Samstag, 2. Oktober 2010

Liest Conrad

Sans comprendre l’horreur


Den Ringen des Saturn ist die Stelle aus einem Brief Joseph Conrads an Marguerite Poradowska vorangestellt. Der gesamte Fünfte Teil des Buches ist für Conrad reserviert, er muß ihn sich nur mit Roger Casement teilen. In einem Hotel in Southwold hatte Selysses den Beginn einer BBC-Sendung über Casement und Conrad gesehen, war aber in dem grünen Samtfauteuil, den er vor den Fernseher gerückt hatte, bald schon in einen tiefen Schlaf gefallen, unverantwortlicher Weise, wie er glaubt. Er macht sich also daran, die verschlafene Geschichte aus den Quellen einigermaßen zu rekonstruieren.

Was das für Quellen sind, erfahren wir nicht. Aus der Marbacher Ausstellung Wandernde Schatten, Sebalds Unterwelt wissen wir, daß der dem Selysses in vielen Belangen ähnliche Dichter W.G. Sebald sich oft auf schlichte rororo-Monographien gestützt hat, zum Entsetzen derer, die in ihm eine Art schriftstellernden, vorwiegend mit dem Holocaust beschäftigten Historiker gesehen hatten, und zum Entzücken seiner Freunde, die ohnehin wissen, daß der Dichter relativ schlichtes Gerät für die Orientierung in der Faktenwelt benötigt. Selysses seinerseits arbeitet so gründlich, daß er zur Klärung der Hintergründe und Lebensumstände Conrads eigens Hugos von Conrads Vater Appolo Korzeniowski ins Polnische übertragenes und unendlich langweiliges Buch Les travailleurs de la mer durchliest. Eine Erwähnung Casements in Conrads Congo Diary ist Selysses aus einer, wie es scheint, länger schon zurückliegenden Lektüre wortwörtlich gegenwärtig geblieben. Er, Conrad, habe Casement einmal nur mit einem Stecken bewaffnet in die gewaltige Wildnis aufbrechen sehen, und einige Monate darauf sei er dann aus der Wildnis wieder hervorgekommen, etwas magerer vielleicht, aber sonst so unbeschadet, als kehrte er gerade von einem Nachmittagsspaziergang im Hyde Park zurück. In der der Penguin Classics-Ausgabe des Heart of Darkness beigegebenen Version des Congo Diary findet sich unter dem 13. Juni 1890 der Eintrag: Made the aquaintance of Mr Roger Casement, which I should consider as a great pleasure under any circumstances and now it becomes a positive piece of luck. Thinks, speaks well, most intelligent and very smpathetic; und unter dem 28 Juni: Parted with Casement in a very friendly manner – und sonst weiter gar nichts zu Casement. Offensichtlich sind verschiedene Versionen des Tagebuchs im Umlauf.

Bevor also Selysses aus Conrads Schriften liest, liest er weiter über ihn und erfährt neben anderem, daß Conrad, bevor er aufbricht in die weit mehr als nur traurigen Tropen des Kongo, als Kind die kaum weniger traurige Kälte Sibiriens am Verbannungsort seines Vaters erlebt hat, nahe der Stadt Wolodga, einem einzigen Sumpfloch. Der Jahresablauf ist dort auf zwei Jahreszeiten beschränkt, den weißen und den grünen Winter. Die Leichenstarre geht über in einen grauenhaften Marasmus und wieder in Leichenstarre. Im weißen Winter ist alles tot, man ist umgeben von einer endlosen Finsternis, im grünen Winter alles am Sterben. Unmittelbar vor Aufbruch in den Kongo im Jahre 1890 und gleichsam als stärkende Vorbereitung darauf erlebt Conrad dann noch einmal seine polnisch-ruthenischen Heimat in schöner und reinigender Kälte: Als der Schlitten anruckte, begann für mich, begleitet von dem leisen gleichmäßigen Schellengeräusch, eine Winterreise zurück in die Kindheit. Nie bin ich besser gefahren als damals in die um uns her sich ausbreitende Dämmerung hinein. Wie früher, vor langer Zeit, sah ich die Sonne über die Ebene sich senken. Eine große, rote Scheibe, senkte sie sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Geschwind fuhren wir in die Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatten die von Bäumen umstandenen Dörfer trieben.


Von Conrad selbst liest Selysses vor allem die Briefe an seine Tante Marguerite Poradowska, das Kongotagebuch und die Erzählung The Heart of Darkness, aus der er die zentralen Eindrücke zur Situation im Kongo dann mehr oder weniger wörtlich in seinen eigenen Bericht überträgt: Die Instrumente der Ausbeutung sind Handelskompanien wie die Société Anonyme pour le Commerce du Haut Congo, deren bald legendären Bilanzen beruhen auf einem von sämtlichen Aktionären und sämtlichen im Kongo tätigen Europäern sanktionierten Zwangsarbeit und Sklavensystem. In manchen Regionen des Kongo wird die eingeborene Bevölkerung durch die erpreßte Arbeitsleistung bis auf geringe Reste dezimiert. Zwischen Geröllhalden und den mit rostigen Wellblech gedeckten, willkürlich in die Gegend gesetzten Baracken, unterhalb der hohen Felsklippen, aus denen der Strom sich hervordrängt, sowie an den steilen Abhängen der Ufer, überall sieht man schwarze Figuren in Trupps bei der Arbeit und Trägerkolonnen, die in langer Linie sich fortbewegen durch das unwegsame Terrain. Ein Stück weit außerhalb des besiedelten Areals stößt man auf einen Platz, an dem die von der Krankheit Zerstörten und von Hunger und Arbeit Ausgehöhlten zum Sterben sich niederlegen. Wie nach einem Massaker liegen sie da in dem gräulichen Dämmer auf dem Grunde der Schlucht. Offenbar hält man diese Schattenwesen nicht auf, wenn sie sich davonschleichen in den Busch. Sie sind jetzt frei, frei wie die Luft, die sie umgibt, und in die sie sich nach und nach auflösen werden.

Wie noch hundert Jahre später für den sich als Herbert Berger fiktionalisierenden Ernst Jünger waren für Conrad Afrika und der Kongo eines der fernsten Traumziele seiner Kindheit gewesen. Für ihn bleibt es aber nicht bei mehr oder weniger glimpflich verlaufenden afrikanischen Spielen. Je regrette d’ětre venu ici. Je le regrette měme amèrement, schreibt er an Marguerite Poradowska. Die Vorgänge im Kongo werfen für ihn einen fortdauernden Schatten und Schaden auf das Land Belgien, und die Hauptstadt Brüssel, mit ihren immer bombastischer werdenden Gebäuden, erscheint ihm wie über einer Hekatombe von schwarzen Leibern sich erhebendes Grabmal. Was Conrad aus dem Anblick Brüssels herausliest, liest Selysses weiter in einer besonderen bis auf den heutigen Tag andauernden, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägten, in der makabren gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierenden Häßlichkeit, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Wenn er allerdings behauptet, er entsinne sich genau, daß ihm bei meinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr, so bringt er doch wohl, wie er es zustimmend bei Flaubert beobachtet hatte, das Alltägliche mit dem Fabelhaften und Übernatürlichen in Verbindung.

Am anderen Ende der Gaststätte, in der ich mich vor der Rückfahrt wärmte, saß eine bucklige Rentnerin in dem trüben, durch die belgischen Butzenscheiben einfallenden Licht. Sie trug eine wollene Haube, einen Wintermantel aus dickem Noppenstoff und fingerlose Handschuhe. Ihr Geburtsdatum mochte in etwa übereinstimmen mit dem Zeitpunkt der Fertigstellung der Kongobahn. - Conrads Fingerspitze am weit über die Zeitkluft ausgestreckten Arm und die des Selysses berühren sich, wie auf dem Bild von Michelangelo, nicht ganz.

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