Montag, 20. September 2010

Liest Grillparzer

Protokafka

In den Schwindel.Gefühlen treffen sowohl Kafka als auch Selysses mit Grillparzer zusammen, Kafka vermittels einer Halluzination und Selysses vermittels eines von Grillparzer verfaßten Buches. Kafka mietet sich in Wien im Hotel Matschakerhof ein, aus Sympathie für Grillparzer, der dort immer zu Mittag gegessen hat. Eine pietätvolle Geste, die sich leider als unwirksam erweist. Obwohl Kafka absagt, wo er nur kann, ist er, wie es ihm scheint, fortwährend mit schrecklich vielen Leuten beisammen. Er sitzt dann als Gespenst mit am Tisch, hat arge Platzangst und glaubt sich von jedem Blick, der ihn streift, durchschaut. Neben ihm, auf Tuchfühlung gewissermaßen, Grillparzer, bereits 1872 verstorben, jetzt hundertzweiundzwanzig Jahre alt und, wen kann es wundern, nahezu restlos vergreist. Er macht ungute Faxen und legt ihm einmal sogar die Hand aufs Knie.

In einer der Bars an der Riva blätterte Selysses in Grillparzers Tagebuch einer Reise nach Italien. Er hatte es in Wien gekauft, weil es ihm unterwegs nicht selten so geht wie Grillparzer. Wie er findet er an nichts Gefallen und ist von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie er oft meint, viel besser bei seinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben. Grillparzer zollt selbst dem Dogenpalast nur eine sehr bedingte Hochachtung. Trotz aller Zierlichkeit der Kunst in seinen Arkaden und Zinnen habe, so schreibt er, der Dogenpalast einen unförmigen Körper und erinnere ihn an ein Krokodil. Wie er auf diesen Vergleich kommt, weiß er nicht. Geheimnisvoll, unerschütterlich und hart müsse sein, was hier beschlossen wird, meint er und nennt den Palast ein steinernes Rätsel. Die Natur dieses Rätsels ist anscheinend das Grauen, denn solang er in Venedig ist, kommt Grillparzer von dem Gefühl der Unheimlichkeit nicht mehr los. Fortwährend denkt er, der Rechtskundige, an den Palast, in dem die Gerichtsbehörden ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben und in dessen innerster Höhle, wie er sich ausdrückt, das unsichtbare Prinzip brütet. Die Verblichenen, Verfolger und Verfolgten, die Mörder und Gemordeten steigen vor ihm auf verhüllten Häuptern. Fieberschauer überfallen den armen, hypersensiblen Beamten.

Wahrscheinlich ist es gerade der Umstand, daß er in Grillparzers Buch nur geblättert hatte, der Selysses diese elegante Zusammenfassung ermöglicht hat. Es ist nicht ganz zutreffend, daß Grillparzer mit nichts zufrieden ist: Triest gewährt, sowohl vom Berge herab, an dem es liegt, als von der Seeseite betrachtet, einen außerordentlich schönen Anblick. Gegen Abend ließen wir uns auf einer Barke im Golf spazieren fahren, und ich ließ mit Wonne die Wellen um meine hineingestreckte Hand spielen. Gerade so machen es Stendhal, Kafka und Selysses auf dem Gardasee und finden so ihre besten Augenblicke. Allerdings: Der Kaffee unbeschreiblich elend. Später dann: Die Schönheit der Gegend von Ferrara ist unbeschreiblich. Man fühlt sich sehr glücklich da. Aber wieder: Das Mittagsmahl zeichnete sich durch Ungenießbarkeit vor allen bisher genommenen aus, was in der That viel sagen will.

Die Erleichterung tritt jedesmal ein, wenn man irgendwo ankommt: Endlich Laibach. Freilich: Die Stadt sieht traurig und öde aus, und daher ist die Erleichterung nicht geringer, wenn es weitergeht: Endlich die Stunde der Abreise. Endlich eingepackt, die Gondel bestiegen und verlassen die Meeresbraut mit all ihrem Schmucke. Endlich zeigte sich von ferne ein Gewässer. Endlich kündigte eine dunkel vor uns liegende Häusermasse eine Stadt an: es war Padua. Aber wir mußten vorüber. Endlich brach der Tag an. Genugtuung herrscht eigentlich nur dann, wenn es voran geht, und wenn ein Anhalten zuverlässig ausgeschlossen ist, läßt sich sogar Bedauern äußern: Wie traurig, daß wir alle diese Gegenden durchfliegen mußten, die allein eine Reise verdient hätten. Dabei ist das Reisen selbst in der Regel noch das Allerentsetzlichste: Wie unerträglich die Nacht in unserer Bootskajüte war, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Höchstens fünf Fuß Höhe und Breite, dabei ein Teergestank zum Ersticken, und zwei Betten, oder vielmehr Hundepolster, auf denen wir zwei Nächte zubringen sollten. Da geht es bei Kafka vergleichsweise harmlos zu, wenn lediglich von der Überquerung der Adria bei leicht stürmischen Wetter die Rede ist.

Venedig macht in der Tat zunächst keinen günstigen Eindruck auf Grillparzer: Diese morastigen Lagunen, diese stinkenden Kanäle, der Schmutz und das Geschrei – und es mag sein, daß sich Selysses davon in seiner Wahrnehmung hat beeinflussen lassen: Einmal kam ein mit Bergen von Müll beladener Kahn vorbei, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang lief und sich kopfüber ins Wasser stürzte. Ich weiß nicht, ob es dieser Anblick gewesen ist, der mich den Entschluß fassen ließ, nicht in Venedig zu bleiben, sondern unverzüglich nach Padua weiter zu fahren.


Grillparzers Ansichten über den Dogenpalast gibt Selysses korrekt, wenn auch verfeinert und abgerundet wieder. Grillparzer fügt dann noch hinzu: Wer am Markusplatz sein Herz nicht schlagen hört, hat keins. Kafka fühlt sich zu einer ähnlichen Äußerung bemüßigt: Wie es schön ist und wie man es bei uns unterschätzt, schreibt er dann, wir wissen aber nicht, was er in Wirklichkeit alles gesehen hat. Bei ihm, Kafka, gibt es nicht einmal einen Hinweis darauf, daß er den Dogenpalast gesehen hat, dessen Bleikammern in der Entwicklung seiner Prozeß- und Strafphantasien einige Monate später einen so wichtigen Platz einnehmen sollten.

Neben den Widrigkeiten des Reisens ist es der Palast, in dem die Gerichtsbehörden ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben und in dessen innerster Höhle, wie Grillparzer sich ausdrückt, das unsichtbare Prinzip brütet, die Verblichenen, Verfolger und Verfolgten, die Mörder und Gemordeten, der die drei, Selysses, Grillparzer und Kafka, zusammenhält, auch wenn Kafka, in dem sich, so kann man vermuten, der Proceß schon regte, seinem Anblick sich gar nicht aussetzen mochte. Selysses, verkleidet als Austerlitz, erlebt den gleichen Alptraum später und an anderer Stelle ein weiteres Mal, nämlich bei der Betrachtung Justizpalast in Brüssel, der größten Anhäufung von Steinquadern in ganz Europa. In diesem mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude gibt es Korridoren und Treppen, die nirgendwo hinführen, und türlose Räume und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, und deren ummauerte Leere das Geheimnis aller sanktionierten Macht ist.

Der arme, hypersensible Beamte und Rechtskundige: diese Kennzeichnung trifft auf Kafka nicht minder zu als auf Grillparzer, und tatsächlich hat Selysses die Passagen aus dem Tagebuch einer Reise nach Italien so arrangiert, daß Grillparzer als eine Art Protokafka dasteht. Kein Wunder, wenn Kafka ihm Sympathie entgegenbringt. Grillparzer tanzt mit im Taumel der Schwindelgefühle. Aber natürlich kommen die Hypersensiblen im Leben letztlich doch nicht gut miteinander aus, und leicht werfen sich gegenseitig ungute Faxen vor. Das Zusammenleben von Buch zu Buch ist oft einfacher als das von Mensch zu Mensch.

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