Donnerstag, 28. April 2011

Kämpferherz

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich kämpfe; niemand weiß es; mancher ahnt es, das ist nicht zu vermeiden; aber niemand weiß es. Ich erfülle meine täglichen Pflichten, ein wenig Zerstreutheit ist an mir auszusetzen, aber nicht viel. Natürlich kämpft jeder, aber ich kämpfe mehr als andere, die meisten kämpfen wie im Schlaf, so wie man im Traum die Hand bewegt, um eine Erscheinung zu vertreiben, ich aber bin vorgetreten und kämpfe unter überlegter sorgfältigster Ausnützung aller meiner Kräfte. Warum bin ich vorgetreten aus der für sich zwar lärmenden, aber in dieser Hinsicht beängstigend stillen Menge? Warum habe ich die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt? Warum stehe ich jetzt auf der ersten Liste des Feindes? Ich weiß nicht, das heißt so wie die Dinge inzwischen liegen, weiß es jeder und ich weiß es naturgemäß auch. Es lag in der Linie der Konsequenz, daß ich schließlich auf die irische und damit auf meine eigene Frage stieß. Aufgewachsen war ich in County Antrim als Sohn eines protestantischen Vaters und einer katholischen Mutter und gehörte meiner ganzen Erziehung nach zu denjenigen, deren Lebensaufgabe darin bestand, die englische Vorherrschaft über Irland aufrecht zu erhalten. Als sich aber die irische Frage in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg zuspitzte, begann ich sie zu der meinen zu machen. Das den Iren über Jahrhunderte hinweg angetane Unrecht ging mir nicht aus dem Kopf. Man darf mich aber nicht mißverstehen, die irische Sache war nur die willkommene Form für mein Kämpferherz. Ein anderes Leben als das im Kampf schien mir nicht des Lebens wert. Soldatennaturen nennt die Kriegsgeschichte solche Menschen. Und doch ist es nicht so, ich hoffe nicht auf Sieg und mich freut nicht der Kampf als Kampf, mich freut er nur als das einzige was zu tun ist. Als solcher freut er mich allerdings mehr, als ich in Wirklichkeit genießen kann, mehr als ich verschenken kann, vielleicht werde ich nicht am Kampf sondern an dieser Freude zugrundegehn

Kommentar Herbstwind

ruchnul na kamni i bolsche ne wstawal

Handelt es sich vielleicht doch eher um Schiwago, der bekanntlich in einer überfüllten Moskauer Straßenbahn einem Herzschlag erliegt - er stürzte auf das Pflaster und stand nicht wieder auf. Aber nein, der Passant im Herbstwind ist nicht Passagier, er kommt aus Unachtsamkeit der Elektrischen – gibt es in Mailand Straßenbahnen? - in den Weg und sie durchfährt ihn. Diese, um das wenigste zu sagen, brenzlige Situation meistert er, indem er im Schmerz kurz das Gesicht verzerrt, alle Muskeln anspannt und dann wieder löst. Dann steht er, man kann vermuten: als Tribut an den Vorfall, noch eine Weile still. Offensichtlich haben wir es mit einer übernatürlichen Begabung zu tun, wie man sie sonst allenfalls im Traum antrifft. Es kann nicht überraschen, wenn das Außergewöhnliche nur um den Preis der Vereinzelung zu haben ist. Die ausgestreckte Hand des Priesters wird nicht erfaßt, die Kinder sind nur ein Ärgernis, eine Wolkenwand im Westen wird zum Zeichen der Verdunkelung.
Herbstwind

Mittwoch, 27. April 2011

Herbstwind

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ein Abend im Herbst, klar und kühl. Irgendjemand, es ist Selysses, undeutlich in Bewegungen, Kleidung und Umriß, tritt aus dem Haus und will gleich rechts abbiegen. Die Hausmeisterin in einem alten weiten Damenmantel steht an eine Säule des Tores gelehnt und flüstert ihm etwas zu. Er überlegt einen Augenblick, schüttelt dann aber den Kopf und geht. Ein starker Wind erhebt sich, und er muß einhalten um hinschauen zu können, wie die Menschen sich in seltsamer Neigung über den Platz bewegen, als stürze ein jeder von ihnen seinem Ende entgegen. Laufet eilends vor dem Wind, geht es ihm durch den Kopf. Beim Überschreiten der Fahrbahn kommt er aus Unachtsamkeit der Elektrischen in den Weg und sie durchfährt ihn. Im Schmerz zieht er sein Gesicht klein zusammen und spannt alle Muskeln so, daß er, nachdem die Elektrische vorüber ist, die Spannung kaum wieder lösen kann. Er steht noch ein Weilchen still und sieht wie bei der nächsten Haltestelle ein Mädchen aussteigt, mit der Hand zurückwinkt, paar Schritte zurückzulaufen beginnt, stockt und wieder in die Elektrische einsteigt. Als er an einer Kirche vorübergeht, steht oben auf der Freitreppe ein Geistlicher, streckt ihm die Hand entgegen und beugt sich soweit vor, daß fast die Gefahr des Nachvornüberfallens besteht. Er aber erfaßt die Hand nicht, er ist ein Gegner der Missionäre, auch ärgern ihn die Kinder, die sich auf der Treppe wie auf einem Spielplatz herumtreiben und unanständige Redensarten einander zurufen, die sie natürlich nicht verstehen können und an denen sie nur saugen, da sie nichts Besseres haben – er knöpft seinen Rock hoch zu und geht weiter. Als drohendes Sinnbild des in ihm um sich greifenden Dunkels steht im Westen eine ungeheure Wolkenwand, die bereits den halben Himmel einnimmt und ihren Schatten breitet über das anscheinend endlose Häusermeer.

Dienstag, 26. April 2011

Kommentar Tigers Schlaf

Das Oberhaupt der Artistenfamilie, die gemeinschaftlich mit Selysses im deutschen Konsulat zu Mailand wartet, hat uns bereits den Ritt der Träume nahe gebracht, jetzt erzählt er zur Verkürzung der nur schleppend vergehenden Zeit eine Episode aus dem Leben des Großkatzenbändigers Burson. Bei dem Tiger, der ganz und gar unbeeindruckt von der ihm gänzlich fremden Umgebung in Schlaf verfällt, mag man für einen Augenblick an die Geschichte des friedlichen Stiers Ferdinand denken, zwei Tiere, Tiger und Stier, denen man Wildheit beimißt, lassen Wildheit vermissen. Die Geschichten entwickeln sich dann aber sehr unterschiedlich. Während Ferdinand von einer Wespe gestochen bei aller Friedfertigkeit in eine kurze schmerzgeschuldete Raserei verfällt und sich so unter unfreiwilliger Vorspielung falscher Tatsachen für eine, dann allerdings gründlich scheiternde, Laufbahn in der Arena qualifiziert, legt der Tiger, fern jeder Schauspielerei, eine frappierende Indolenz an den Tag. Als Voraussetzung des Schlafes geht diese Indolenz sicher in die Folgerungen ein, die Burson aus seiner Schlafbeobachtung zieht. Seinen Folgerungen können wir, was den Tiger anbelangt, vertrauen, er ist der Fachmann und hat die Erfahrung. Vorsicht muß dagegen walten bei der Übertragung auf den Menschen. Tierliebhabern übertreiben oft die Übereinstimmungen von Mensch und Tier, Humanisten andererseits unterschätzen sie gern. Kaum jemand steht in der Mitte. Bemerkenswert ist in jedem Fall unsere Scheu, einen anderen Menschen im Schlaf zu beobachten und unser Unwille, schlafend beobachtet zu werden.
Tigers Schlaf

Montag, 25. April 2011

Tigers Schlaf

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Unter den Wartenden befand sich eine Aristenfamilie, die, wie mir vorkam, aus einer zumindest ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit hierher verschlagen worden war. Das Oberhaupt der kleinen Truppe trug einen weißen Sommeranzug und überaus elegante steifleinene Schuhe mit Lederbesatz. In den Händen drehte er, einmal links herum, einmal rechts herum, einen wirklich wunderbaren, formvollendeten weitkrempigen Strohhut. Man sah seinen wenigen Bewegungen an, daß das Kochen einer Eierspeise auf einem Hochseil, wie Blondin es bei seinen Auftritten sensationellerweise vollführt hatte, für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre. Aber nicht vom Hochseilartist Blondin erzählte er mir, nachdem wir ins Gespräch gekommen waren, sondern vom Raubtierbändiger Burson, den er gut gekannt und sehr bewundert habe. Ihm, dem berühmten Dresseur Burson, sei einmal ein Tiger vorgeführt worden; er sollte sich über die Dressurfähigkeit des Tieres äußern. In den Dressurkäfig, der die Ausmaße eines Saals hatte – er stand in einem großen Barackenbau weit vor der Stadt – wurde der kleine Käfig mit dem Tiger geschoben. Die Wärter entfernten sich, Burson wollte bei jeder ersten Begegnung mit einem Tier völlig allein sein. Der Tiger lag still, er war eben reichlich gefüttert worden. Ein wenig gähnte er, sah müde die neue Umgebung an und schlief gleich ein. Burson ließ sich einen Stuhl reichen und nahm Platz vor dem Tiger. Wohl eine Stunde und mehr beobachtete er das schlafende Tier und machte dann ein Angebot, da er an diesem für seine eigene Raubtiertruppe Interesse habe. Nie könne man einen Tiger besser beurteilen als im Schlaf, da es aber naturgemäß in der Zeitspanne immer nur sehr wenige zu beobachten gebe, müsse man sich sehr viel Zeit nehmen mit dem Urteil. Mit den Menschen sei es im übrigen gar nicht anders als mit den Tigern.

Sonntag, 24. April 2011

Kommentar Charisma

Bei Kafka ist es ursprünglich ein Oberst, der allein mit seiner Autorität ein in der Weite des Landes verlorenes Bergstädtchen regiert, seine wenigen Soldaten wären, wenn man nur wollte, gleich entwaffnet. Nun ist er als Kapitän eingesetzt und lenkt ein Schiff über die Weite der Ozeane. In unserer Zeit sind die Schiffe so groß, die Fahrt so schnell und so sicher und die Mannschaft so spärlich verteilt, daß mancher Matrose den Kapitän kaum sieht während der Dauer einer Reise. Kapitän Ahabs Charisma wirkte schon die längste Zeit, als er sich unsichtbar für die Mannschaft in seiner Kajüte aufhielt, und als er endlich das Deck der Pequod betrat, war jedes Wort wie ein Gebot. Auf einem Containerschiff unserer Tage ist die Ausstrahlung des Kapitäns aber, ob die Mannschaft ihn nun zu Gesicht bekommt oder nicht, kaum noch ein entscheidender Faktor. Gut so, wird mancher sagen. das Charisma steht unserer Sehnsucht nach Gleichheit entgegen, wenige haben es und viele nicht. Ein gleichmäßig auf alle verteiltes Charisma wäre nicht wahrzunehmen und wirkungslos. Aber vielleicht ist das zu nüchtern gedacht, und das gegenteil tritt ein, die Erlösung, die Gemeinschaft der Heiligen, ein jeder unter seiner Gloriole. Vorerst aber ist das ungleichmäßige Verteilung des Charismas, die Frage der Seefahrt beiseite gelassen, eine wertvolle gesellschaftliche Ressource, die Machtmittel Machtmitteln ersetzen und ihren Einsatz überflüssig machen kann. Józef Teodor Konrad Korzeniowskis Charisma beruht allein auf seinem Blick. Er schaut sein Gegenüber lange und stumm an. Es ist kein scharfer prüfender sich einbohrender Blick, sondern es ist ein nachlässiger, schweifender, allerdings aber unablässiger Blick. Man müßte neu nachlesen, wie Ahab seine Leute anschaut, als er endlich das Deck betritt und aufruft zur Jagd auf den weißen Wal, that great fish we will never net passing us far out at sea.
Charisma

Samstag, 23. April 2011

Charisma

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Eine furchtbare Bergwerksexplosion in Wigan fordert zweihundert Menschenleben; in Rumelien kommt es zu einem Aufstand der Mohammedaner; in Südafrika müssen die Kaffernunruhen niedergeschlagen werden; ein Dienstmädchen in Whitby verbrennt bei lebendigen Leib, weil ihr Kleid, über das sie versehentlich Paraffinöl ausgegossen hat, am offenen Kamin Feuer fängt: wenn jede beliebige Ausgabe des Tagblattes den trügerischen Schleier der Sicherheit zerreißen kann, so bedarf es in den Stürmen und Flauten der Seefahrt nicht einmal dessen, und es ist Aufgabe und Kunst des Kapitäns, aus den Fährnissen verschiedenster Art das Gespenst der Meuterei nicht aufsteigen zu lassen. Zwischen Juli und Anfang September 1883 macht Korzeniowski, als Zweiter Offizier noch, auf dem zwischen Lowestoft und Newcastle hin- und herfahrenden Frachter Skimmer of the Sea ein halbes Dutzend Touren. Im Februar 1890, also fünfzehn Jahre nach dem Abschied auf dem Krakauer Bahnhof, kehrt Korzeniowski, der inzwischen die britische Staatsbürgerschaft und das Kapitänspatent erworben hat und in den fernsten Teilen der Welt gewesen ist, erstmals in die polnische Heimat zurück, nach Kazimierowska in das Haus seines Onkels. Bereits vor seiner Reise nach Polen und in die Ukraine hatte sich Korzeniowski aber um eine Anstellung bei der Société Anonyme pour le Commerce du Haut-Congo bemüht und erhielt nach der Rückkehr ohne weiteres das Kommando eines am Oberlauf des Kongo verkehrenden Dampfbootes, wahrscheinlich weil dessen Kapitän gerade von den Eingeborenen umgebracht worden war. Alle die Korzeniowski kannten aus dieser Zeit, bestätigen ihm den höchsten Autoritätsgrad als Seemann und Kapitän. Warum dulden alle so völlig fraglos sein Regiment? Es ist zweifellos: nur seines Blickes wegen. Wenn man in die Kapitänskajüte kommt, sitzt er in Uniform an dem Schreibtisch, die Feder in der Hand. Förmlichkeiten oder gar Komödiespielen liebt er nicht, er schreibt also nicht etwa weiter und läßt den Besucher warten, sondern unterbricht die Arbeit sofort und lehnt sich zurück, die Feder allerdings behält er in der Hand. Nun sieht er zurückgelehnt, die Linke in der Hosentasche den Besucher an. Der Besucher oder Bittsteller hat den Eindruck, daß der Kapitän mehr sieht als nur ihn, den für ein Weilchen aus der Menge aufgetauchten Unbekannten, denn warum würde ihn denn der Kapitän so genau und lange und stumm ansehn. Es ist auch kein scharfer prüfender sich einbohrender Blick, wie man ihn vielleicht auf einen Einzelnen richten kann, sondern es ist ein nachlässiger, schweifender, allerdings aber unablässiger Blick, ein Blick, mit dem man etwa die Bewegungen einer Menschenmenge in der Ferne beobachten würde. Und dieser lange Blick ist ununterbrochen begleitet von einem unbestimmten Lächeln, das bald Ironie bald träumendes Erinnern zu sein scheint. 

Kommentar Totengräber

Selysses beobachtet das Verhalten der Toten in Südeuropa, auf Korsika, parallel dazu gelangt Austerlitz bei einschlägigen Forschungen weiter im Norden, in Wales, zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Den Angaben über Lebensweise und Verhalten der Toten, wie hier wiedergegeben, können wir insofern vertrauen. Zunächst ratlos lassen dagegen Kafkas zwanzig kleine Totengräber. Ihr unzweideutig als nur zapfengroß beschriebenes Körpermaß macht eine Zuordnung zur Gattung Mensch, sei es im lebendigen, sei es im toten Zustand, unmöglich. Andererseits ist das Verhalten der Totengräber menschlich und so in der restlichen Fauna nicht anzutreffen. Man darf aber nicht aus den Augen verlieren, daß sich bei Kafka Menschen in Tiere verwandeln, zum Beispiel in einen Käfer, ohne dabei aber die menschliche Vorstellungswelt ganz zu verlassen, und umgekehrt geben sich verschiedene Tiere, zu nennen sind etwa die Mäuse und der Dachs, betont menschlich. Vielleicht haben wir es also doch mit einer Gruppe von maulwurfsartigen Geschöpfen zu tun. Um Mitternacht, wenn die Toten sich ihre neuen Gefährten suchen, rücken auch sie aus in einer Zweierreihe, ganz ähnlich wie die Totenschwadrone hinter ihrer Fahne. Die Nähe der Totengräber zu den Toten beruht offenbar nicht allein auf einer sozusagen rein sachlichen Berufsausübung.
Totengräber

Freitag, 22. April 2011

Totengräber

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Wer ein Auge für sie hat, der kann sie nicht selten bemerken. Auf den ersten Blick sehen die Toten aus wie normale Leute, aber wenn man sie genauer anschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern ein wenig an den Rändern. Auch sind sie meist um eine Spanne kleiner, als sie zu Lebzeiten waren, denn die Erfahrung des Todes verkürzt uns, gerade so wie ein Stück Leinwand eingeht, wenn man es zum ersten Mal wäscht. Fast immer gehen die Toten alleine, doch gehen sie auch in Banden und Gruppen und kommen manchmal in Schwadronen und regelrechten Regimentern hinter einer Fahne her die Straße herauf. Hastig schreiten sie dahin, leicht vornübergebeugt und mit ihren Fistelstimmen untereinander redend. In bunten Uniformröcke oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. Zahlreich sind die Geschichten von ihrem Erscheinen beziehungsweise von den Mitteln, derer sie sich bedienen, um ihre Gegenwart anzuzeigen, fahle Lichter über einem Haus, in dem dann bald einer starb, ein zur Unzeit heulender Hund, ein quietschender Karren, der nach Mitternacht anhielt vor dem Tor. Etwas Besonderes aber hat es mit den Totengräbern auf sich. Zwanzig kleine Totengräber, keiner größer als ein durchschnittlicher Tannenzapfen, offenbar weder zu den Toten noch zu den Lebenden zu rechnen bilden sie eine selbstständige Gruppe. Sie haben eine Holzbaracke im Bergwald, dort ruhen sie von ihrer schweren Arbeit aus. Es ist dort viel Rauch, Geschrei und Gesang, wie es eben ist, wenn zwanzig Arbeiter beisammen sind. Wie fröhlich diese Leute sind! Niemand bezahlt sie, niemand rüstet sie aus, niemand hat ihnen einen Auftrag gegeben. Auf eigene Faust haben sie sich ihre Arbeit erwählt, auf eigene Faust führen sie sie aus. Es gibt noch Mannesgeist in unserer Zeit. Nicht jeden würde ihre Arbeit befriedigen, vielleicht befriedigt sie auch diese Leute nicht ganz, aber sie lassen nicht ab vom einmal gefaßten Entschluß, sie sind ja gewöhnt die schwersten Lasten durch das dichteste Gebüsch zu zerren. Von Morgen bis Mitternacht dauert der Festlärm. Die einen erzählen, die andern singen, es gibt auch welche die stumm die Pfeife rauchen, alle aber helfen der großen Schnapsflasche den Tisch umwandern. Um Mitternacht erhebt sich der Führer und schlägt auf den Tisch, die Männer nehmen ihre Mützen vom Nagel; Seile, Schaufeln und Hacken aus der Ecke, sie ordnen sich zum Zuge, immer zwei und zwei.

Kommentar Nez Percé

Kafka zeigt sich immer wieder fasziniert von vorzivilisatorischen Lebensformen, von Barbaren, die rohes Fleisch verschlingen und keine menschliche Sprache haben, sondern sich durch Schreie verständigen, ähnlich wie die Dohlen. Hier haben sie nun gleich Geierschnäbeln statt Nasen, es sind wohl gar keine Menschen. Tote, wie Sebald sie auf Korsika beobachtet und exakt beschrieben hat, sind es aber auch nicht, die Toten sind deutlich kleiner als diese hochgewachsenen Zehn in einer Reihe. Die Hypothese, es könnten Indianer sein, wird nicht hinreichend ernsthaft geprüft, da Kafka gleich seinem leidenschaftlichen Wunsch nachgibt, ein Indianer zu sein, und sich in die Begeisterung verliert. Dabei wäre für sorgfältige Prüfung durchaus Anlaß. Rituelle Eingriffe im Nasenbereich waren verbreitet unter den Indianern, vor allem aber verfügten sie, genau wie die Zehn, nach übereinstimmenden Berichten über die Fähigkeit, plötzlich da zu sein, wo sie gerade noch nicht waren, ohne daß man erkennen und erklären konnte, wie das möglich war. Verschwinden konnten sie auf die gleiche geheimnisvolle Art.

Nez Percé

Donnerstag, 21. April 2011

Nez Percé

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Sie standen plötzlich da, in einer Reihe, zehn. Sie waren fast alle gleich, hagere, dunkle, kahlrasierte Gesichter mit Geierschnäbeln statt Nasen. Es sind gar keine Menschen, fällt einem bald ein, gibt es Menschen mit derartig eingefallenen Wangen, in deren Höhlung die Haut faltig herabhängt. Es könnten Tote sein, die bekanntlich in Banden und Gruppen herumziehen, man hört sie reden und flüstern mit ihrer seltsamen Fistelstimme, doch von dem, was sie untereinander sagen, versteht man nichts als den Namen dessen, den sie beabsichtigen, als nächsten zu holen. So weit so gut, aber die Toten sind einen Fuß etwa kleiner als zu ihren Lebzeiten, diese dagegen sind hochgewachsen. Es könnten Indianer in Kriegsmaskierung sein. Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

Mittwoch, 20. April 2011

Kommentar Drachen

Ein weiteres Mal gönnt Kafka sich den Aufenthalt in unbegrenzter Weite. Ein Ort, unvorstellbar weit von der Grenze des Reiches entfernt, man wird müde, wenn man sich nur einen Teil des Weges vorstellt, und mehr als einen Teil kann man sich gar nicht vorstellen, noch weiter als zur Grenze aber ist es zum Zentrum und zur Hauptstadt des Landes. Die Lebensbedingungen in dem namenlosen, im Außenbereich des Landes vergessenen und in der Vergessenheit sicher verwahrten Städtchen sind, soweit ersichtlich, angenehm. In einer Sache darf man sich nicht täuschen, Hauptstadt und Thron mögen noch so weit entfernt sein und Nachrichten von dort mögen kaum bis in die Peripherie dringen, das Wohlbefinden ist doch in vielfacher Weise anhängig vom Kaiserthron und ganz besonders in einer Hinsicht, der Gewährleistung einer prekären Eintracht mit den Drachen, an die Sebald erinnert. Den geschilderten gesellschaftlichen Verhältnissen fehlt es an jeder auch nur minimalen demokratischen Zurichtung, und trotzdem es Kafka zu gefallen scheint, können wir sie nur zurückweisen. Gleichwohl aber bleibt die Frage, ob es nicht richtiger ist, sich mit den Drachen zu arrangieren als sie zu töten, zumal die Zweifel wachsen, ob die Drachen überhaupt sterblich sind, ob Georgius Miles, der Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen den Drachen tatsächlich töten konnte, um dann, wie es eingangs von Nach der Natur heißt, über die Schwelle des Rahmens zu treten, ob er also sich, und zugleich uns, wie das Zauberwort lautet: emanzipieren konnte.

Drachen

Dienstag, 19. April 2011

Drachen

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Unser Städtchen liegt nicht etwa an der Grenze, bei weitem nicht, zur Grenze ist es noch so weit, daß vielleicht noch niemand aus dem Städtchen dort gewesen ist, wüste Hochländer sind zu durchqueren, aber auch weite fruchtbare Länder. Man wird müde, wenn man sich nur einen Teil des Weges vorstellt, und mehr als einen Teil kann man sich gar nicht vorstellen. Auch große Städte liegen auf dem Weg, viel größer als unser Städtchen. Zehn solche Städtchen, nebeneinander gelegt, und von oben noch zehn solche Städtchen hineingezwängt, ergeben noch keine dieser riesigen und engen Städte. Verirrt man sich nicht auf dem Weg dorthin, so verirrt man sich in den Städten gewiß, und ihnen auszuweichen ist wegen ihrer Größe unmöglich. Aber doch noch weiter als bis zur Grenze ist, wenn man solche Entfernungen überhaupt vergleichen kann – es ist so, als wenn man sagte, ein dreihundertjähriger Mann ist älter als ein zweihundertjähriger –, also noch viel weiter als bis zur Grenze ist es von unserem Städtchen zur Hauptstadt. Während wir von den Grenzkriegen hie und da doch Nachrichten bekommen, erfahren wir aus der Hauptstadt fast nichts, wir bürgerlichen Leute meine ich, denn die Regierungsbeamten haben allerdings eine sehr gute Verbindung mit der Hauptstadt, in zwei, drei Monaten können sie schon eine Nachricht von dort haben, wenigstens behaupten sie es. Und nun ist es merkwürdig, und darüber wundere ich mich immer wieder von neuem, wie wir uns in unserem Städtchen allem ruhig fügen, was von der Hauptstadt aus angeordnet wird. Seit Jahrhunderten hat bei uns keine von den Bürgern selbst ausgehende politische Veränderung stattgefunden. In der Hauptstadt haben die hohen Herrscher einander abgelöst, ja sogar Dynastien sind ausgelöscht oder abgesetzt worden und neue haben begonnen, im vorigen Jahrhundert ist sogar die Hauptstadt selbst zerstört, eine neue weit von ihr gegründet, später auch diese zerstört und die alte wieder aufgebaut worden, auf unser Städtchen hat das eigentlich keinen Einfluß gehabt. Unsere Beamtenschaft war immer auf ihrem Posten, die höchsten Beamten kamen aus der Hauptstadt, die mittleren Beamten zumindest von auswärts, die niedrigsten aus unserer Mitte, und so blieb es und so hat es uns genügt. Dabei haben wir nicht den geringsten Zweifel, daß wir unsere schöne Ordnung und den Frieden allein dem kaiserlichen Thron verdanken, er allein vermag die Eintracht mit den Drachen, denjenigen des Himmels ebenso wie denjenigen der Erde und des Meeres zu gewährleisten. Im fernen Europa würde man sagen, der heilige Georg sei auf den Thron gehoben worden, aber das wäre nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit. Manche unserer Drachen tragen auf ihren Rücken die Paläste der Götter, während die anderen angeblich den Lauf der Bäche und Flüsse bestimmen und die unterirdischen Schätze behüten. Sie sind umhüllt von einem Rüstpanzer aus gelben Schuppen. Unter der Schnauze tragen sie Bärte, die Stirn ist vorgewölbt über die flammenden Augen, die Ohren sind kurz und dick, das Maul steht immer offen, und sie ernähren sich von Opalen und Perlen. Manche sind drei bis vier Meilen lang. Wenn sie ihre Lage verändern, stürzen die Berge um. Fliegen sie durch die Luft, so verursachen sie furchtbare Unwetter, die die Häuser abdecken in den Städten und die Ernten verwüsten. Steigen sie aus der Tiefe der Meere auf, entstehen Mahlströme und Taifune. Die Befriedung dieser Elementargewalten war für uns von jeher aufs engste verbunden mit dem die Herrscher auf dem Drachenthron umgebenden, die winzigsten Verrichtungen nicht anders als die größten Staatsaktionen regierenden Zeremoniell, das zu gleich dient zur dient zur Legitimierung und Verewigung der ungeheuren, in der Person des Kaisers versammelten profanen Macht. Die mehr als sechstausend des ausschließlich aus Eunuchen und Frauen bestehenden kaiserlichen Haushalts umkreisen zu jeder Minute des Tages und der Nacht auf genau abgezirkelten Bahnen den einzigen männlichen Einwohner der hinter purpurfarbenen Mauern verborgenen verbotenen Stadt.

Montag, 18. April 2011

Kommentar Landgeistlicher

Ambros Adelwarths teilweise im Telegrammstil mit unvollständigen Sätzen gehaltenes Orienttagebuch scheint Kafka um einiges näher zu stehen als Sebalds Prosa, soviel näher dann aber doch nicht. Zunächst greift der Blick den dunklen Teil der Stadt ab, das was Zola ihren Bauch nennt, Händler, Schindanger, geronnenes Blut, Haufen von Eingeweiden, schwärzlich braunes Gekröse, dann richtet er sich zum Licht, Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination, um sich schließlich, in einer vor allem in der Eingangssequenz von Filmen beliebten Wendung, auf eine Einzelheit zu richten, ein Haus mit zwei Wächtern vor der Tür. An den beiden Wächtern wiederholt sich der zwiespältige Charakter der Stadt, sie sind abgerissen und dann doch wieder fein. Was gilt es überhaupt zu bewachen, wer hat sie beauftragt, wachen sie hier immer oder nur heute, wachen sie überhaupt, und warum geben sie ihre vorgebliche oder tatsächliche Wache auf, sobald der Name Rebekka Zoufal fällt. Gibt es Rebekka Zoufal überhaupt, oder täuscht der Landgeistliche, sofern er ein Landgeistlicher ist, seinerseits etwas vor. Bei der alten gebückten Frau mit dem langen schmalen Zahn, der öde vereinzelt in ihrem Munde steht, kann es sich wohl kaum um Rebekka Zoufal handeln. Vielleicht gehen wir einfach den ganzen Weg zurück und sind, ohne daß sich die Nebel gelichtet hätten, zufrieden.
Landgeistlicher

Freitag, 15. April 2011

Landgeistlicher

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Heute erster Gang durch die Stadt und in die Vororte hinaus. Im großen und ganzen furchtbarer Eindruck. Andenken- und Devotionalienhändler in beinahe jedem Haus. Sie hocken im Dunkel ihrer Läden zwischen hunderterlei Schnitzwerk aus Olivenholz und perlmutterverzierten Kram. Ab Ende des Monats werden die Gläubigen einkaufen kommen, scharenweise, zehn- oder fünfzehntausend christliche Pilger aus aller Welt. Die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit. Im den Straßen große Mengen vom Umrat. On marche sur des merdes! Knöcheltief mancherorts der pudrige Kalkstaub. Die wenigen Pflanzen nach der seit Mai andauernden Dürre von diesem Steinmehl überzogen wie von einer bösen Krankheit. Une malédiction semble planer sur la ville. Kein Anzeichen von irgendeiner Betriebsamkeit oder Industrie. Nur an einer Unschlitt- und Seifenfabrik und einem Knochen- und Häutelager kommen wir vorbei. Daneben auf einem weiten Karree der Schindanger der Abdeckerei. In der Mitte ein großes Loch. Geronnenes Blut, Haufen von Eingeweiden, schwärzlich braunes Gekröse, an der Sonne vertrocknet und verbrannt. Sonst einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nach Norden liegen die russische Kathedrale, das russische Männer- und Frauenhospiz, das französische Hospital de St. Louis, das jüdische Blindenheim, die Kirche und das Hospiz des hl. Augustinus, die deutsche Schule, das deutsche Waisenhaus, das deutsche Taubstummenasyl, the School of the London Mission of the Jews, die Abessinische Kirche, the Anglican Church, College and Bishop’s House, das Dominikanerkloster, das Seminar und Kirche St. Stephan, das Rothschildsche Institut für Mädchen, die Gewerbeschule der Alliance Israélite, die Kirche Notre Dame de France und am Teich von Bethesda der St. Anna Convent, daneben ein Haus, unter dessen Portal zwei Männer, sie scheinen ganz willkürlich angezogen, das meiste, was sie anhaben sind Lumpen, schmutzig, zerrissen, in Fransen, aber einzelnes ist wieder sehr gut erhalten, der eine hat einen neuen hohen Kragen mit seidener Kravatte, der andere eine feine Nankinghose, breit geschnitten, nach unten schmaler, über den Stiefeln zart umgekrempelt. Sie unterhalten sich und versperren die Tür. Es kommt ein Mann, scheinbar ein Landgeistlicher, in mittleren Jahren, groß, fest, starkhalsig, gerade hin und her schwankend auf seinen steifen Beinen. Er will eintreten, es ist eine dringende Angelegenheit, wegen der er kommt. Aber die beiden bewachen den Eingang, der eine zieht aus seiner Hose eine Uhr an langer Goldkette – es scheinen einige an einander befestigte Ketten zu sein – es ist noch nicht neun Uhr, vor zehn darf aber niemand eingelassen werden. Dem Geistlichen ist das sehr ungelegen, aber die zwei Männer unterhalten sich schon wieder weiter. Der Geistliche sieht sie ein Weilchen an, scheint die Nutzlosigkeit weitern Bittens zu erkennen, geht auch schon ein paar Schritte weiter, da bekommt er einen Einfall und kehrt wieder zurück. Ob die Herren denn eigentlich wüßten, zu wem er gehen wolle? Zu seiner Schwester Rebekka Zoufal, einer alten Dame, die mit ihrer Bedienerin im zweiten Stock wohnt. Das hatten die Wächter allerdings nicht gewußt, jetzt haben sie nichts mehr dagegen, daß der Geistliche eintritt, sie machen sogar eine Art förmlicher Verbeugung, als er zwischen ihnen durchgeht. Als der Geistliche im Flur ist, muß er unwillkürlich lächeln, daß es so leicht war, die zwei zu überlisten. Flüchtig blickt er noch einmal zurück, zu seinem Staunen sieht er, daß die Wächter eben Arm in Arm fortgehn. Sollten sie nur seinetwegen dagestanden haben? Es wäre, soweit der Überblick des Geistlichen reicht, nicht ausgeschlossen. Er dreht sich völlig um, die Straße ist ein wenig belebter geworden, oft blickt einer der Passanten in den Flur herein, geradezu aufreizend scheint es dem Geistlichen, wie weit die Haustür mit ihren beiden Flügeln offensteht, es liegt eine Gespanntheit in diesem Offenstehn, als nehme die Tür damit einen Anlauf zu einem wütenden endgültigen Zuklappen. Da hört er seinen Namen rufen. Arnold, ruft es durch das Treppenhaus, eine dünne, sich überanstrengende Stimme, und gleich darauf klopft ihm ein Finger leicht auf den Rücken. Eine alte gebückte Frau steht da, ganz eingehüllt in ein dunkelgrünes, großmaschiges Gewebe und blickt ihn förmlich nicht mit den Augen, sondern mit einem langen schmalen Zahn an, der öde vereinzelt in ihrem Munde steht.

Kommentar Chrysler Building

In Kafkas Amerikaroman und in Sebalds Amerikaerzählung Ambros Adelwarth haben wir es vorwiegend mit aus Europa Ausgewanderten oder mit europäischen Amerikabesuchern zu tun, hier, in der kleinen Erzählung vom Chrysler Building, dagegen nicht nur mit einem sogenannten waschechten Amerikaner, sondern auch mit einem, der ein wesentliches Merkmal mit amerikanischen Ureinwohnern teilt, den Mohawks, einer Ethnie ohne Schwindelgefühle. So ist denn auch die eigentliche Bewegung nicht so sehr die aus der Bronx nach Manhattan, sondern die aus der Tiefe der Straßenschluchten in die Gipfelregionen der Wolkenkratzer. Die schöne Himmelfahrt endet dann aber am Boden, beim Schlittschuhfahren. Anders als bei der kanariengelbe Dame, die auf Lucas van Valckenborchs Gemälde auf dem Eis zu Fall kommt, wird der Augenblick des Sturzes nicht eingefroren, als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß übersehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen, bliebe dabei letztlich aber schadlos, hier kommt es ganz trivial zu einem Bruch des Handgelenks, und mit dem luftigen Leben ist es aus.

Chrysler Building

Donnerstag, 14. April 2011

Chrysler Building

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich als Lehrjunge in ein Geschäft eintrat. Es war für mich nicht leicht gewesen irgendwo aufgenommen zu werden, ich hatte zwar befriedigende Zeugnisse war aber sehr klein und schwach. Endlich wurde ich, eigentlich nur aus Mitleid, in einem Eisenwarengeschäft aufgenommen. Es war ein düsteres kleines Geschäft in der Bronx und ich hatte Lasten zu tragen, die für meine Kräfte viel zu schwer waren, aber doch war ich sehr zufrieden eine Stelle zu haben. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit ermöglichte mir die Ausbildung im Metallfach verbunden mit einer, wie sich zeigte, völligen Absenz von Schwindelgefühlen und Höhenangst, wie sie sonst nur bei den Mohawks angetroffen wird, eine Reihe von schönen und reichen Jahren. Ich hatte viel zu tun in den Gipfelregionen der Wolkenkratzer, die trotz der Depression in dieser Stadt bis in die frühen dreißiger Jahre gebaut worden sind. Ich habe die Kupferspitzhauben auf das General Electric Building gesetzt, und anschließend waren wir ein Jahr lang mit den durch die Rundungen und Schräglagen unglaublich schwierigen Stahlblecharbeiten auf der Spitze des Chrysler Building beschäftigt. Naturgemäß habe ich durch das Herumturnen bis dreihundert Meter über der Erde seht gut verdient, aber das Geld ist, so, wie es hereinkam, auch wieder hinaus. Und dann habe ich mir beim Schlittschuhfahren das Handgelenk gebrochen und war mehr als ein Jahr stellungslos, und dann sind wir zurück in die Bronx gezogen, und das luftige Leben war aus. 

Mittwoch, 13. April 2011

Kommentar Horche

Während einer Reise in einem fernen Land, auf den Spuren eines Ausgewanderten, ist Selysses für die Nacht in einem Hotel untergekommen mit der selbstverständlichen Absicht, am nächsten Morgen seine Erkundungen voranzubringen. Eine nahe einem Wasserfall verbrachte Nacht aber kann Leben und Welt verändern, und so zögert er. Ergiebiger als draußen zu suchen wäre es wohl, drinnen weiter dem Wasserfall zu lauschen. Aber auch das Geräusch des Wasserfalls ist nur ein Vorhang, und wenn man auch den beiseite schiebt, wird die Welt ihrerseits die letzten lautlos noch aufsteigenden Staubschleier hinwegwehen. Was daran ist Verheißung, was Drohung. Ein jeder wird sich entscheiden müssen, ob er die Wasserfälle künftig sucht oder meidet.
Horche

Montag, 11. April 2011

Horche

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Die Luft war erfüllt von einem beständigen Rauschen, das aber nicht, wie ich zunächst meinte, von dem Wind in den Bäumen herrührte, sondern von den in geringer Entfernung niedergehenden, wenn auch von meinem Fenster aus unsichtbaren Wasserfällen, die in der Gegend des Lago Caiuga seit dem Ende der Eiszeit in die tief eingeschnittenen Schluchten und Täler hinunterstürzen. Ich legte mich nieder und verfiel, todmüde wie ich war, sogleich in einen schweren Schlaf, in den die aus dem Wassertosen lautlos aufsteigenden Staubschleier hineinwehten wie weiße Vorhänge in einen nachtschwarzen Raum. Als ich die Herberge am nächsten Morgen verlassen wollte, sagte ich mir plötzlich, es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib in Deinem Zimmer, bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte, bis es Dich bedrängt. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden. 

Sonntag, 10. April 2011

Kommentar Mißtrauen

Ein weiteres Mal folgt Selysses unbemerkt Kafkas Spuren während dessen Badekur in Riva, diesmal bei einer Bootsfahrt hinaus auf den See. Kafkas Begleiterin dürfte die Theorie der körperlosen Liebe, die er ihr vorträgt, nicht allein wegen ihres vorerst noch fragmentarischen Charakters schleierhaft bleiben und wahrscheinlich atmet sie auf, als das allgemein verständliche Thema des notwendigen Vertrauens zwischen Liebesleuten zur Sprache kommt. Die Behandlung aber, die das Thema dann bei Kafka erfährt, macht alles nur noch dunkler. Was Mißtrauen genannt wird, so viel ist ihr immerhin klar, müßte Sehnsucht heißen, und das Lächeln, daß sich der ganz bestimmte Zuschauer ersehnt auf der Galerie, ein Zuschauer, bei dem es sich naturgemäß um niemanden anders als Kafka selbst handelt, ist viel eher ein verstohlenes oder verschwiegenes als ein hinterhältiges Lächeln. Daß ihm die unmittelbaren Blicke erspart bleiben und die verstohlenen und verschwiegenen zufliegen, war wohl Kafkas Traum. Wenn sich mit der Theorie körperloser Liebe bereits ein Gitter zwischen die beiden Bootsfahrer senkte, so scheint der seltsame Bootsführer jetzt in seiner Sehnsucht ein luftiges Aeroplan der Träume bestiegen zu haben, in dem er der Begleiterin entfliegt.
Mißtrauen

Samstag, 9. April 2011

Mißtrauen

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Bald rudert er an den Nachmittagen ein Stück weit auf den See hinaus mit ihr. Die Felswände erheben sich aus dem Wasser in das schöne Herbstlicht, so halb und halb grün, als wäre die ganze Gegend ein Album und die Berge wären von einem feinsinnigen Dilettanten der Besitzerin des Albums auf das leere Blatt hingezeichnet worden, zur Erinnerung. Dort draußen zieht er dann die Ruder ein, redet viel und entwickelt eine Theorie der körperlosen Liebe, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Annäherung und Entfernung. Wenn wir die Augen aufmachen, wüßten wir, daß die Natur unser Glück ist und nicht unsere schon längst nicht mehr zur Natur gehörigen Körper. Darum hielten alle die falschen Liebenden, und es gebe ja fast nur solche, in der Liebe die Augen geschlossen, oder sie hätten sie, was dasselbe sei, weit aufgerissen vor Gier. Nie seien die Menschen hilfloser und mehr von Sinnen als in diesem Zustand. Von entscheidender Bedeutung sei aber das Vertrauen zwischen den Liebenden. Die immer Mißtrauischen seien Menschen welche annehmen, daß neben dem großen Urbetrug noch in jedem Fall eigens für sie ein kleiner besonderer Betrug veranstaltet wird, daß also, wenn ein Liebesspiel auf der Bühne aufgeführt wird, die Schauspielerin außer dem verlogenen Lächeln auch noch ein besonders hinterhältiges Lächeln für den ganz bestimmten Zuschauer auf der letzten Galerie hat. Dummer Hochmut, und doch, da dies sein könnte, lege der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, wie in einem schweren Traum versinkend, weine er ohne es zu wissen.

Donnerstag, 7. April 2011

Kommentar Polo

Kaum jemand konnte ahnen, daß es sich bei Kafkas Geschichte von einem nächtlichen Ritt um die Phantasie eines Polospielers während des Wettkampfs handelt. Abgesehen davon, daß es sich in beiden Fällen um bevorzugte Beschäftigungsformen der mondänen Welt handelt, haben Roulette und Polospiel, die zwei Paradedisziplinen des Cosmo Solomon, wenig Gemeinsames. Beim Roulette kommt es darauf an, den Körper stillzulegen und alle seine Kraft in den Geist zu verlagern, der, seinerseits entleert, allein auf das Erfassen des Bruchteils eines Augenblicks sich ausrichtet. Das Polospiel ist, im krassen Gegensatz dazu, entfesselte Raserei der Körper, die es aber doch zu kontrollieren gilt durch eine sich davon frei haltende, nur ihren eigenen Regeln folgende Bewegung des Geistes. Während Selysses den Schleier des Geheimnisses über dem Roulette weitgehend lüftet, muß er, in den Bewegungsspielen weniger bewandert, sich bei der näheren Ergründung des Reiterspiels von Kafka aushelfen lassen. Wer kann wissen, welchen Dichtungen an den Wochenenden nicht nur auf den Polo-, sondern ebenso auf den Fußballfeldern und Tenniscourts entstehen, um sogleich sämtlich verloren zu gehen, da kein Sprachmächtiger zugegen ist, sie aufzuzeichnen.
 Polo

Mittwoch, 6. April 2011

Polo

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Auch in diesem Sommer war Cosmo in Deauville und hat dort die Phantasie der eleganten Welt sehr stark in Anspruch genommen, wozu sein erstaunenswertes Glück im Roulette und seine akrobatische Kühnheit auf dem Polofeld nicht wenig beitrugen. Sein sogenanntes Glück im Roulette leitete sich ab aus der Befähigung zu einer Art Selbstversenkung und dem Versuch, die inmitten einer sonst undurchdringlichen Nebelhaftigkeit jeweils nur für den Bruchteil eines Augenblicks auftauchende Ziffer zu erkennen, um sie dann ohne das geringste Zögern, gewissermaßen im Traum noch, entweder en plein oder à cheval zu setzen. Mit halbgeschlossenen Augen setzte er Mal für Mal auf das richtige Feld und pausierte nur, wenn man ihn auf einen consommé oder einen café au lait an die Bar hinübernahm. Beruhte der Erfolg im Roulette also ein einer Art Entleerung der Seele, so war es beim Polo eine Überfülle des Bewußtseins, die es ihm erlaubte, sich auf dem Spielfeld vor den anderen Mitspielern auszuzeichnen. Dem sinnlosen Galopp dem Ball hinterdrein unterschob er märchenhafte Bedeutungen, weg davon, weg davon, dachte er etwa, wir reiten durch die Nacht. Sie ist dunkel, mond- und sternenlos und noch sternenlos und noch dunkler als sonst mond- und sternenlose Nächte sind. Wir haben einen wichtigen Auftrag, den unser Führer in einem versiegelten Brief bei sich trägt. Aus Sorge, wir könnten den Führer verlieren, reitet hin und wieder einer von uns vor und tastet nach dem Führer, ob er noch da sei. Geriet der Ball dann in die Gewalt der gegnerischen Mannschaft, dachte er, der Führer ist nicht mehr da. Wir erschrecken nicht allzu sehr, wir haben es ja die ganze Zeit gefürchtet. Wir beschließen, zurückzureiten. Entlegene Gedanken dieser Art lenkten ihn nicht etwa vom Spielgeschehen, ließen ihn dessen Leere vielmehr besser ertragen als das bei den Spielgefährten der Fall war und versahen seine Spielzüge mit einer ganz besonderen Leidenschaft. Eine der wenigen Abbildungen, die wir vom Cosmo haben, zeigt, wie ihm nach einem wahrscheinlich zu Wohltätigkeitszwecken im Hippodrom von Clairefontaine veranstalteten Match von einer aristokratischen Dame – wahrscheinlich der Comtesse de Fitz James – der Siegerpreis überricht wird.

Dienstag, 5. April 2011

Kommentar General

 
Selysses setzt sich in der Wasserheilanstalt in Riva an Kafkas Tisch und wird Zeuge der nachdenklichen Reflexionen eines alten Generals. Abgründig ist es eigentlich nicht, was er vorträgt, es erinnert an Tolstoi und Stendhal, an dem er sich ganz offenbar auch orientiert. Kafka trägt aus der Erinnerung ein weiteres Stück des Generals bei, das die Qualifizierung des Abgründigen vielleicht schon eher verdient. Es geht um Sieg und Niederlage, jung und alt, weniger auf dem Schlachtfeld als in unserer aller Leben. Wenn es heißt, der Teufel werde zwar immerfort besiegt, aber niemals vernichtet, so zeigt sich daran, wie sehr er, der Teufel, verschieden ist vom Menschen, über den Hemingway, Verfasser eines in peinlicher Weise mißratenen Buches über einen Obristen und auch sonst dem Militär gegenüber durchaus aufgeschlossen, herausgefunden hat, er sei zerstörbar aber nicht zu besiegen.

Weisheit eines Generals

Montag, 4. April 2011

Weisheit eines Generals

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Bei Tisch sitzt zu seiner Rechten ein alter General, der sich zwar die meiste Zeit ausschweigt, der aber doch hin und wieder abgründig kluge Bemerkungen macht. So sagt er einmal, unvermittelt aufblickend von dem Buch, das er stets aufgeschlagen neben sich liegen hat, daß sich, wenn er es recht überlege, zwischen der Logik des Sandkastens und der Logik des Heeresberichts, die ihm beide vertraut seien wie kaum etwas sonst, ein weites Feld der undurchsichtigsten Gegebenheiten erstrecke. Kleinigkeiten, die sich unserer Wahrnehmung entziehen, entscheiden alles! Kleinigkeiten, die so schwer wiegen wie die fünfzigtausend toten Soldaten und Pferde von Waterloo. Es sei eben alles eine Frage des spezifischen Gewichts. Diese im Grunde irrwitzige Vorstellung, daß man mit einer Drehung des Steuers, mit dem Willen, den Lauf der Dinge beeinflussen könne, während diese doch bestimmt seien von den vielfältigsten Beziehungen untereinander. Die Grundschwäche des Menschen bestehe im übrigen nicht etwa darin, daß er nicht siegen, sondern daß er den Sieg nicht ausnutzen könne. Die Jugend besiegt alles, den Urtrug, die versteckteste Teufelei, aber es ist niemand da, der den Sieg auffangen könnte, lebendig machen könnte, denn dann ist auch schon die Jugend vorüber. Das Alter wage an den Sieg nicht mehr zu rühren und die neue Jugend, gequält von dem gleich einsetzenden neuen Angriff, wolle ihren eigenen Sieg. So werde der Teufel zwar immerfort besiegt, aber niemals vernichtet.

Samstag, 2. April 2011

Kommentar Onkel

Prüfung und Urteil sind ungeliebte Bauteile unseres Zusammenlebens, der Richter soll gnädig sein, der Lehrer keine Zensuren vergeben, wir alle sollen uns, wie es heißt, nicht gegenseitig in Schubladen stecken, nichts ist weiß und nichts ist schwarz, der strafende Gott soll zum liebenden werden und dann ganz verschwinden. Die Dinge zögern aber, sich restlos in diese Richtung zu entwickeln. Auch der junge Aus- und gerade erst Eingewanderte auf Arbeitssuche schätzt die Prüfungssituation nicht und entzieht sich ihr durch eine kleine Frechheit, damit scheint dann auch seine Hoffnung auf Anstellung dahin. Es kommt aber ganz anders, er erhält den Zuschlag und obendrein hat der alte Seckler auch noch einen Narren an ihm gefressen. Hat ihm der Mut des jungen Mannes gefallen, der kleine rätselhafte Funken von Esprit, ist es vielleicht gar sein geheimer Wunsch, Onkel eines Jungen zu sein? Die Gründe für unsere Zu- und Abneigungen sind uns oft selbst verborgen.
Mein Onkel

Freitag, 1. April 2011

Mein Onkel

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Nun also? Sagte er, sah mich lächelnd an und rückte an seiner Krawatte. Ich konnte den Blick aushalten, wandte mich dann aber aus freiem Willen ein wenig zur Seite und schaute in die Tischfläche mit immer angestrengteren Augen, als öffne und vertiefe sich dort eine Höhlung und ziehe den Blick hinab. Dabei sagte ich: Sie wollen mich prüfen, haben aber doch keine Berechtigung hiezu nachgewiesen. Nun lachte er laut: Meine Berechtigung ist meine Existenz, meine Berechtigung ist mein Dasitzen, meine Berechtigung ist meine Frage, meine Berechtigung, daß Sie mich verstehn. Wohl, sagte ich, nehmen wir an es sei so. Dann werde ich Sie also prüfen, sagte er, nur ersuche ich Sie mit ihrem Sessel ein wenig zurückzugehn, Sie beengen mich hier. Auch bitte ich nicht abwärts zu schauen, sondern mir in die Augen. Vielleicht ist es mir wichtiger Sie zusehn, als Ihre Antworten zu hören. Als ich ihm entsprochen hatte, begann er: Wer bin ich? Mein Prüfer, sagte ich. Gewiß, sagte er, was bin ich noch? Mein Onkel, sagte ich. Ihr Onkel, rief er, was für eine tolle Antwort. Mein Onkel, sagte ich bekräftigend. Nichts Besseres. Er lachte laut auf, und erst jetzt wurde mir klar, daß es der alte Seckler selbst war und ich mich wohl um alle guten Aussichten gebracht hatte. Der Seckler aber, nachdem er eine Weile schweigend dagesessen hatte, lachte laut auf, und bereits am nächsten Tag bin ich an der Werkbank gestanden in der Soda- und Seltzerfabrik Seckler & Margarethen nicht weit von der Auffahrt zur Brooklyn Bridge. Ich habe dort Kessel und Geschirre verschiedener Größe aus rostfreiem Stahl angefertigt, die der alte Seckler, der ein Brünner Jude gewesen ist (was es mit Margarethen auf sich hatte, habe ich nie in Erfahrung gebracht), größtenteils als catering equipment an Schwarzbrennereien verkaufte, denen es weniger auf den verlangten Preis ankam als auf eine möglichst diskrete Abwicklung des Geschäfts. Den Verkauf dieser Stahlwaren und sonstiger für das Destillieren wichtiger Geräte bezeichnete Seckler, der ganz offensichtlich noch während meiner Vorstellung einen Narren an mir gefressen hatte, als einen Nebenerwerbszweig, der aus dem Stamm oder Grundstock der Soda- und Seltzerfabrik von selber und ganz gewiß ohne sein Zutun ausgeschlagen war.