Donnerstag, 3. September 2009

Sebaldos: Korsika

Περεκράτης
Heute haben wir uns getroffen, um von einer Insel zu handeln, mit der Σεβαλδος Großes im Sinn hatte. Dazu ist es dann nicht gekommen.

Χριστιανος
Korsika soll die schönste Insel des Mittelmeers sein, weil sie offenbar mit ihren hohen Bergen zusätzlich zur Schönheit einer Insel auch die Schönheit der Alpen hat. Κάλλιστη haben wir Έλληνες sie seinerzeit genannt, die Schönste. Mir war das entfallen, ich wundere mich aber im Nachhinein nun nicht mehr, daß man nirgendwo sonst im Werk des Σεβαλδος so unmittelbar in den Sog hineingezogen wird, den Reisen des Autors persönlich nachzuspüren und sich selbst auf den Weg zu den Orten zu machen, die er beschreibt.



Περεκράτης
Korsai
, die mit Wäldern Bedeckte, hatten oι Φοίνικες die Insel genannt, und Σεβαλδος zeigt uns schmerzlich, wie wenig sie diesen Namen, bei all ihrer sonstigen Schönheit, heute noch verdient.

Χριστιανος
Zu dem großen Korsikabuch, das Σεβαλδος geplant hatte, ist es dann in der Tat nicht gekommen. Im Buch Campo Santo wurden nach dem Tod Σεβαλδος vier kurze Prosastücke veröffentlicht, welche sich mit Κάλλιστη beschäftigen, außerdem die Moments musicaux, die ebenfalls ihren gedanklichen Rahmen von der Insel nehmen. Die Prosastücke bilden die ersten fünfzig Seiten des Buches und geben ihm (mit der Beschreibung des Friedhofes von Piana) auch den Titel. Im Katalog zur Marbacher Ausstellung sind weitere Stücke aus den Korsika-Aufzeichnungen veröffentlicht, die bei Reisen etwa um das Jahr 1995 entstanden sind, aber nicht zu einem vollständigen Buch führten. An die Stelle des Korsikabuches trat dann Austerlitz, unter Verwendung von Korsikamaterial.

Περεκράτης
Ich habe mir vorgestellt, das Κάλλιστηbuch könnte ähnlich werden wie das von vom Saturn, und hatte mich in der Phantasie vom Σεβαλδος, auf den Spuren des Ναπολέων Βοναπάρτης schon nach Rußland tragen lassen, um dort in seiner Begleitung Tolstoi, Gogol, Tschechow und Dostojewski zu treffen. Wenn ich so denke, muß ich eigentlich bedauern, daß er sich dem Austerlitz zu gewandt hat – nur, wie soll man das bedauern!

Χριστιανος
Reisebeschreibungen wie die Korsikanotizen verleiten dilettierende Schreiber wie mich gerne dazu, den unerfüllbaren Traum von einem eigenen, schönen Buch nun doch noch einmal neu zu träumen und sich vorzustellen, man brauche nur eine Reise wie diejenige des Σεβαλδος zu unternehmen, dort ein gängiges, mit dem Ort verbundenes geschichtliches Thema (hier ist es Napoleon) zu finden, um dann seinerseits ein gelungenes Buch darüber schreiben zu können.

Περεκράτης
Nach der ersten Lektüre der Schwindel.Gefühle hatte ich das verwandte und irgendwie gegenläufige Gefühl: als seien Reisen fortan moralisch nur noch zu rechtfertigen, wenn sie zu einem ähnlichen Werk führten. – Aber dann käme man streng genommen nicht umhin, der Forderung des großen Μπλεζ Πασκάλ gerecht zu werden, und sein Zimmer nicht mehr zu verlassen.

Χριστιανος
Ja, solche Träume werden jäh wieder zerstört, wenn man in dem Buch an Stellen kommt wie die, in welcher der Einbruch der Nacht über dem Meer bei Porto geschildert wird. Das Verlöschen des Tages, das Zwielicht vor dem Einbruch der Nacht, ein Schiff, welches langsam in die Bucht einfährt - man kann es kaum schöner erzählen als Σεβαλδος es hier tut.

Περεκράτης
Das sind diese Stellen, bei denen man denken möchte, der Σεβαλδος schreibe sie, um solche wie uns zu demütigen, um uns zuzurufen, Schuster bleib bei deinen Leisten!

Χριστιανος
Ich sehe hier erneut, daß Σεβαλδος eine große, glückliche Fähigkeit besaß, die Schönheit der Welt zu erfassen. Man darf sich durch seine überall durchscheinende Melancholie nicht dazu verleiten lassen, in ihm durchgängig einen der Untröstlichen zu sehen, die er oft und gerne beschreibt. Allerdings korrespondiert sein Blick für das Schöne ganz unmittelbar mit dem Blick für das Unglück, das er etwa in dem Paolini-Portrait aufscheinen sieht, einem Bild aus der Sammlung des Napoleon-Onkels Joseph Fesch.Man kann die Welt, ob im Glück oder im Unglück, offenbar nur dann richtig beschreiben, wenn man einige technische Voraussetzungen dafür schafft. Eine davon hat Σεβαλδος mit Ernst Jünger gemeinsam: er kann die Pflanzen beim Namen nennen. ... wo Eukalyptus und Oleander, Fächerpalmen und Lorbeer und Myrten eine Oase bilden inmitten der Stadt. Eigentlich ist es selbstverständlich, daß diese Notwendigkeit besteht, in Schilderungen präzise zu sein, aber es wird oft übersehen.

Περεκράτης
Ich fühle mich erinnert an eine Stelle bei Czesław Miłosz, dem großen Dichter aus dem Osten. Er spricht von der schwer zu verstehenden Antwort Gottes auf die Klagen des Hiob: Gott beschwört die Schönheit der Welt und nennt die schönen Dinge beim Namen. So gesehen wäre es weit mehr als eine Technik, wir wären im inneren Herzen der Dichtung und die Dichtung wäre eine Imitatio Dei.

Χριστιανος
Auch eine zweite Technik, wenn ich sie jetzt noch so nennen darf, erinnert an Ernst Jünger: Σεβαλδος besucht in Korsika, wie Jünger es häufig an anderen Orten ebenso getan hat, einen Friedhof, weil er hier tiefe Eindrücke von der Kultur des Landes bekommt. In der Behandlung ihrer Toten verraten die Lebenden etwas von dem, was ihnen in ihrem Leben wichtig ist. Σεβαλδος bemerkt auf dem Friedhof von Piana die starken sozialen Differenzen, die nicht etwa angesichts des Todes aufgehoben, sondern in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Gräber sogar noch verstärkt werden.
Er findet durch das Lesen alter Reiseberichte (auch hierin Jünger erneut verwandt) zusätzliche Details heraus, wie etwa die alte Sitte der Korsen, ihre Toten auf dem eigenen Grund und Boden zu begraben, um gewissermaßen das Eigentum an diesem zu befestigen. Die Sitte ist der Grund dafür, warum die Gräber in Piana aller noch relativ neueren Datums sind. Man hat noch bis vor wenigen Jahrzehnten offenbar keine zentralen Friedhöfe gekannt.
Ich lese solche Berichte über Friedhöfe mit gemischten Gefühlen. In meiner Familie galt das Jesuswort laßt die Toten ihre Toten begraben, man hatte eine sichere Vorstellung von der Seele, die in den Himmel eingeht, und betrachtete die Überreste des auf der Erde verbleibenden Körpers wie einen alten Mantel, den man irgendwann beiseite gelegt hat, um ihn zur Altkleidersammlung zu geben. Entsprechend wurden Grabstätten nicht besucht und nur in dem Maße gepflegt, daß die Nächsten keinen Anstoß nahmen. Aus dem Grabstein etwa meines Vaters etwas darüber zu lesen, in welchem Verhältnis wir als Familie zu ihm gestanden haben, scheint mir von daher fast unmöglich zu sein.

Περεκράτης
Wie es bei Jünger ist, weiß ich nicht, beim Σεβαλδος geht aber auch das sicher tiefer als eine bloße Technik, das steht bei ihm ja in engster Verbindung mit dem großen Komplex der Erinnerung, auch des Holocaust. Das auf seine Art lebendige Totenvolk hat er dann im Austerlitz auch von Κάλλιστη nach Cymru verpflanzt. Laßt die Toten ihre Toten begraben, das galt in einer Welt, als man sich auf die einerseits Toten noch verlassen konnte und sie andererseits auch gelassen hat. Σεβαλδος glaubt aber, es mit einer Welt zu tun zu haben, die nur noch die reine und eigentlich unsichtbare Gegenwart und die - letztlich aber ganz unbekannte - Zukunft kennen und die Vergangenheit, die uns sozusagen erst unseren lebendigen Leib und unsere Seele gibt, loswerden und abschaffen will.

Χριστιανος
Auch wenn man als Steckenpferdautor am Σεβαλδος eigentlich nur verzweifeln kann, vermittelt er doch eine solche Freude, daß man sich spornstreichs ein Flugticket zu kaufen und umgehend die Reise nach Κάλλιστη antreten möchte. Und das habe ich, auch wenn es ein wenig noch warten muß, fest vor.

Περεκράτης
Zu dem Entschluß kann ich Dich nur beglückwünschen, Χριστιανος, und wer weiß, der Genius loci ... Χαίρε, und vielleicht treffen wir uns vor Deiner Reise ja noch einmal.

Χριστιανος
Da bin ich mir ganz sicher, so schnell wird es nicht gehen. Χαίρε!




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