Dienstag, 1. November 2011

Marienbad

Der Tag war schon fortgeschritten, als wir zurückgingen durch den Park. Zu beiden Seiten des Sandwegs, der in geschwungener Bahn voranführte, standen die dunklen Bäume und Büsche, und Marie redete halblaut etwas vor sich hin, von dem ich nurmehr die Worte weiß von den Liebenden qui se promenaient dans les allées désertes du parc. Wir waren beinah wieder im Ort zurück, da kam, an einer Stelle, wo der weiße Nebel schon aus den Wiesen stieg, ein kleiner Trupp von zehn bis zwölf Leuten wie aus dem Nichts hervor und kreuzte vor uns den Weg. Es waren auffallend untersetzte, leicht vornübergebeugte Gestalten. Sie bewegten sich im Gänsemarsch hintereinander her, und jeder hielt einen dieser abgeschürften Plastikbecher in der Hand, aus denen man in Mariánske Lázne das Quellwasser trinkt. Auch entsinne ich mich, daß sie ausnahmslos Regenhüllen aus dünnem, blaugrauen Perlon trugen, wie sie Jahrzehnte zuvor im Westen in Mode gewesen waren. Bis heute höre ich manchmal das trockene Rascheln, mit dem sie, so unversehens, wie sie auf der einen des Weges aufgetaucht waren, auf der drüberen Seite wieder verschwanden. Der Nebel hatte sich inzwischen zu einem Nieseln verdichtet. Wir wollten, um uns vor dem Regen zu schützen, in den Flur des Hotels treten, da springt Marie zurück und zur Seite. Ein seltenes Ereignis in unserer Zeit, der Rabbi kommt. Niemand darf sich vor ihm aufhalten, vor ihm muß immer alles frei sein, es ist nicht leicht, dies immer einzuhalten, da er sich oft überraschend wendet und es nicht leicht ist, im Gedränge schnell genug auszuweichen. Diese Sitte macht alles sehr feierlich, der Rabbi trägt förmlich (ohne zu führen, denn rechts und links von ihm sind ja Leute) die Verantwortung für die Schritte aller. Und immer wieder ordnet sich die Gruppe neu, um ihm freie Blickrichtung zu geben. Er sieht aus wie ein Sultan, und nicht nur Sultan, sondern auch Vater, Volksschullehrer, Gymnasialprofessor und so fort. Er ist mittelgroß und recht umfangreich, aber nicht schlecht beweglich. Langer weißer Bart, außergewöhnlich lange Schläfenlocken, die er auch an andern liebt; wer lange Locken hat, für den ist er schon gut gestimmt; er lobt die Schönheit zweier Kinder, die der Vater an den Händen führt, er kann aber mit der Schönheit nur die Locken meinen. Ein Auge ist blind und starr. Der Mund ist schief gezogen, es sieht gleichzeitig ironisch und freundlich aus. Er trägt einen seidenen Kaftan, der vorn offen ist; einen starken Gurt um den Leib; eine hohe Pelzmütze, die ihn äußerlich am meisten hervorhebt. Weiße Strümpfe und weiße Hosen. Es gingen etwa zehn Juden hinter und neben ihm. Einer trug den Silberstock und den Sessel, auf den sich der Rabbi vielleicht würde setzen wollen, einer trug das Tuch, mit dem er den Stuhl abtrocknen wird, einer trug das Glas, aus dem der Rabbi trinken wird, einer trug eine Flasche mit dem Wasser der Rudolfsquelle.

Keine Kommentare: