einem der Lehnstühle sitzen und die Zeit verstreichen lassen. Am Abend spielen sie bisweilen im Hinterzimmer eine Partie Pool miteinander. Man hört dann das Klicken der Kugeln zu dem von draußen leise hereindringenden Rauschen des Meeres. Wenn ich in der Gegend bin, ist der Sailors’ Reading Room bei weitem mein liebster Ort. Besser als sonst irgendwo kann man hier lesen, Briefen Schreiben, seinen Gedanken nachhängen oder, während der langen Winterszeit, einfach hinausschauen auf die stürmische, über die Promenade hineinbrechende See. Auch heute war ich im Reading Room allein mit einer schwerhörigen Dame, einer Kapitänswitwe, wie ich dachte, der ich mich, als sie anderswohin schaute, nutzlos vorgestellt hatte und die den von mir angezeigten Regen draußen für noch weiter andauernde Schwüle hielt. Sie legte nach einem seitwärts liegendem Buch, in das sie angestrengt schaute, den Kopf auf die zur Faust geschlossene Hand gestützt, in der wohl hundert noch unverbrauchte kleine beiderseitig bedruckte Miniaturkarten liegen. Neben mit, den Rücken mir zugewendet, las ein alter schwarzgekleideter Mann im Guardian. Hinter dem Fenster ging ein starker dickflüssiger Regen nieder.