Donnerstag, 31. März 2011

Kommentar Heideblühen

Die Hoffnung des Selysses auf Erquickung im Gasthof verfliegt umgehend, offenbar ist es ein verwunschener Ort, und er ist nur heilfroh, als er ihn wieder verlassen kann. Das Versprechen: Du bist frei und dadurch bist Du verloren – verheißt allerdings nichts Gutes. Die Freiheit ist denn auch ein Irrlicht, und bald schon hat er den Gasthof ein weiteres Mal vor Augen. Colm Tóibín unterbreitet, indem er erneut die für seinen Roman titelgebenden Verse zitiert, einen realistischen Deutungsvorschlag frei von allen überwirklichen Nebeln. Obwohl Selysses hier noch im Siebten Teil der Ringe des Saturn wandert, komme es, so Tóibín, geblendet wie Selysses ist vom Blühen der Heide, zu einer Art Vorgriff auf den Achten Teil, in dem er sich zurückversetzt in die Zeit des irischen Bürgerkriegs. Keineswegs nähere er sich dem Gasthaus zwei Mal, und ein Gasthaus besetzt mit irischen Rebellen sei es überhaupt nur für die Augenblickszeit eines Tagtraums, aus dem erwacht Selysses dann die flammende Heidelandschaft betritt und auf das ferne Gebäude, vermutlich eine einfache Feldhütte, zuhält. Das unheilschwangere Gehabe der beiden Gasthausgesellen sei einmal dem Traumwesen geschuldet und zum anderen ganz einfach Rebellenart.Heideblühen

Mittwoch, 30. März 2011

Heideblühen

Aus dem Schattenreich
Kommentar

At Boolavogue as the sun was setting
O'er the bright May meadows of Shelmalier,
A rebel hand set the heather blazing ...

Der Weg führte zunächst an den Ruinen eines Franziskanerklosters vorbei, an etlichen Feldern entlang und durch ein offenbar erst in jüngster Zeit aufgeschossenes, verwahrlostes Gehölz, in dem Krüppelkiefern, Birken und Ginsterstauden so dicht durcheinanderwuchsen, daß ich nur mit viel Mühe vorankam. Ich dachte schon beinah daran umzukehren, da tat sich auf einmal vor mir die Heide auf. Blaßlila bis tief purpurfarben erstreckte sie sich westwärts, und eine weiße Fahrspur ging in leichten Windungen mitten durch sie hindurch. Am äußersten Horizont war eine Behausung zu erkennen, ein Wirtshaus, wie ich zu meinem Erstaunen nicht weniger als zu meiner Erleichterung erkannte, als ich eine gute Zeit später, nach einer letzten Wegbiegung, davor stand. Drinnen saßen zwei Männer an einem rohgezimmerten Tisch. Eine flackernde Petroleumlampe hing über ihnen. Es war weit von meiner Heimat. Ich bin in Euerer Hand, sagte ich. Nein, sagte der eine Mann, der sich sehr aufrecht hielt und die linke Hand in den Vollbart gekrampft hatte; Du bist frei und dadurch bist Du verloren. Ich kann also gehn? fragte ich. Ja, sagte der Mann und flüsterte seinem Nachbarn etwas zu, während er ihm freundlich die Hand streichelte. Es war ein alter Mann, aber noch aufrecht und sehr kräftig. Mit wie rasend in meinem Kopf sich drehenden Gedanken sprang ich zur Tür und wanderte bald wieder wie betäubt von dem wahnsinnigen Blühen weiter auf der hellen Sandbahn dahin, bis ich zu meinem Erstaunen, um nicht zu sagen zu meinem Entsetzen, mich wiederfand vor dem selben verwilderten Wald, aus dem ich vor einigen Stunden oder, wie es mir jetzt schien, in irgendeiner fernen Vergangenheit hervorgetreten war. Am äußersten Horizont der Heide war eine Behausung zu erkennen.

Dienstag, 29. März 2011

Kommentar Arbeitsscheu

Die von Selysses zur Kennzeichnung der bei den Ashburys waltenden Arbeitseinstellung verwendeten Begriffe Obsession und Verstörung erklären weniger, als daß sie auf Erklärung angewiesen sind. Cortázar, der kurz vorbeischaut, findet für seine Sichtweise die Angelegenheit nicht weiter auffällig und tieferer Erkundung nicht bedürftig. Kafka versucht es mit schlichteren Begriffen, faul und arbeitsscheu, bei denen jeder glaubt, er wisse was sie bedeuten. Faul wird sogleich wieder gestrichen, arbeitsscheu wird wörtlich genommen als Scheu und Furcht vor der Arbeit und nimmt dann einen abenteuerlichen Erklärungsverlauf. Daß die Aufnahme einer Arbeit mit dem Verlust der Heimat einhergeht, klingt nach Entfremdung und insofern noch vertraut. Ungewohnt ist dagegen die Aufspannung des Begriffes im Reich der Akustik zwischen Lärm und Stille, wobei die Stille das Vernichtende ist. Daß wir am Ende über ein handliches Alltagsverständnis der Arbeitsfurcht verfügen würden, läßt sich nicht sagen. Die drei Dichter schauen aus verschiedenen Blickwinkeln auf die arbeitsscheuen Ashburys und besonders auf Edmund, den jüngsten Sohn, jeder aber, auf seine Art, mit Wohlgefallen.
Arbeitsscheu

Montag, 28. März 2011

Arbeitsscheu

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Die Arbeiten, die sie verrichteten, hatten durchweg etwas Plan- und Sinnloses an sich, schienen weniger der Ausdruck einer wie immer gearteten Alltäglichkeit als der einer absonderlichen Obsession beziehungsweise einer tiefen, chronischen gewordenen Verstörung. Los gustaban solamente las ocupaciones libres, las tareas porque sí, los simulacros que no sirven para nada. Der jüngere Sohn zimmerte seit seiner bereits vor Jahren erfolgten Schulentlassung an einem gut zehn Meter langen, dickbauchigen Schiff, obgleich er, wie er mir gegenüber beiläufig äußerte, weder vom Schiffbau eine Ahnung noch die Absicht hatte, mit dem unförmigen Kahn jemals in See zu stechen. Von den Nachbarn sagen manche, daß er faul sei, andere daß er Furcht vor der Arbeit habe. Diese letzteren beurteilen ihn richtiger. Er hat Furcht vor der Arbeit. Wenn er eine Arbeit anfängt, hat er das Gefühl eines, der die Heimat verlassen muß. Keine geliebte Heimat, aber doch einen gewohnten bekannten gesicherten Ort. Wohin wird ihn die Arbeit führen? Er fühlt sich fortgezogen, wie einganz junger scheuer Hund, der durch eine Großstadtstraße gezerrt wird. Es ist nicht der Lärm, der ihn aufregt; wenn er den Lärm hören und in seinen Bestandteilen unterscheiden könnte, würde ihn das ja gleich ganz in Anspruch nehmen, aber er hört ihn nicht, mitten durch den Lärm gezogen hört er nichts, nur eine besondere Stille, förmlich von allen Seiten ihm zugewendet, ihn behorchend, eine Stille, die sich von ihm nähren will, nur sie hört er. Das ist unheimlich, das ist zugleich aufregend und langweilig, das ist kaum zu ertragen. Wie weit wird er kommen? Zwei, drei Schritte, weiter nicht. Und dann soll er müde von der Reise wider zurücktaumeln in die Heimat, die graue unbeliebte Heimat. Das macht ihm die Arbeit verhaßt. So sind denn auch die Arbeiten an dem Boot im Grunde gar nicht als Arbeit zu verstehen, no sirven para nada und das nicht nur in dem Sinne, daß sie zum Broterwerb nichts beitragen, diese Arbeit zwingt nicht zum Verlassen der Heimat.

Sonntag, 27. März 2011

Kommentar Freundschaft

Selysses erlebt bei seinem Besuch in New Jersey die in Amerika populäre des Bewegungsform Slow Cruising in ihrer extremen Form. Das Fußwandern regt, wie wir immer wieder erfahren, Selysses an zu weitreichenden Gedanken und weltumspannenden Grübeleien, nicht aber, schon weil er immer allein unterwegs ist, zum Reden. Das langsame Fahren zu zweit verleitet zwar nicht eigentlich zum Gespräch, aber doch zum Selbstgespräch in Anwesenheit eines Zuhörers. Orlow wird mit den Worten Kafkas in das Geheimnis der Freundschaft tiefer eindringen als wir ihm folgen können. Wenn er dann, beim Blick übers Meer an den Rand der Finsternis stößt, so vermutlich in der Weise, daß die gewonnene Klarheit sich wieder in das Dunkel verliert. Da ein Rand zwei gleichberechtigte Bereiche teilt, ist allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen, daß er hier den Übergang von der Finsternis in das erleuchtende Licht markiert.
Freundschaft

Samstag, 26. März 2011

Freundschaft

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Wir brauchten für die knapp zwanzig Meilen bis an den Atlantik hinunter bald eine Stunde, weil Orlow so langsam fuhr, wie ich auf einer freien Strecke noch nie jemanden habe fahren sehen. Er saß schräg hinterm Steuer, lenkte mit der linken Hand und erzählte Geschichten aus der Vergangenheit. Nur ab und zu vergewisserte er sich durch einen Blick nach vorn, daß wir uns noch auf der richtigen Spur befanden. Schließlich führte die Straße hinab an die Bucht und hinüber auf die der Küste vorgelagerte, fünfzig Meilen lange, aber nirgends mehr als eine Meile breite Landzunge. Ja, Pildao sei sein Freund, sagte Orlow unvermittelt, und dennoch wisse er leider nicht viel über ihn. Wenn er sich heute Rechenschaft geben wolle über seinen Freund und sein Verhältnis zu ihm, so sei das einer jener vielen meist hoffnungslosen Anläufe, die man während eines langen Lebens immer wieder unternimmt, Anläufe zu einem Sprung, von dem man nicht weiß, ob er vorwärts ins leben zielt oder aus dem Leben fort. Aber es ist hoffnungslos, also gefahrlos. Wir waren angelangt, stellten den Wagen ab und gingen, den scharfen Nordostwind im Rücken, schweigend am Strand entlang. Schließlich, eine längere Wegstrecke lag schon hinter uns, blieben wir stehen und schauten aufs Meer hinaus. Das ist der Rand der Finsternis, sagte Orlow.

Freitag, 25. März 2011

Kommentar Einig Volk

Selysses verläßt das Hotel in Lowestoft, geht Richtung Innenstadt und dann für einen kurzen Erzählaugenblick an der Etsch entlang, bis er auf eine größere Menschenansammlung stößt. Es handelt sich um eine politische Versammlung, auf der alle sich einig sind. Trifft man sich am Fluß, weil sein Tönen die Einigkeit nicht stören kann, oder trifft man sich hier, damit der Fluß eine immerhin mögliche Uneinigkeit übertönt. Sind alle sich einig, oder haben sich nur die getroffen, die sich einig sind. Ist man sich über alles einig oder nur in einer einzelnen Frage. Die Einigung, soviel ist sicher, ist nicht Ergebnis eines längeren Klärungsprozesses, vielmehr ist erstaunlich, daß lange Diskussionen die ursprüngliche Klarheit nicht haben trüben können. Einigkeit und Klarheit sind aber, anders als man vielleicht erwarten möchte, nicht Anlaß zur Freude, sondern herzbeklemmend. Immerhin, das müssen wir uns in Erinnerung rufen, gilt der Zwist als Vater aller Dinge und als Grundlage unseres Zusammenlebens.
Einig Volk

Einig Volk

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Als ich am nächsten Morgen das Hotel verließ, war die Stadt, unter einem wolkenlosen Himmel, wieder zum Leben erwacht. Vorbei an den Hafenbecken, in denen Dutzende von ausgedienten und arbeitslosen Kuttern vertäut lagen, ging ich nach Süden zu durch die untertags ständig vom Autoverkehr und von blauem Benzindampf erfüllten Straßen der Stadt, bis ich endlich, schon außerhalb der Hafengegend, wieder auf den Fluß stieß. Eine Weile spazierte ich unter den Bäumen die Uferpromenade entlang, bis ich unversehens auf eine größere Menschenansammlung traf. Es war eine politische Versammlung. Merkwürdig ist, daß die meisten Versammlungen auf dem Platz der Ställe stattfinden, am Ufer des Flusses, gegen den die menschliche Stimme kaum aufkommt. Trotzdem ich auf der Quaibrücke nahe die den Rednern saß – sie sprachen von einem kahlen viereckigen Sockel aus Quadersteinen herab – verstand ich nur wenig. Freilich wußte ich im voraus, um was es sich handelte und alle wußten es. Auch waren alle einig, eine vollständigere Einigkeit habe ich nie gesehn, auch ich war völlig ihrer Meinung, die Sache war allzu klar, wie oft schon durchgesprochen und immer noch klar wie am ersten Tag, beides, die Einigkeit und die Klarheit waren herzbeklemmend, die Denkkraft stockte vor Einigkeit und Klarheit, man hätte manchmal nur den Fluß hören wollen und sonst gar nichts.

Donnerstag, 24. März 2011

Kommentar Fremdes Volk

Ein fremdes Volk, die Tschuktschen vielleicht, aber nein, es sind, wie es scheint, die Amerikaner, fremd genug, wenn man auf die Tante Theres schaut, die, lange schon ansässig in der Neuen Welt und zu Besuch in ihrer Voralpenheimat, drei Wochen nach ihrer jeweiligen Ankunft aus Wiedersehensfreude geweint hat und bereits drei Wochen vor der erneuten Abreise nach Amerika dann wieder aus Trennungsschmerz. Auch unser Ankömmling hier ist im wahrsten Sinne befremdet, vielleicht in übertriebener Weise. Sobald man ihn heranzieht und er nützlich eingreifen kann, und sei es zunächst auch nur bei einer unbedeutenden Angelegenheit, mag alles anders aussehen. Und dann wiederum, kann ihn die Fremdheit nicht jederzeit erneut anfallen, sind wir nicht, wenn wir unter Menschen gehen, immer bei einem fremden Volk einquartiert, womöglich sogar dann, wenn wir mit uns allein sind. 
Fremdes Volk

Mittwoch, 23. März 2011

Fremdes Volk

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Man konnte mich nirgends unterbringen, wahrscheinlich, weil ich weder zum Gärtner noch zum Koch noch zum Hausdiener geeignet gewesen bin. Ich habe in der Lower East Side ein Hinterzimmer genommen, das in einen Lichtschacht hinausging. Die Bowery und die ganze Lower East Side war in dieser Zeit das Haupteinwanderungsviertel. Über hunderttausend Juden sind hier alljährlich neu angekommen und in die engen, lichtlosen Wohnungen der fünf- bis sechsstöckigen Mietskasernen eingezogen. Nur der sogenannte parlour hatte in diesen zwei Fenster zur Straße hin, und an dem einen davon führte die Feuerleiter vorbei. Und doch sind die Einwanderer erfüllt gewesen von Hoffnung in jener Zeit, und wenn ich auch ein wenig niedergeschlagen war, so sprach ich mir doch einerseits Mut zu und versuchte andererseits mein Verhalten den Umständen anzupassen. Du bist in die Fremde gegangen, sagte ich mir, und hast Dich bei einem fremden Volk einquartiert. Du hast dort Deinen Mantel an den Nagel gehängt, niemand hat sich um Dich gekümmert. Man läßt Dich gewähren, man weiß, daß keine Gefahr von Dir droht. Was will der Einzelne gegenüber der großen Menge. Du bist gekommen und man läßt Dir für Dein Kommen die Verantwortung. Du hattest wohl kommen müssen, Du hattest eine Zuflucht gebraucht, das ist die stillschweigende Annahme. Die weitere Annahme ist daß Du diese Zuflucht nicht finden wirst oder jedenfalls nicht sogleich, man sieht Dir an, wie wenig Du Dich anzupassen verstehst, die Verhältnisse sind Dir wohl gar zu fremdartig, Du bist nicht am rechten Ort, könnte man meinen. Aber das läßt man Dich kaum fühlen, man ist auch zusehr mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt, vielleicht könntest Du bei diesen Angelegenheiten mit Deinen besonderen Erfahrungen und Fähigkeiten nützlich eingreifen, aber Du wagst Dich nicht einzumischen und man wagt Dich nicht heranzuziehn, die Gefahr, daß Du mit Deiner Fremdheit etwas verderben könntest, ist doch gar noch zu groß.

Dienstag, 22. März 2011

Kommentar Herzens Halt

Sebalds Werk ist voller offener und verdeckter Anklänge an Kafka, und Kafka ist obendrein der Protagonist des Abschnittes Dr. K.s Badereise nach Riva in den Schwindel.Gefühlen. Als solcher trifft er im Schattenreich auf sich selbst. Während einer unguten Nacht fokussiert sich der Blick zuguterletzt auf die Klinke der Tür, um die jemand tastet, und sogleich wird ein seltsames Echo hörbar, eine seltsame Spiegelung verwirrt das Auge und reißt an des Herzens Halt. Haben wir es, alles in allem, mit einem doppelten Kafka zu tun und einem selbstständigen, wenn auch spiegelbildlich eingebundenen Dritten oder mit nur einem, dreifach in sich verschachtelten Kafka.
Deines Herzens Halt

Deines Herzens Halt

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Die meiste Zeit ist es ihm äußerst unwohl. Er leidet an Bedrücktheit und Sehstörungen. In der Nacht hat er Zustände. Er wälzt sich nutzlos im Bett herum, macht sich kalte Umschläge um den Kopf, steht lange am Fenster, schaut auf die Gasse hinab uns wünscht sich, einige Stockwerke tiefer unter der Erde zu liegen. Immer wieder verharrt sein Blick an der Türklinke. Was stört Dich? Was reißt an Deines Herzens Halt? Was tastet um die Klinke Deiner Türe? Was ruft Dich von der Straße her und kommt doch nicht durch das offene Tor? Ach, es ist eben jener, den Du störst, an dessen Halt Du reißt, an dessen Tür Du um die Klinke tastest, den Du von der Straße her rufst und durch dessen offenes Tor Du nicht kommen willst.

Montag, 21. März 2011

Kommentar Soirée

Hier ist Kafka weitgehend mit sich allein, zunächst in der vom eigenen Reisetagebuch geleiteten Betrachtung durch Sebald während der Badereise des Dr. K. bei einer Kur in der Wasserheilanstalt zu Riva und dann, von ihm selbst erzählt, in einer größeren Abendgesellschaft, einsam, wie immer unter Menschen und ausgesetzt einem Sturm widerstreitender Empfindungen. Die jungen Bergingenieure kennen wir aus dem Besuch im Bergwerk, aber wird in der Gegend von Riva am Gardasee tatsächlich Bergbau betrieben? Vielleicht hat es uns unversehens an einen anderen, unbekannten Ort verschlagen.
 
Soirée

Sonntag, 20. März 2011

Soirée

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Aber das Leid fällt doch immer wieder, wie zu etwas Lebendigem geballt über ihn her, etwa während der Mahlzeiten. Es kommt vor, daß er dann glaubt, gelähmt zu sein und das Eßbesteck nicht mehr halten zu können. Übrigens sitzt bei Tisch zu seiner Rechten ein alter General, der sich zwar die meiste Zeit ausschweigt, dann aber doch hin und wieder abgründig kluge Bemerkungen macht. Bemerkenswerterweise beginnt allmählich auch das junge Mädchen zu seiner Linken, von der er annimmt, daß sie über den stummen Herrn zu ihrer Rechten, also über ihn, unglücklich sei, für ihn Gestalt anzunehmen. Sie ist eher klein, kommt aus Genua, sieht sehr italienisch aus, ist aber eigentlich aus der Schweiz und hat eine merkwürdig dunkel gefärbte Stimme. An den Samstagen finden oft größere Abendgesellschaften statt, die Ingenieure des nahegelegenen Bergwerkes etwa sind eingeladen. Dann fegen Empfindungsstürme durch seinen Kopf, enge Lichtpfeile. Im Sturmwind, Narrheit der Blätter, schwere Tür, leichtes Klopfen gegen sie, Aufnehmen der Welt, Einführung der Gäste, großes Erstaunen, wie es plappert, sonderbarer Mund, Unmöglichkeit sich damit abzufinden, Arbeiten mit Rückblick, Hammerschlag auf Hammerschlag, kommen schon die Ingenieure? Nein, es gibt irgendeine Verzögerung, der Direktor der Wasserheilanstalt bewirtet sie, es wird ein Hoch ausgebracht, die jungen Leute, dazwischen plätschert der Bach, der alte General sieht zu, wie das lebt und duftet, aber habe die überirdische, die göttliche Jugend um das zu fühlen, erhabene Mücke, die um die Tischlampe flattert, ja mein kleiner heuschreckenhafter, hochgezogen auf dem Stuhle hockender Tischgenosse.

Samstag, 19. März 2011

Fast unauffindbar

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Auch in der kaum erst vergangenen Zeit, in der es auf der Insel fast nirgendwo Straßen gab, saßen die Menschen in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnungen so gut wie verurteilt zu lebenslänglicher Gefangenschaft. Von Geburt aus ausgesetzt auf einer Insel, deren Küsten sie nur von Hörensagen kannten, wurde das Tal, in dem sie aufwuchsen und zumeist auch starben, zu einer zweiten Insel inmitten der endlosen Wogen der Vegetation. Aber nur wer uns nicht kennt kann behaupten, wir hätten unsere Gefangenschaft nicht geliebt. In unserem Städtchen waren wir ganz unter uns, verloren im hohen Gebirge lag es, fast unauffindbar. Nur ein schmaler Pfad führte zu uns herauf und selbst der war oft unterbrochen durch karges endloses Gestein, nur Einheimische konnten ihn wiederfinden.

Kommentar Unauffindbar

Ruht sein Blick auf unserer modernen Zivilisation, favorisiert Selysses die Eingezogenheit der Eremiten, in einer Höhle gar gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste, angesichts der kaum erst und nur schwach verdeckten Archaität Korsikas aber sieht er die Menschen als Gefangene der Enge. Kafka dagegen, getragen von Sehnsüchten Rousseaus, wie ihm nachgesagt* wird, vernarrt sich in die Geborgenheit überschaubarer Lebensverhältnisse.
 Fast unauffindbar

*Joseph Vogl, Ort der Gewalt

Kommentar Gibs auf

Ankunft und Empfang in Hotels und Pensionen beschreibt Selysses immer mit schöner Umständlichkeit und Verzögerungen bleiben kaum je aus. Das Verlassen der Unterkunft wird aber kaum je eines näheren Berichts gewürdigt, und fast macht man sich Sorgen, ob auch alles mir rechten Dingen abgelaufen ist und die Rechnung bezahlt wurde. Nachdem Selysses in seinem Hotel in Wien erwacht ist, läuft eine Synopse aus Empfangsszenen in Mailand und Marienbad sozusagen rückwärts ab, mit dem Effekt eines verzögerten Loskommens, den allerdings erst ein Uhrenvergleich an den Tag bringt. Die Deutung der Zeit ist aber einseitig und die Eile, die das Orientierungsversagen nach sich zieht, möglicherweise unnötig, denn auch Turmuhren können, wie jeder weiß, falsch gehen. Der Schutzmann könnte derselbe sein, der Jahre später, als alter Mann, sich nur wundern kann, wenn sich jemand entschließt, in Das nächste Dorf zu reiten, wenn doch, von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen, schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht. Über das ewige Fort und Zurück bei Kafka kann er nur lachen.
Gibs auf

Freitag, 18. März 2011

Gibs auf

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Am nächsten Morgen, als ich erwachte, aus einem tiefen traumlosen Schlaf, den nicht einmal die heraufdringenden Brandungsgeräusche der Verkehrsströme hatten stören können, war es mir, als hätte ich während der Stunden meiner nächtlichen Abwesenheit ein breites Wasser überquert. Eh ich die Augen aufmachte, sah ich mich die Gangway eines großen Fährschiffs herunterkommen, und kaum hatte ich festen Boden unter den Füßen, faßte ich den Entschluß, noch mit dem Morgenzug nach Paris zu fahren. In alle Eile packte ich meine Sachen, lief die Stufen herab zur Rezeption und wartete in dem kaum beleuchteten Foyer, bis die Signora, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, aus dem Fernsehzimmer hervorgekommen war, wo sie in tiefem Dämmer versunken gesessen war. Eine ungeheuer lange Zeit schien es mir zu dauern, bis er den kleinen Vorraum durchquert und hinter dem hohen, ihr nahezu bis zu den Schultern reichenden Rezeptionspult Aufstellung genommen hatte. Mit der größten Langsamkeit, beinahe so als bewegte sie sich in einer dichteren Atmosphäre, erledigte sie ohne jedes Wort die notwendigen Formalitäten. Trotz der Verzögerung war es noch sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, als ich endlich auf die Straße trat und zum Bahnhof ging. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: Von mir willst Du den Weg erfahren? Ja, sagte ich, da ich ihn selbst nicht finden kann. Gibs auf, gibs auf, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwung ab, so wie die Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Donnerstag, 17. März 2011

Kommentar Türkischer Honig

Bei Kafka finden wir immer wieder den Augenblick des überstürzten und, wie es scheint, ziellosen Aufbruchs, nur fort von hier, nur weg von hier, sie durchlief die Dörfer, Kinder standen in den Türen, sahen ihr entgegen und sahen ihr nach. Und wir finden den Augenblick einer zögernden Rückkehr, die den Anschein einer Rückkehr aus der Fremde in die Fremde hat: Da ist also mein Haus, ein kleines altes klägliches Haus. Sebald steuert, als willkommenen Kontrast, ein Bild der Fremde bei, Konstantinopel und türkischer Mokka, auch wenn es wohl nicht die Fremde des Rückkehrers ist. Sebald stellt auch klar, daß der Vater des Rückkehrers, Baptist Seelos, nicht mehr unter den Lebenden ist, für den verlorenen Sohn ist es insofern in jedem Fall zu spät. Der zögernde Rückkehrer wird zum Voyeur vor der eigenen Haustür und verspielt wohl auch die letzte Möglichkeit einer Ankunft daheim: wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte, wäre ich selbst wie einer der sein Geheimnis wahren will. Der alte Hof des Vaters ist wohl in Rußland zu suchen, näher an der Türkei als das deutsche Alpenvorland, Lewitans Bilder deuten darauf hin. Vielleicht ist Ekrem auch nicht Türke im engeren, sondern im weiteren Sinne, Angehöriger eines Turkvolkes, dann wäre die Bewirtschaftung eines russischen Hofes nicht weiter auffällig.
Türkischer Honig


Isaacus Levitan natus est 18 Augusti (30 Augusti Calendarii G
regoriani) anno 1860 in Kibartai, oppidum quod tunc erat in Imperio Russico et nunc est in Lituania. Mortuus est 22 Iulii (4 Augusti) anno 1900 Moscuae.


Mittwoch, 16. März 2011

Türkischer Honig

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und schaue mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes unbrauchbares Gerät ineinander verfahren verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Wir haben den Hof bewohnt, aber nicht mein Vater hat die Landwirtschaft betrieben, in einem der Seitenflügel hauste der jeweilige Pächter. Mein Vater war Baumeister, fast sämtliche größeren Bauten in der Umgebung, das Schulhaus, das Stationsgebäude, und das Wasserwerk, das den ganzen Ortsbezirk mit Strom versorgte, waren an seinem Reißbrett entworfen und unter seiner Aufsicht ausgeführt worden. In seiner Jugend hatte er achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet, von wo er die Kunst des Kaffeesiedens mitgebracht hatte. Noch nach seinem Tod verbrachte meine Mutter, vielleicht zum Andenken an ihn, ihre Tage vorwiegend beim Kaffeesieden, das sie auf die türkische Art vornahm. So nimmt es denn auch nicht Wunder, wenn ein Türke namens Ekrem für lange Zeit die Hofpacht innehatte. An den Abenden stellte er in der Küche große Mengen türkischen Honig her, den er dann, neben anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf den Jahrmärkten verkaufte. Möglicherweise ist es auch der Ekrem gewesen, der meiner Mutter das Mokkasieden beigebracht und auf seinen Wegen den schwarzen Kaffee aufgetrieben hat, über den sie auch in der nötigsten Zeit stets verfügte. Nun alles längst abgesunken, ich bin zurückgekehrt. Ein zerrissenes Tuch einmal im Spiel um eine Stange gewunden hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Bewohnt einer meiner Brüder den Hof, hat der Pächter den Seitenflügel verlassen? Rauch kommt aus dem Schornstein, das Abendessen wird gekocht. Ist Dir heimlich, fühlst Du Dich zuhause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Baumeisters Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer der sein Geheimnis wahren will.

Dienstag, 15. März 2011

Kommentar Wagenbauanstalt

Mathild beeindruckt uns seit jeher durch ihre herausfordernde Haltung gegenüber den Dorfbewohnern und so freuen wir uns zu erfahren, daß sie durch eine ererbte Wagenbauanstalt materiell gut abgesichert ist. Dadurch und durch ihre Eingezogenheit ähnelt sie dem Major Le Strange, der sich um die finanzielle Seite seiner Lebensweise ebenfalls keine Sorgen machen muß. Mathilds schwarze Erscheinung mit Regendach steht in scharfem Kontrast zu den kanariengelben Auftritten des Majors und ist doch von der gleichen Art. Le Stranges Verhältnis zu den Heiligen, denen er nachfolgt, wird nicht deutlich, und ob Mathild noch Wahrheit aus den Gebetbüchern zieht, ist ungewiß. Hat sie sich von den Anarchisten, Sozialisten und Aufklärern überwältigen lassen, oder hat sie inzwischen, wie wir glauben möchten, ganz ihren eigenen Kopf. Auf ihre Bücherwand scheint sie wie auf etwas Vergangenes und Abgetanes zu blicken. In ihrem zweistöckigen Haus ist sie wohl auf Hausaltsunterstützung angewiesen, und sie kann sie sich auch leisten. Von einem Haushälter in klar geregelten Vertragsverhältnissen, vergleichbar der Stellung von Florence Barnes, ist aber nicht die Rede.
Wagenbauanstalt

Montag, 14. März 2011

Wagenbauanstalt

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Es ist mein alter Heimatort und ich bin wieder in ihn zurückgekehrt. Von den Bemerkungen meiner Mitbewohner lasse ich mich in keiner Weise aus dem Konzept bringen. Ganz im Gegenteil habe ich mich in meiner Eingezogenheit in zunehmenden Maße wohlgefühlt. Unter den von mir im Grunde verachteten Dorfbewohnern gehe ich umher, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regendach. Ich bin wohlhabend und ich habe ein Haus mit Aussicht auf den Fluß. Es ist ein altes zweistöckiges Haus mit zwei großen Höfen. Ich habe eine Wagenbauanstalt geerbt, um die ich mich selbst nicht kümmere, und in beiden Höfen wird den ganzen Tag gesägt und gehämmert. Aber in den Wohnzimmern, die an der Vorderseite des Hauses liegen, ist davon nichts zu hören, dort ist tiefe Stille und der kleine Platz vor dem Hause, der rings geschlossen ist und nur nach dem Fluß sich öffnet, ist immer leer. In diesen Wohnzimmern, großen parkettierten von Vorhängen ein wenig verdunkelten Zimmern, stehen alte Möbel, in einen wattierten Morgenmantel eingewickelt gehe ich gern zwischen ihnen umher. In einem Regal, zu dem es mich unfehlbar hinzieht, lehnen, in sich zusammengesunken, der einige hundert Bände umfassenden Bibliothek. Neben Literarischen vornehmlich aus dem letzten Jahrhundert, neben Reiseberichten aus dem hohen Norden, neben Lehrbüchern der Geometrie und der Baustatik und neben einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gibt es da zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein. Gemischt mit den geistigen Schriften finden sich mehrere Traktate von Bakunin, Bebel, Eisner, Landauer sowie der autobiographische Roman der Lily von Braun.

Kommentar Cúchulainn

Wem immer Kafka zurufen mag: mächtig sind Deine Schenkel und weit die Brust, es ist verlockend, darin ein Kontrastphantasma des uns aus den Ringen des Saturn bekannten, körperlich benachteiligten Swinburne zu sehen, der sich in seiner militärischen Begeisterung in die Rolle des Cúchulainn versetzt und seine krankhaften Anfälle als Annäherung an den Riastradh, der gälischen, von körperlichen Verzerrungen und ins Maßlose gesteigerter Kampfkraft gekennzeichneten Form des Berserkertums erlebt. Swinburne ergeht es aber ähnlich wie Stendhal, dem zu einem bestimmten Zeitpunkt klar geworden war, daß er sein Glück nicht im Dienst der Armee würde machen können, um daraufhin den Entschluß zu fassen, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Auch Swinburne wirft sich rückhaltlos in die Literatur.
Cúchulainn

Sonntag, 13. März 2011

Cúchulainn

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Von sehr kleinem, in jedem Stadium der Entwicklung weit hinter dem Normalmaß zurückbleibendem Wuchs und geradezu erschreckend feingliedrigem Körperbau, trug dennoch bereits der Knabe einen ungeheuer großen, ja überdimensionalen Kopf auf seinen schwachen, vom Halsansatz steil abfallenden Schultern. Dieses wahrhaft außerordentliche, durch einen seitwärts abstehenden feuerroten Haarschopf und wassergrün strahlende Augen noch akzentuierte Haupt war allenthalben ein Gegenstand des Erstaunens. Ungeachtet seiner extremen körperlichen Disproportioniertheit aber träumte er von früh an unablässig davon, in ein Kavallerieregiment eintreten und als beau sabreur in einer wahnwitzigen Schlacht sein Leben lassen zu können. Vorstellungen dieser Art vermochten ihn in solche Paroxysmen der Passioniertheit zu versetzen, daß er die Herrschaft über seine Stimme und Glieder verlor. Er selbst sah sich in diesen Augenblicken der Kontorsion aber nur umso mehr als eine Art Cúchulainn hart am Rande des Riastradh. Suche mit spitzer Feder, rief er sich zu, den Kopf kräftig, fest auf dem Halse sich umschauend, ruhig von Deinem Sitz. Du bist ein treuer Krieger, innerhalb der Grenzen Deiner Stellung ein Herr, mächtig sind Deine Schenkel, weit die Brust, leicht geneigt der Hals wenn Du mit der Suche beginnst. Von weit her bist Du sichtbar, wie der Kirchturm eines Dorfes, auf Feldwegen von weither über Hügel und Täler streben Dir einzelne zu. Wenn es mit dem kräftigen Kopf auf eine, wenn auch makabre Art seine Richtigkeit haben mochte, so ging doch der Rest der wahnhaften Tirade auf beklagenswerte Weise an der Wahrheit vorbei, und als die Hoffnung auf einen Heldentod endgültig an seinem unterentwickelten Körper gescheitert war, warf er sich rückhaltlos in die Literatur und damit vielleicht in eine vielleicht nicht minder radikale Form der Selbstzerstörung.

Kommentar Schlinge den Traum

Ernst Herbeck ist nach geltenden Maßstäben wohl noch um einiges wunderlicher als Algernon Swinburne und keiner seiner Wege führt zu dessen mit wundervollem poetischen Bombast ausstaffierten Dichtung. Es herrscht allein die Magie des nackten, mittellosen Wortes. Kafka hingegen ist Herbecks unerschütterliche, immer aber ramponierte und geradezu surreale Fakten- und Bodennähe nicht unverwandt, und auch wenn Kafkas Blitze gewandter zum Horizont stürzen und heller leuchten, das rechte Licht fällt doch auf ein Bild aus der Kindheit des niederösterreichischen Poeten.
Schlinge den Traum

Samstag, 12. März 2011

Schlinge den Traum

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Auf einmal hatte er kaum mehr etwas essen und kaum mehr schlafen können. Nachts war er wachgelegen und hatte vor sich hingezählt. Es zog ihm den Leib zusammen. Das Familienleben, besonders das scharfe Denken des Vaters, zersetzte ihm, wie er sich ausdrückte, die Nerven. Dadurch verlor er die Herrschaft über sich, haute beim Essen den Teller weg oder schüttete die Suppe unter das Bett. Schlinge den Traum durch die Zweige des Baumes, dachte er bisweilen. Der Reigen der Kinder. Des herabgebeugten Vaters Ermahnung. Den Holzscheit über dem Knie zu brechen. Halb ohnmächtig, blaß, an der Wand des Verschlages lehnen, zum Himmel als zur Rettung aufsehn. Eine Pfütze im Hof. Altes Gerümpel landwirtschaftlicher Geräte dahinter. Ein eilig und vielfach am Abhang sich windender Pfad. Es regnet zeitweilig, zeitweilig aber scheint auch die Sonne. Eine Bulldogge springt hervor, daß die Sargträger zurückweichen. Die meiste Zeit war er von der Kleinheit seiner Gedanken geplagt und die Dinge nahm er wie durch ein feines Netz vor seinen Augen wahr.

Freitag, 11. März 2011

Seidenbücherwurm

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Wiederholt habe er bei seinem Anblick, so der Besucher, an die aschgraue Seidenraupe, Bombyx mori, denken müssen, sei es aufgrund der Art, wie er Stückchen für Stückchen, die ihm vorgesetzten Speisen vertilgte, sei es, weil er aus dem Halbschlummer, der ihn nach der Beendigung des Mittagsmahls überkam, unvermittelt zu neuem, von elektrischer Energie durchzucktem neuen Leben erwachte und mit flatternden Händen gleich einem aufgescheuchten Falter in seiner Bibliothek herumhuschte und die Staffeleien und Leitern auf und ab kletterte um die eine oder andere Kostbarkeit aus den Regalen zu holen. Ähnlich unablässig wie die das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern und ihren feinen Faden fortspinnenden Seidenwürmer bewegten sich die Bücher an den Wänden voran und verlangten nach ständig neuer Unterbringung. Er hatte, obwohl ihn auch solche kleinen Unternehmungen schon in die äußerste Panik versetzen konnten, drei neue Bücherbretter bestellt, den seine Bücher häuften sich. Der Tischler hatte die Maße abgenommen und versprochen in einigen Tagen die Bretter zu bringen. Aber er brachte sie nicht und er selbst vergaß die Sache, schon weil er in diesen Tagen oft fort und außer Hauses war. Erst nach einem Monat erinnerte er sich daran und hielt sich einmal bei dem Meister auf, den er noch aus seinen Kindertagen kannte. Und schon wieder vergaß er die Bücherbretter völlig und sah sich als Knaben zu Füßen seiner Tante sitzen, die ihm von dem ersten großen Ball erzählte, den sie als junges Mädchen besucht hatte in Begleitung ihrer Mutter. Viele Meilen fuhr man nach diesem Ball heimwärts durch eine schneehelle, vor Kälte klirrende Winternacht, bis auf einmal die Kutsche einhielt bei einer Gruppe dunkler Gestalten, die, wie es sich zeigte, dabei waren, einen Selbstmörder zu begraben an einem Kreuzweg.

Kommentar Seidenbücherwurm

Mit der ihm eigenen Schwerelosigkeit weist Sebald auch Algernon Swinburne einen maßgebliche Position zu im Gespinst des aschgrauen Seidenraupe, Bombyx mori, das am Ende die Ringe des Saturn vollständig um- und einhüllt, man sieht Swinburne als Raupe beim Essen und als Falter zwischen den Bücherregalen. Bei Kafka fällt immer wieder ein leicht verqueres oder aber peripheres Verhältnis zur Bücherwelt auf, bibliomane Gier nach Büchern zielt bei ihm nicht darauf, sie zu besitzen oder zu lesen, als vielmehr sie zu sehn, sich in der Auslage eines Buchhändlers von ihrem Bestand zu überzeugen, die Bücherräume werden sauber ausgefegt, und Swinburne erfährt unter Kafkas Blick die Sorge nach hinreichenden Regalmetern für die ständig wachsende Schar der Folianten. Die Wahrnehmung dieser praktischen Aufgabe liegt bei ihm allerdings nicht in dafür berufenen Händen.
Seidenbücherwurm

Donnerstag, 10. März 2011

Kommentar Weisheit

Alec Garrad, der unter den Ringen des Saturn seit langen Jahren schon an einem Modell des Jerusalemer Tempels baut, hält einen diskursiven Zugang zu den Welträtseln für ausgeschlossen und vertraut allein auf die mystische Betrachtung der Farbgebung des Entenfederkleids. Auch vertraut er keineswegs, wie wir jetzt zusätzlich erfahren, auf die Gleichnisreden der Weisen, sie bezögen sich immer nur auf irgendein sagenhaftes Drüben, das uns hier gar nicht helfen kann. Selysses hält ihm entgegen, mit seinem Tempelbau lebe er letztlich doch auch in einem Gleichnis. Die beiden geraten in einen Strudel von Gleichnis und Realität und schauen, als sie wieder auftauchen, ein wenig benommen drein.
Weisheit

Mittwoch, 9. März 2011

Weisheit

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Je ne lirai plus les sages

Auf dem Grabenbrückchen, auf dem wir noch eine Weile gestanden sind, erzählte Garrad mir von seiner Vorliebe für die Enten, von denen jetzt ein paar still auf dem Wasser herumruderten und das Futter auffischten, das er ab und zu aus seinem Hosensack holte und hinabstreute für sie. Immer habe er Enten gehalten, schon als Kind, und immer sei ihm die Farbgebung ihres Federkleids, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzig möglich Antwort erschienen auf die Fragen, die ihn seit jeher bewegten. Auf die Weisheit der Weisen, mit der er bei seiner schon Jahre andauernden Arbeit am Modell des Jerusalemer Tempels naturgemäß vielfach in Berührung gekommen sei, sei demgegenüber nur wenig Verlaß. Viele beklagten sich zu Recht, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: Gehe hinüber, so meint er nicht, daß man auf die andere Straßenseite hinüber gehn solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas was wir nicht kennen, was auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und was uns also hier gar nicht helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist und das haben wir gewußt. Aber das womit wir und eigentlich jeden Tag abmühn, seien andere Dinge. Ich fragte, warum er sich wehre. Würde er den Gleichnissen folgen, dann wäre er selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei. Und sei nicht genau das die Wahrheit über ihn, es vergehe doch kaum ein Tag, an dem er nicht zumindest ein paar Stunden an dem Tempelmodell arbeite. Fast den gesamten letzten Monat habe er nach seinen eigenen Worten damit zugebracht, an die hundert der nicht einmal einen Zentimeter großen Figuren zu bemalen, von denen weit über zweitausend inzwischen das Tempelgelände bevölkerten. Und was ein Tempelmodell anderes als ein Gleichnis. Er möchte wetten, daß auch das nur ein Gleichnis sei, so er, und ich darauf: Sie haben gewonnen, und er: Aber leider nur im Gleichnis. Nach kurzem Überlegen sagte ich: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis haben Sie verloren. Über das was wir hatten sagen wollen, hätten wir wohl beide keine Auskunft geben können, die in ihrer Klarheit die des Entengefieders übertroffen hätte.

Kommentar Signorina

In den Schwindel.Gefühlen referiert Salvatore dem Selysses, als der ihn bei der Lektüre antrifft, in groben Umrissen den Inhalt eines Buches von Sciascia. Jetzt hat sich die Zeitachse verschoben, Selysses ist zu Sciascia geworden, den Salvatore bei der Recherche für das noch zu schreibende Buch über das Jahr 1912+1 unterstützt. In einem gewissen Gracchio hat Salvatore einen Zeitzeugen ausfindig gemacht, den er, extra angereist, nicht antrifft, statt dessen aber seine Schwester, ein altes Fräulein, klein, schwach, sehr beweglich und überaus freundlich. Der Besuch gestaltet sich sehr angenehm, und obendrein ist die Signorina bestens unterrichtet. Alles in allem ein sehr gelungener Ausflug nach Matera.
Una Signorina Vecchia

Dienstag, 8. März 2011

Una Signorina Vecchia

Aus dem Schattenreich
Kommentar


Es tue ihm leid, mich nicht sogleich bemerkt zu haben, aber seine Kurzsichtigkeit sowohl als die Vertiefung in seine Notizen hätten ihn von allem, was um ihn her vorging, so gut wie völlig ausgeschlossen. Es habe ihm einige Mühe gekostet, weiteres Licht in die mich interessierende Angelegenheit zu bringen. Letzthin sei er deswegen in Matera gewesen. Es handelte sich um eine Besprechung mit Gracchio, der damals auf die eine oder andere Weise mit dem Prozeß zu tun gehabt hatte. Nun war es eigentliche keine so sehr dringliche Angelegenheit gewesen, sie hätte sich wohl, wenn auch langsamer – aber da sie nicht dringlich war, wäre das kein Schaden gewesen – recht gut schriftlich erledigen lassen, aber es traf sich gerade, daß er freie Zeit hatte und Lust bekam, mit Gracchio, hinsichtlich dessen, was er wußte in der Angelegenheit, ins Reine zu kommen, auch kannte er Matera, dessen Besichtigung ihm einmal empfohlen worden war, noch nicht, so entschloß er sich kurzer Hand hinzufahren, leider – es erübrigte keine Zeit mehr dazu – ohne sich vorher zu vergewissern, ob er Gracchio jetzt in Matera auch antreffen würde. Tatsächlich war Gracchio nicht zuhause. Seine Schwester, ein altes Fräulein, klein, schwach, sehr beweglich, überaus freundlich, teilte ihm dies unter vielfachen Äußerungen des Bedauerns inmitten einer großzimmrigen von Sauberkeit blinkenden Wohnung mit. Während sie den Caffè tranken, den er aus Höflichkeit nicht hatte ausschlagen wollen, zeigte sich, daß sie in der fraglichen Angelegenheit kaum weniger bewandert war als ihr Bruder. Die Geschichte, die sie erzählte, ergab, wie ich - das müsse er einräumen - ganz zu Recht angenommen hatte, eine faszinierende Synopsis der Jahre unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg. Im Zentrum stehe eine gewisse Maria Oggioni, nata Tiepolo, die am 8. November 1912, ihren eigenen Angaben zufolge in Notwehr den Burschen ihres Gemahls, einen Bersagliere namens Quintilio Polimanti, erschossen habe. Der Prozeß, so Gracchios Schwester, habe die Phantasie der Nation wochenlang beschäftigt – entstammte die Angeklagte doch, wie die Presse immer wieder hervorzuheben nicht müde wurde - dem Geschlecht des berühmten venezianischen Malers. Der Prozeß habe zuletzt nichts anderes an den Tag gefördert, als die im Grunde allen bekannte Wahrheit, daß das Gesetz nicht gleich sei für alle und die Gerechtigkeit nicht gerecht. Eigenartig aber, so die Signorina Gracchio, wie in diesem Jahr alles auf einen einzigen Punkt zustrebte, an dem sich, ganz gleich, was es kostete, irgend etwas ereignen mußte. Beim Abschied sagte sie mir, sie habe nun alles erzählt, was sie wisse, ihr Bruder aber werde mir zuverlässig alle ihm bekannten Einzelheiten aufschreiben.

Montag, 7. März 2011

Kommentar Milena

So wie Selysses unter Schwindelgefühlen in einem Augenblickstraum die Trauung mit Luciana Michelotti erlebt, so erlebt er, in der Gestalt des Jacques Austerlitz, unmittelbar vor Aufbruch zu seiner Odyssee durch Europa ein minutenlanges stilles Eheglück mit Penelope, peacefully. Nun werden wir Zeuge eine ganz ähnliche Szene im europäisch-slawischen Bereich. Es läßt sich zunächst ein wenig spröder an, die schöne Antiquarin fegt selbst den Laden aus. Die Notwendigkeit dafür mag im relativ geringeren wirtschaftlichen Entwicklungsstand in Osteuropa zu suchen sein, Antiquariate sind allerdings auch im voll entwickelten Westen oft nicht sonderlich gewinnabwerfend. Der Szene fehlt der mythologische Hintergrund, wo es hinführt, wenn der eine geistesabwesend zu sein scheint und die andere tief in Gedanken, ist ein nicht im Kreuzwortverfahren zu lösendes Rätsel.

Milena Zgodna

Milena Zgodna

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Die Inhaberin des Antiquariats öffnete am Morgen ihren Laden, dann kehrte sie ihn aus. Sie hatte keinen Gehilfen und mußte alle Arbeit selbst tun. Ganz ausnahmsweise trat heute schon zu dieser frühen Stunde ein Käufer ein. Er war in großer Eile, er schien die Eröffnung des Ladens schon erwartet zu haben. Die Inhaberin des Antiquariats stellte den Besen in die Ecke. Wenn sie den Käufer kannte, so zeigte sie es nicht, wie aber sollte sie ihn nicht kennen, wie hätte es ihr entgehen sollen, daß er sie, Milena Zgodna, die sehr schöne Inhaberin des Antiquariats, schon seit geraumer Zeit bewunderte. Sie setzte sich, wie es stets ihre Gewohnheit war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite der Gazeta. Ab und zu lächelte sie, wie es einer Geschäftsfrau wohl anstand, herüber zu ihm, der, so mochte es scheinen, geistesabwesend verschiedene Fächer und Laden mit architektonischen Gravuren durchblätterte, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus.

Sonntag, 6. März 2011

Kommentar Sorgen

Alles schien darauf hin zu deuten, Adela Fitzpatrick sei ein Wesen transparenter Schönheit, ein unbeschwerter leichter Hauch, beim Federball viel länger oft, als es die Schwerkraft erlaubte, ein paar Spannen über dem Parkettboden in der Luft schwebend. Nun erfahren wir, so klar und einfach ist es nicht. Zwar hat die Freundschaft mit Dafydd Elias ihrem Sohn Gerald die tiefe Niedergeschlagenheit und ihr damit die schlimmste Sorge genommen, es bleiben aber Geralds nach wie vor mangelhaften schulischen Leistungen. Wie in den meisten Fällen, so erweisen sich auch hier die Sorgen der Mutter schon bald als unnötig, das macht sie nicht weniger anrührend. Angesichts der Bedeutung, die Motten und Nachtfaltern in Andromeda Lodge zukommt, verwundert es nicht, wenn die junge Witwe ihr Herz schließlich an einen Entomologen verliert.
Sorgen einer Mutter

Samstag, 5. März 2011

Sorgen einer Mutter

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich beobachtete ihn, an einem trostlosen Samstagnachmittag, als draußen der Herbstregen herunterströmte, wie er am Ende eines Korridors Feuer zu legen versuchte an einem Stapel Zeitungen, der dort aufgeschichtet war auf dem Steinboden neben der offenen, in einen Hinterhof hinausführenden Tür. In dem grauen Gegenlicht sah ich seine kleine, zusammengekauerte Gestalt und die Flämmchen, die an den Rändern der Zeitungen züngelten, ohne daß es recht brennen wollte. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte er, am liebsten wäre ihm ein riesiges Feuer und an Stelle des Schulgebäudes ein Haufen Trümmer und Asche. Von da an habe ich mich um ihn gekümmert und ihn in Schutz genommen vor den Mitschülern. Am zweiten oder dritten Elternbesuchstag ist es gewesen, daß er mich voller Stolz über das Freundschaftsverhältnis, in dem er zu mir, dem um einiges Älteren, stand, seiner Mutter Adela vorstellte, die damals kaum mehr als dreißig Jahre gewesen sein dürfte und sehr glücklich darüber war, daß ihr junger Sohn, nach den anfänglichen Schwierigkeiten, in mir einen Beschützer gefunden hatte. Trotzalldem kam er in den ersten Gymnasialklassen sehr schlecht fort. Für seine Mutter, die so schöne wie schweigsam stolze, ihr unruhiges Wesen immerfort mit äußerster Kraft beherrschende Frau, war das eine Qual. Sie hatte von seinen Fähigkeiten große Vorstellungen, die sie aber aus Scham niemandem eingestand und für deren Besprechung und Bekräftigung sie deshalb auch keinen Vertrauten hatte, umso quälender waren für sie seine Mißerfolge, die allerdings nicht verschwiegen werden konnten, sich gewissermaßen von selbst eingestanden und eine widerliche Menge Vertrauter erzeugten, nämlich das ganze Professorenkollegium und die Mitschülerschaft. Er wurde ihr ein trauriges Rätsel. Sie strafte ihn nicht, sie zankte nicht; daß er es an Fleiß wenigstens nicht allzusehr fehlen ließ, sah sie; zuerst glaubte sie an eine Verschwörung der Professoren gegen ihn und diesen Glauben hat sie niemals ganz verlassen, aber seinen Übertritt in ein anderes Gymnasium scheute sie meinethalben. Er aber lebte unter ihrem traurig fragenden Blick sein unbefangenes Kinderleben weiter. Er hatte keinen Ehrgeiz; da er nicht durchfiel, war er zufrieden. Ihre Sorge aber war gänzlich umsonst. Nicht nur, daß seine Leistungen in den höheren Klassen sich erheblich besserten, auch die Universität hat er im Fach Astrophysik, die schon bald seine Leidenschaft geworden war, glänzend abgeschlossen. Er ist dann an ein astrophysisches Forschungsinstitut in Genf gegangen, wo ich ihn mehrfach noch besucht habe und Zeuge geworden bin, wenn wir miteinander aus der Stadt hinaus- und am Seeufer entlangwanderten, wie seine Gedanken, gleich den Sternen selber, allmählich aus den sich drehenden Nebeln seiner physikalischen Phantasien hervorkamen. Adela, die schöne und stolze, habe ich dagegen nicht mehr wiedergesehen, aus eigener Schuld. Sie ist, nachdem der Sohn sein Studium absolviert und die Forschungsarbeit aufgenommen hatte, mit einem amerikanischen Entomologen namens Willoughby nach North Carolina gegangen.

Donnerstag, 3. März 2011

Versunken in die Nacht

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Man kann ja tatsächlich zu Fuß in einer Nacht fast von einem Ende dieser riesigen Stadt ans andere gelangen, und wenn man einmal gewöhnt ist an das einsame Gehen und auf diesen Wegen nur einzelnen Nachgespenstern begegnet, dann wundert man sich bald darüber, daß überall in den zahllosen Häusern, in San Telmo gerade so wie in Palermo oder Retiro, die Porteños jeden Alters, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Versunken in die Nacht sind sie. So wie man manchmal den Kopf senkt um nachzudenken, so ganz versunken sind sie, die ringsum schlafen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten unter festem Dach ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später einmal in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, vor Furcht gegen die Erde gekehrt, und doch ruhig atmend. Und Du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben Dir. Warum wachst Du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein. Bis in die entlegensten Bezirke führen Dich Deine Wachgänge, in Vorhöfe der Metropole, in die Du sonst niemals gekommen wärst, und wenn es Tag wird, fährst Du zurück mit dem Subte, zusammen mit all den anderen armen Seelen, die um diese Zeit von der Peripherie zurückfluten in die Mitte. Weiterhin mußt Du wachsam und auf der Hut sein: El miércoles, con motivo del control de pasajeros, se produjo el inesperado: contra 113.987 personas ingresadas al subte, la cifra de los que habían vuelto a la superficie fue de 113.983, i.e. cuatro pasajeros inhallables.

Kommentar Versunken

Bei seiner stillen Arbeit im Schattenreich muß der schlichte Werkmann immer damit rechnen zu spät zu kommen, weil Sebald selbst bereits dagewesen ist. Es ist nicht gut vorstellbar, Austerlitz habe bei seiner Schilderung der schlafenden Londoner, die sich unversehens in ihren Steinhäusern als schutzlose Nomaden zu erkennen geben, nicht Kafkas Nachts vor Augen oder im Sinn gehabt. Der Sinn ist allerdings teilweise verkehrt, während Kafkas Nomaden ruhig atmen, halten sie bei Sebald ihr Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, hier nun muß sich das eine mit dem anderen vertragen. Ob Sebald seine Vorliebe für die Nomaden insgesamt entlehnt, oder für sie bei Kafka, wie dann auch bei Chatwin, nur einen freundschaftlichen Widerhall gefunden hat, sei dahingestellt. Wenn Sebald die Nomaden am nächsten Morgen auf die neuzeitlichen Karawanenwege der Metro schickt, so erschließt sich mit dem Verschwinden von vier Reisenden, das Cortázar bei einer Zählung entdeckt hat, ein weiteres, unterirdisches Reich der Unbehausten. Die Szenerie hat sich daraufhin augenblicklich von der Themse an den La Plata verlagert.
Versunken in die Nacht

Mittwoch, 2. März 2011

Mathild

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Traurig lief die alte Magd vom Berg, trug den Korb mit Äpfeln voll beladen. Sie aber entlief auch ihr, entlief allen und auch der Magd. Sie lief den Abhang hinunter. Das hohe Gras hinderte sie im Laufen. Ich stand oben bei einem Baum und sah ihr nach. Sie, die im Dorf als überspannte Person gegolten hatte, ist bald darauf in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber bald unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Dort hat man sie eine rote Betschwester geheißen. Die Mathild ihrerseits hat sich, nach dem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt.

Kommentar Mathild

Ein Laufen, vielleicht ein Fliehen, für eine kurze Zeit verfolgt von Blick eines Betrachters, Beginn und Ende der Bewegung bleiben außerhalb des Blickfeldes. In einem Fall deuten wir dieses Kafka - und uns mit ihm - betörende Bild als Flucht aus Riva. Hier nun haben wir es mit zwei unterschiedlichen, sich den Berg hinab überholende Bewegungen zu tun. Die Beweggründe für den Aufbruch der alten Magd bleiben im Dunkeln, Mathild aber ist auf der Flucht aus dem Dorf, eine Flucht, die sie zunächst nach Regensburg und nach München, mit dem übergreifenden Ergebnis einer ins Dorf zurückgekehrten roten Betschwester, deren Gewand freilich schwarz ist, den Dorfbewohnern ein sogenannter Stachel im Fleisch. Ihre Flucht war in mancher Hinsicht nicht umsonst, die Heiterkeit, die man trotz allem über Kafkas Laufszenen spürt, hat sie nach außen gekehrt.
Mathild

Dienstag, 1. März 2011

Kommentar Ottilie

Das für Sebald exemplarische Wirtschaftsunternehmen ist ohne Zweifel das von den Schwestern Bina und Babett betriebene Café Alpenrose, das während der langen Jahre seines Bestehens nie ein Gast betreten hat. Ob das Handschuhgeschäft der Tante Otýlie in Prag wesentlich mehr Gewinn abwirft, ist ungewiß. Nun aber hat es Ottilie Tschotka, offenbar ohne ihr Zutun und eher gegen ihren Willen, nach oben gespült, sie ist die Inhaberin einer von Kafka entworfenen Handelshölle. Ottilie Tschotka verschließt die Augen, ändert ihre Lebensweise so gut wie gar nicht und entkommt so der beklemmenden Atmosphäre. Das Ladengeschäft ist sowohl klein und verborgen als auch in sich verwinkelt und riesengroß, es wird anscheinend von niemandem je betreten oder verlassen und ist doch überfüllt wie ein Bienenkorb, bedenklich stimmt auch der Zahlungsverkehr, immerhin die Hauptschlagader unserer Existenzweise.
Ottilie Tschotka

Ottilie Tschotka

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Es ist ein kleiner Laden, aber es ist viel Leben darin, von der Gasse her hat er keinen Eingang, man muß durch den Flur gehn, einen kleinen Hof überqueren, erst dann kommt man an die des Geschäftes, über der eine Tafel mit dem Namen der Ladeninhaberin hängt. Ottilie Tschotka ist ein alleinstehendes Fräulein von einer beängstigend zierlichen Statur. Sie trägt stets ein schwarzseidenes plissiertes Überkleid mit einem abnehmbaren Kragen aus weißer Spitze und bewegt sich in einer kleinen Wolke aus Maiglöckchenduft. Es ist ein Wäschegeschäft, es wird dort fertige Wäsche verkauft, aber mehr noch unverarbeitetes Leinen. In einem Winkel ist eine Spezialabteilung für Handschuhe untergebracht, Ottilie Tschotkas ursprüngliches Metier, sie hatte zunächst ein kleines Handschuhgeschäft geführt, das gleich einem geweihten Haus oder einem Tempel erfüllt gewesen war von einer gedämpften, alle profanen Gedanken bannenden Atmosphäre. Für einen Uneingeweihten, der zum erstenmal in den neuen, erweiterten Laden kommt, ist es völlig unglaublich, wie viel Wäsche und Leinen verkauft wird oder richtiger, da man ja einen Überblick über das Ergebnis des Handels nicht bekommt, in welchem Umfang und mit welchem Eifer gehandelt wird. Wie gesagt, gibt es keinen direkten Ladeneingang von der Gasse, aber nicht nur das, auch vom Hof sieht man keinen Kunden kommen und doch ist der Laden voll von Menschen und immerfort neue sieht man und die alten verschwinden, man weiß nicht wohin. Es gibt zwar auch breite Wandregale, in der Hauptsache aber sind die Regale rings um die Pfeiler angebracht, die das vielfache klein zerteilte Gewölbe tragen. Infolge dieser Anordnung weiß man von keiner Stelle aus genau, wie viele Leute im Laden sind, immer wieder kommen um die Pfeiler herum neue hervor, und das Nicken der Köpfe, die lebhaften Handbewegungen, das Trippeln der Füße im Gedränge, das Rauschen der zur Auswahl ausgebreiteten Ware, die endlosen Verhandlungen und Streitigkeiten, in welche sich, auch wenn sie nur einen Verkäufer und einen Kunden betreffen, immer der ganze Laden einzumischen scheint – dies alles vergrößert das Getriebe über die Wirklichkeit hinaus. In einer Ecke ist ein Holzverschlag, breit, aber nicht höher als daß sitzende Menschen in ihm Platz haben, das ist das Komptoir. Die Bretterwände sind offenbar sehr stark, die Tür ist winzig, Fenster anzubringen hat man vermieden, nur ein Guckfenster ist da, ist aber innen und außen verhängt – trotzalldem aber ist es erstaunlich, daß in diesem Komptoir jemand bei dem Lärm draußen Ruhe zu schriftlichen Arbeiten findet. Ottilie Tschotka scheint von all dem völlig unberührt. Wenn sie nicht gerade, was selten genug vorkam, eine ihrer, wie sie immer sagte, verehrten Kundinnen bediente, war sie ohne Unterlaß damit beschäftigt, in der Handschuhecke im Sortiment aus Hunderten, wenn nicht Tausenden der verschiedensten Handschuhpaare, zu dem solche aus Baumwollgarn für den Alltagsgebrauch ebenso gehörten wie die vornehmsten Pariser und Mailänder Kreationen aus Samt oder sämischen Leder, die von ihr geschaffene und über alle Wechselfälle der Geschichte hin aufrechterhaltene und nur von ihr allein wirklich verstandene Handschuhordnung und Hierarchie aufrechtzuerhalten. Um sie herum tost das ihr in der Tiefe ihres Herzens fremde Handels- und Rechnungswesen. Manchmal wird die innen an der Tür zum Komptoir hängende dunkle Portiere zurückgeschlagen, dann sieht man dort türausfüllend einen kleinen Kontorgehilfen stehn, die Feder hinterm Ohr, die Hand über den Augen, und neugierig oder auftragsgemäß den Wirrwarr im Laden betrachten. Es dauert aber nicht lange, schon schlüpft er zurück und läßt die Portiere derart schnell hinter sich niederfallen, daß man such nicht den kleinsten Blick ins Innere des Komptoirs erhascht. Eine gewisse Verbindung besteht zwischen dem Komptoir und der Ladenkasse. Diese letztere ist knapp bei der Ladentür angebracht und wird von einem jungen Mädchen verwaltet. Sie hat nicht so viel Arbeit, als es zuerst scheinen könnte. Nicht alle Leute zahlen bar, ja es zahlen die wenigsten so, es gibt offenbar noch andere Möglichkeiten der Verrechnung.