Freitag, 2. Dezember 2011

Wenzelsplatz

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Heute, am Sonntag, meinem dritten Tag in Prag, bin ich am frühen Morgen in den Seminargarten hinaufgestiegen. Die alten Kirsch- und Birnbäume waren abgeholzt und an ihrer Statt neue gepflanzt, deren magere Zweige noch lange nicht tragen würden. Der Weg ging in Schleifen durch die taunassen Wiesen bergan. Auf halber Höhe begegnete mir eine alte Dame mit einem dicken, fuchsfarbenen Dackel, der nicht mehr gut auf den Beinen war und ab und zu stehen blieb, um mit gefurchter Braue vor sich hin in den Erdboden zu starren. Oft habe ich auf meinen Spaziergängen, in Prag ebenso wie in Warschau oder in Budapest, solche alten Damen gesehen mit griesgrämigen kleinen Hunden, die fast alle einen Maulkorb aus Draht trugen und vielleicht deshalb so verstummt und böse gewesen sind. Bis gegen Mittag bin ich dann auf einer Bank gesessen und habe über die Häuser der Kleinseite und die Moldau hinweg auf das Panorama der Stadt geschaut, das mir, genau wie der Firnis auf einem alten Bild, durchzogen schien von den krummen Rissen und Sprüngen der vergangenen Zeit. Ich bin dann herabgestiegen zur Karlsbrücke und hineingegangen in die Stadt bis hin zum Wenzelsplatz. Wie immer an Sonntagen kamen die Handelsangestellten den Platz hinunter über den Graben und schrieen nach Sonntagsruhe. Man hätte meinen können, ihre roten Nelken und ihre dummen und jüdischen Gesichter und ihr Schreien sei etwas sehr Sinnvolles, es ist fast so, wie wenn ein Kind zum Himmel wollte und heult und bellt, weil man ihm den Schemel nicht reichen will. Aber es will gar nicht zum Himmel. Die anderen aber, die auf dem Graben gehen und dazu lächeln, weil sie selbst ihren Sonntag nicht zu nutzen verstehn, wenn ich dazu den Mut hätte und nicht selbst lächelte. Der aber auf seinem Schloß darf lachen, denn dort ist der Himmel der Erde nah, wie er schreibt.

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