Sonntag, 17. Oktober 2010

Fern von Madrid

Aus dem Schattenreich
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In Kafkas Tagebüchern, Heften und Blättern sind zahllose Edelsteine zu finden, nicht selten haben sie den Glanz des Staubs, das Leuchten verlassener und heruntergekommener Orte. Neben Erde, Wasser, Luft und Feuer ist der Staub das fünfte Element des Dichters Sebald, eine Vorliebe zu Ruderalflächen wird ihm nachgesagt. So verwundert es nicht, wenn er zwei der Edelsteine, die Barke des Jägers Gracchus und den Dachboden des Jägers Hans Schlag, hervorgezogen hat, um ihren Glanz in den Schwindel.Gefühlen leuchten zu lassen. Unmöglich hätte er sich alle diese Edelsteine vornehmen und neu fassen können. Bei einigen, die ohne weiteres für seine Sammlung sich zu eignen scheinen, mag man sich fragen, was daraus hätte werden können.

Manchmal geschieht es, die Gründe dessen sind oft kaum zu ahnen, daß der größte Stierkämpfer zu seinem Kampfplatz die verfallene Arena eines abseits gelegenen Städtchens wählt, dessen Namen bisher das Madrider Publikum kaum gekannt hat. Eine Arena, vernachlässigt seit Jahrhunderten, hier wuchernd von Rasen, Spielplatz der Kinder, dort glühend mit kahlen Steinen, Ruheplatz der Schlangen und Eidechsen. Oben an den Rändern längst abgetragen, Steinbruch für alle Häuser in der Runde, jetzt nur ein kleiner Kessel, der kaum fünfhundert Menschen faßt. Keine Nebengebäude, keine Ställe vor allem, aber das Schlimmste, die Eisenbahn ist noch nicht bis hierher ausgebaut, drei Stunden Wagenfahrt, sieben Stunden Fußweg von der nächsten Station.

Offen bleibt, ob überhaupt jemand den Austragungsort der Corrida erreicht. Auch dem glühendsten Aficionado dürften drei Stunden Wagenfahrt, sieben Stunden Fußweg im Anschluß an die Bahnfahrt zu denken geben, und gar der Stier, wo sollte er sich aufhalten, wenn keine Nebengebäude, keine Ställe zu finden sind. Wir sehen lediglich den von ungefähr eingetroffenen Matador inmitten der Kinder, die im schattigen, grasbewachsenen Teil der Arena grad so spielen wie sie gespielt haben auf der Kaimauer in Riva bei der Einfahrt der Barke des Jägers Gracchus; und wir sehen den Matador auf der von der Sonne staubigen Seite, inmitten der Schlangen und Eidechsen, die ihn umschwärmen wie den Major Le Strange das Federvieh; der aber war zuvor Georg Miles gewesen und hatte die große Echse zur Strecke gebracht. Wir nennen den bis dahin namenlosen Matador Jorge oder besser Jordi und erleben ihn in der seiner Herkunft angemessenen Einsiedelei. Dem blutigen Treiben hat er den Rücken gekehrt. Eine Haushälterin stellt er nicht ein, auf geregelte Mahlzeiten legt er keinen Wert. Das Spiel der Kinder, dem er aus einiger Entfernung zuschaut, ist ihm menschliche Wärme genug. Mit ihnen sprechen oder sie gar unterrichten will er nicht, am allerwenigsten in seiner ehemaligen Kunst.

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