Samstag, 26. September 2009

Schwindelgefühle

Το βλέμμα του Σελυσσέα

Nei lueget mer dert di Barke, es dunkt ein, si chömm gar nid i ds Wasser, 's isch grad, wie wenn si im Dusem drüber würdi schümme.


Für einen Autor, der anscheinend ständig in der ersten Person von sich selbst spricht, gibt Sebald in seinem Prosawerk auffällig wenig von sich preis, fast gar nichts. Die Erzähltechnik ähnelt der einer subjektiven Kamera im Film. Chandlers Lady in the Lake ist in dieser Weise verfilmt worden mit Robert Montgomery als Philip Marlowe, wir bekommen ihn aber so gut wie nie zu sehen. Die Kamera scheint ständig zu seinen Augen hinauszuhalten, nur ab und zu huscht Montgomery als Widerschein in einem Spiegel oder einer Schaufensterscheibe sichtbar vorüber. Das ist natürlich für einen Schauspieler unbefriedigend, und auch der Zuschauer, der auf Montgomery vielleicht noch verzichten mag, wäre in den Chandlerverfilmungen mit Bogart oder Mitchum als Marlowe von dieser Art der optischen Reduktion des Helden wohl wenig erbaut gewesen. In Robert Altmanns Verfilmung des Long Goodbye käme in der schönen Schlußszene inmitten der mexikanischen Baumallee von Elliot Gould vielleicht grad einmal die Mundharmonika ins Bild, zu wenig im optischen Medium. Da die Worte Sichtbarkeit im direkten Sinne ohnehin nicht erzeugen – bei jeder Literaturverfilmung wird deutlich, wie viel wir hingeben müssen für das optische Mehr, das wir erhalten, die Sichtbarmachung ist immer ein brutaler Eingriff in den Zauber der Prosa* – da Sichtbarkeit der Prosa also fehlt, fällt die Unsichtbarkeit des Icherzählers, die, wiederum anders als im Film, auch nicht streng durchgehalten werden muß, zunächst gar nicht auf und wird auch auf die Dauer nicht im geringsten quälend. Der subjektive Film gilt zu recht als gescheitert, die analoge Worttechnik aber hat unüberbietbare Vorteile für Schriftsteller vom Typ Sebalds, denen es nicht darum geht, der Allgemeinheit die Schlünde ihres Inneren zu eröffnen.


Die Schwindel.Gefühle sind das Prosawerk, in dem Sebald noch am offensten von sich spricht, die Wortkamera ist aber auch hier kaum je auf ihn gerichtet, so wie Sebald ja auch auf den Photos, mit denen er seine Texte aufklöppelt, nur in Ausnahmefällen selbst erscheint. Das Bild, das, nach Art des Robert Montgomery im Film, eine schwache Spiegelung des photographierenden Sebalds im Fenster des ANTIKOS BAZAR in Theresienstadt zeigt, wirkt wie eine bewußte Enthüllung der Aufenthaltsweise des Autors in seinen Büchern.

Wer ohne besondere Vorbereitung die Schwindel.Gefühle ein erstes Mal liest, mag mit einer dem Titel gemäßen Empfindung dastehen: was liest er da eigentlich? Vier grundlos unter einen übergreifenden Titel gebrachte Stücke? Natürlich bleibt nicht lange verborgen, daß All’estero und Ritorno in patria in einem Antworts- und Fortsetzungsverhältnis zueinander stehen, hinweg und zurück. Was aber sollen einleitend und unterbrechend Stendhal und Kafka bestellen? Andererseits trifft Stendhal bereits den Jäger Gracchus und seine Barke, die Kafka später dann erst erfunden hat, und befindet sich im Herbst des Jahres 1813 in einer anhaltend elegischen Stimmung, wie sie auch dem Buch insgesamt nicht fremd ist und bis exakt 2003 dauert. Später dann, in Wertach, tauchen wieder diverse Jäger auf mit nicht ganz klarer Beziehung zum Jäger Gracchus. Bald schon mag es scheinen, als sei das gesamte Werk von seltsamen Spinnetzen überwuchert und gehalten.

Stendhal und Kafka werden mit dem inneren und belesenen Auge als zwei Gesichte des Selysses aus der Vergangenheit hervorgeholt, und gleichzeitig versucht Selysses sich selbst ins Auge zu fassen – oder auch nicht. Die Schwindel.Gefühle haben damit die gleiche Struktur wie das zuvor veröffentlichte Prosagedicht Nach der Natur. Der Maler Grünewald und der Naturforscher Steller waren hier die Gesichte des Selysses. Der Blick des Selysses geht also mindestens ebenso oft nach Innen wie nach Außen, als ein Blick auf etwas schon Gesehenes, als ein zweiter oder weiterer Blick, als das also, was in der Systemtheorie eine Beobachtung zweiter oder höherer Ordnung ist. Das ist nichts Ungewöhnliches, ein literarisches Werk nur aus ersten Blicken ist nicht gut denkbar und jeder zweite Blick hat einen ersten zur Voraussetzung. Der Blick des Selysses ist aber weit überdurchschnittlich oft nach Innen gerichtet, auf Dinge, die er oder andere zuvor bereits gesehen haben.

StendhalLeicht hätte Sebald die Zusammenhänge der vier Erzählansätze des Buches deutlicher machen können, wenn er etwa begonnen hätte: Als ich im Jahre 1980 nach Norditalien reiste, trug ich mich mit Gedanken an den naturgemäß ganz dem Stendhalismus und damit der Liebe, l'amour, und auch der Liebe zum Licht Italiens hingegebenen Henri Beyle, der zu den Teilnehmern der Alpenüberquerung Napoleons zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gehörte. Beyle hat sozusagen auch mir über die Alpen geholfen, allerdings waren zwei Anläufe erforderlich, und der Erfolg war insgesamt nicht durchschlagend.

Beyle gerät umgehend in Verwirrung beim rückwärtsgewandten inneren Blick, der indirekt auch zu dem des Selysses wird, als er versucht, die Alpenüberquerung zu Papier zu bringen: Die Notizen demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung. So habe er sich eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt Ivrea nichts anderes vorstellte als die Kopie einer Gravure, auf die er dann bei der Durchsicht alter Papiere gestoßen war.

Was nun die Liebe anbelangt, Stendhals Thema vor allen anderen, so scheint sie wie auf sonst nichts auf den Augenschein angewiesen: Beyle war unfähig, auch nur ein paar Tage zu ertragen, ohne Métilde zu SEHEN. Die verwegene Veranstaltung, die er inszeniert, um ihrer optisch habhaft zu werden, führt dann aber seitens der sich als kompromittiert ansehenden zu einem sehr trockenen Billet, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzte.

Stendhal beschließt, seine exemplarisch dem ersten Blick verpflichtete militärische Karriere zu beenden, um ein überragender Meister des zweiten Blicks und der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Durch Überblendung seiner realen Geliebten wie Adèle Rebuffel oder Angéline Bereyter erschafft er sich das schöne Trugbild der Mme Gherardi, mit der er unter anderem die Frage erwägt, ob vielleicht die Liebe insgesamt auch nichts anders ist als eine Schimäre, ein Trugbild. Auf einer erdachten Reise mit der erdachten schönen Mme Gherardi hat er das der Zeit um hundert Jahre vorgreifende Gesicht des Jägers Gracchus, der ein originäres Gesicht Kafkas ist: Beyle machte Mme Gherardi auf einen schweren alten Kahn aufmerksam, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der anscheinend auch vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken gerade eine Bahre an Land trugen, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Mme Gherardi fühlte sich von dieser Szene derart ungut berührt, daß sie darauf bestand, ohne jeden weiteren Verzug von Riva abzureisen.

Kafka
Die Kafkaerzählung hätte beginnen können: Als ich im Sommer 1987 ein zweites Mal nach Norditalien reiste, trug ich mich mit Gedanken an Franz Kafka, der im Herbst des Jahres 1913 im Hotel Sandwirth in Venedig logierte. Kafka, der sein Leid bei allen Licht- und Wetterverhältnissen unverändert mit sich der trug, verhalf mir auch wieder zurück, auf österreichischem Boden unterstützt dabei von Thomas Bernard, der bis zur deutschen Grenze den Schritt und den Tonfall von Il ritorno in patria vorgibt.

Stendhal betritt Kafkas Badereise nach Riva als Fachmann für militärische Fragen in den Darlegungen des Generals von Koch, Kafka seinerseits schließt sich dem Feldzug über die Alpen an, indem er sich einen imaginären schwarzen napoleonischen Feldherrenhut über das Bewußtsein stülpt. Das gehört zur äußeren Verklammerung der beiden Erzählungen.

Kafka leidet an Bedrücktheit und Sehstörungen. Das touristische Besichtigungsprogramm hält er sehr kurz, daß er das von Pisanello gemalte schöne Wandbild des heiligen Georg über dem Eingang der Kapelle angesehen hätte, dafür gibt es nirgends einen Anhaltspunkt. Er ist fasziniert von der neuzeitlichen Bildmaschine, dem Kinematographen und dem Doppelgänger- und Spiegelbilddrama La lezione dell’abisso: Mußte das Dr. K. nicht erscheinen als die Beschreibung eines Kampfes, wie in jenem anderen auf dem Laurenziberg, in welchem die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält, derart, daß der von seinem Begleiter in die Enge Getriebene zuletzt das Bekenntnis ablegen muß: Ich bin verlobt, ich gestehe es. Parallel zu Stendhals De l’amour entwickelt eine eigene fragmentarische Theorie der körperlosen Liebe, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Annäherung und Entfernung. Darum hielten fast alle Liebenden, und es gäbe ja fast nur solche, in der Liebe die Augen geschlossen, oder sie hätten sie, was dasselbe ist, weit aufgerissen vor Gier – eine Theorie, die , obwohl von Augen und Blick dominiert, reichlich undurchsichtig bleibt. - Wenn nicht alles täuscht, so ist die Erzählung vom Leidensmann Franz K. in ein besonders freundliches Sebaldlicht getaucht, so als könne er nachträglich geheilt werden unter dem milden Blick des Selysses und Erlösung finden im Lächeln der Sätze.

Stendhal und Kafka sind keine Dichter, die man als besonders eng verwandt ansehen möchte. In den Schwindel.Gefühlen treten sie auf als zwei Italienreisende, ein essentieller und ein zufälliger, der dann auch als der seltsamste Gast in Riva seit langem beurteilt wird. Es sind aber auch, und das ist die wesentlichere Gemeinsamkeit, zwei über die Maßen von der Liebessehnsucht Geplagte. Die nicht zu bereinigende Unübersichtlichkeit seiner Liebestheorie und Liebesrealität gebiert in ihrer Hilf- und Aussichtslosigkeit Jahre nach Kafkas Aufenthalt in Riva den Jäger Gracchus, dem, obwohl erst von Kafka ersonnen, auch Stendhal schon begegnet war am gleichen Ort, und dessen unablässige Fahrten nach der Vermutung des Selysses ihren Sinn haben in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen - ein Gesicht Kafkas also, das schemenhaft auch bereits ein Gesicht Stendhals war, auch nicht verständlicher als die Theorie der Liebe, auf Verstehen aber nicht mehr angewiesen, sondern aufgehoben zur endlosen Betrachtung im dichterischen Bild.

Selysses all’estero, primo tentativo
Selysses reist im Jahre 1980 wie Kafka über Wien nach Venedig. In Wien erwies sich gleich nach meiner Ankunft, daß mir die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeiten nun nicht mehr ausgefüllten Tage ungemein lang wurden, und daß ich tatsächlich nicht mehr wußte wohin mich wenden. Der übliche Tagesablauf des Dichters ist aufgeteilt in die primär dem zweiten Blick verpflichtete Tätigkeit des Schreibens und Lesens und der dem ersten Blick verpflichteten Gartenarbeit. Die Schwindelgefühle sind nicht zuletzt auf eine Durcheinandergeraten der Blickformen zurückzuführen.

Die Fahrt nach Venedig verbringt Selysses mit einem Traumgesicht. Ein reichlich kurzer erster Blick auf die Stadt: Als ich auf den Vorplatz der Ferrovia Santa Lucia hinaustrat, hing die Feuchtigkeit des Herbstmorgens noch dicht hinter den Häusern und über dem Großen Kanal. Schwer beladen, bis zur Bordkante im Wasser, zogen die Kähne vorbei – gleitet schon bald ab in Tragtraumgesichte: il re Lodovico, Dante und zweite Blicke auf Grillparzer oder Casanova. Es schien mir damals, als könne man sich tatsächlich ohne weiteres durch Nachdenken und Sinnieren allein ums Leben bringen. Der Blick auf das Stehbuffet in der Ferrovia geht ohne Verzug über in eine Himmel und Hölle, Männer und Weiber nach Art des Hieronymus Bosch umfassende Vision, allerdings humoristisch zersetzt: Aus Leibeskräften mußte man zunächst sein Begehren zu einer der thronenden Frauen hinaufschreien, die nur mit einer Art Schürze bekleidet, mit lockigem Haar und halbgesenkten Blick in völliger Ungerührtheit über den Häuptern der Bittsteller schwebten. Einmal im Besitz des inzwischen einem schon lebenswichtig erscheinenden Billets mußte man sich aus der Menge hervor- und in die Mitte der Cafeteria hinüberkämpfen, wo die männlichen Angestellten hinter einem kreisförmigen Buffet mit Todesverachtung geradezu dem andrängenden Volk gegenüberstanden. Mit solcher Heftigkeit wurden die Gläser und Untertassen auf der marmornen Oberfläche des Buffets abgesetzt, daß man meinte, es sei darauf angelegt, alles bis zum Rand des Zerspringens zu bringen. Mein Cappuccino wurde serviert, und einen Augenblick war mir zumut, als hätte ich mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen. Immer wieder findet Selysses zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Wie ein Wolkenschatten über ein Feld, so legte sich über mich die Befürchtung, daß mir die beiden jungen Männer, die zu mit hinüberschauten, seit meiner Ankunft in Venedig mehrfach schon über den Weg gelaufen waren. Selysses erholt sich bei der Betrachtung eines San Giorgio-Bildes Pisanellos und ist erstaunt, wie der Maler es verstanden hat, den jäh heraus, seitwärts auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügige Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges.

Diese erste Italienreise wird abgeschlossen mit einem sebaldtypischen verwegen schönen Satz, der hier dem zweiten Blick, dem nach innen gekehrten Nachtblick den Vorrang gibt gegenüber dem hellen Tagblick: Weit länger währt die Nacht der Zeit als deren Tagesspanne, und es weiß keiner, wann das Äquinoktium gewesen ist.

Selysses all’estero, secondo tentativo
Bei der zweiten Italienreise, sieben Jahre später, ist Selysses bei weiten wacher, ausgeglichner und aufgeräumter, die ersten Blicke sind häufiger und anhaltender, bei einem Dichter kann die Veränderung naturgemäß nur relativ sein.

Die Begegnung des Selysses mit der Wirtin Luciana in Limone, eine Liebesepisode, ist motivisch mit den Liebesgeschichten Stendhals und Kafkas verflochten. Es ist mir gewesen, berichtet Selysses, als spürte ich ihre Hand auf der Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin, aber immer hatte dieses unvermutete Angerührtwerden etwas Gewichtsloses, Geisterhaftes, mir durch und durch Gehendes gehabt. Selysses ist offenbar weit entfernt, ein Vollzugsfanatiker zu sein wie Stendhal, der die Daten seiner Vollstreckungen auf dem Hosenträger vermerkt. Im Fall seines Scheiterns bei Métilde Dembowski Visconti ist es aber der bloße Gipsabdruck ihrer Hand, der Stendhal nun fast ebenso viel bedeutete, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers verursachte ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bislang noch nicht erfahren hatte.

Tast- und Augensinn stehen in Konkurrenz in den Liebesdingen. Lucianas Berührung läßt Selysses sich erinnern, vor Jahren einmal in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes in Manchester gesessen zu sein. Neben mir stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu mir neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte ich die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an meine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen. Wie damals in Manchester, so sah ich auch jetzt an diesem Nachmittag in Limone plötzlich alles verschwommen wie durch ein Paar nicht für meine Augen passende Gläser. Verschwommen wie Kafkas Liebestheorie von den geschlossenen Augen.

Auf der Fahrt nach Mailand teilt Selysses das Abteil mit einer Franziskanerin und einem jungen Mädchen. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen in der bunten Jacke, dann nochmals das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, ohne daß es mir gelungen wäre, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Vielleicht ist er auch unsichtbar, denn der Verlust des Passes in Lucianas Hotel - oder war es vielmehr doch die Liebesgeschichte mit ihr? - hat offenbar zu einem Persönlichkeits-, Identitäts- und Orientierungsverlust geführt.

Zur Wiedergewinnung seiner Identität durch Spiegelung betritt Selysses einen leise rumorenden Photoautomaten. Der Stadtplan Mailands, der ihm die Orientierung erleichtern soll, trägt auf der Vorderseite das Abbild eines Labyrinths, auf der Rückseite aber die für jeden, der weiß, daß er viel auf Irrwegen geht, vielversprechende, geradezu verheißungsvolle Versicherung: Una guida sicura. Selysses wird Opfer eines handgreiflichen Angriffs zweier junger Männer, naturgemäß mit zwei Augenpaaren. Er steigt auf die oberste Galerie des Doms hinauf und nimmt von dort aus unter immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen das vom Dunst über der nun vollends fremd gewordenen Stadt verdüsterte Panorama in Augenschein. Laufet eilends vor dem Wind, ging es mir durch den Kopf, und zugleich kam mir der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten kreuz und quer über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen.

Mit neuem Paß verzichtet Selysses sogleich auf die wiedergefundener Identität, trägt sich in der Goldenen Taube in Verona als Jakob Philipp Fallmerayer ein und wird als Undercoverdetektiv tätig. Die ganze Zeit schon war er auf Spuren Kafkas gestoßen, der im September 1913, wie er selbst berichtet hat, auf dem Weg von Venedig zum Gardasee in Verona einen untröstlichen Nachmittag verbracht hat. Auf dem Bahnhofspissoir in Desenzano hatte er eine deutliche Spur hinterlassen, Il cacciatore stand da in einer ungelenken Schrift. Ich fügte noch die Worte nella silva nera hinzu. Im Bus nach Riva erscheint Kafka dann in einer beängstigenden Weise: Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren stieg ein, der auf die unheimlichste Weise den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm, soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied. Die Versuche des Undercoveragenten Selysses, den Blick der Kamera auf dieses Schauspiel zu richten, scheitern kläglich und führen nur zu dem Verdacht, daß es sich bei ihm um nichts anderes als um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden englischen Päderasten handeln konnte. Die Festspielaufführung der Aida in Verona leitet über zu dem Roman Verdi, den Franz Werfel seinem in Wien in der Klinik liegenden, zu diesem Zeitpunkt nurmehr 45 Kilo wiegenden Freund Franz Kafka zusammen mit einem Rosenstrauß überreichte. Selysses selbst hält ein antiquarisches Exemplar des Buches mit dem Exlibris eines Dr. Samson in Händen – nur noch ein Schritt bis zur Verwandlung in Kafkas Riesenkäfer Samsa.

Die Erzählung vom Leidensmann Franz K. sei in ein besonders freundliches Sebaldlicht getaucht, so hatte es geheißen, als könne er nachträglich geheilt werden unter dem milden Blick des Selysses und Erlösung finden im Lächeln der Sätze. Hat Selysses seinerseits Unterschlupf bei Kafka gesucht?

Selysses in patria
Der erste Blick, der unabdingbar Grundlage aller zweiten und weiteren Blicke bleibt, feiert Triumphe, etwa, wenn er sich auf die Landschaft richtet, zunächst aus dem Bus: Die Sonne trat hervor, die ganze Landschaft erglänzte. Die frisch gefirnißte Gegend – wir fuhren jetzt aus dem Inntal heraus in Richtung Fernpaß -, die dampfenden Wälder, das blaue Himmelsgewölbe, es war für mich, der ich aus dem Süden heraufkam und die Tiroler Dunkelheit ein paar Stunden lang bloß hatte aushalten müssen, wie eine Offenbarung. Und dann wandernd auf der inzwischen Sebaldweg genannten Strecke: Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. An einem der wenigen halbwegs offenen Plätze, wo man von einer Art Kanzel sowohl auf einen Wasserfall und Gumpen hinab- als auch hoch in den Himmel hinaufschauen konnte, ohne daß man hätte sagen können, welche Blickrichtung die unheimlichere war, sah ich durch die, wie es schien, endlos hinaufragenden Bäume, daß in der bleigrauen Höhe ein Schneegestöber ausgebrochen war, von dem jedoch nichts in den Tobel hineindrang. – Eine große Genugtuung, daß Selysses dann doch immer wieder ausrückt und schauend für uns reist, anstatt, seiner eigentlichen Neigung folgend, nur immer zuhaus bei seinen Landkarten und Fahrplänen zu bleiben.

Mit jedem Schritt, der Selysses seinem Geburtsort näher bringt, verringert sich seine Präsenz im Buch bis zu der Randfigur, die er in den Ausgewanderten und in Austerlitz sein wird, nicht viel mehr als ein Rezeptorium für die Geschichten anderer. Zugleich aber betritt er das Buch erneut durch eine andere Tür als Selysses das Kind. Der aber ist ein anderer, wir nennen ihn der Einfachheit halber Selemach. Selemach ist, nach Stendhal, Kafka und Selysses, die vierte Person, die dem Jäger Gracchus begegnet und die Sehnsuchtsqual der Liebe erleidet. Stendhal hatte den Jäger Gracchus erahnt, Kafka hatte ihn erfunden, Selysses war auf seine Spur im Bahnhofspissoir von Desenzano gestoßen, Selemach begegnet dem Gracchus in der Gestalt des Jägers Hans Schlag: Ich für meinen Teil habe die Sache den ganzen Tag hindurch nicht aus dem Kopf gebracht. Ich brauchte nur ein wenig die Lider zu senken, und gleich sah ich den Jäger mit gebrochenem Auge auf dem Grund des Tobels liegen. Aus der Autopsie ergaben sich keine weiteren Aufschlüsse, es sei denn, man bezeichnete es als bemerkenswert, daß auf dem linken Oberarm des Toten, wie aus dem Obduktionsbericht hervorgeht, eine kleine Barke eintätowiert war.

Fast hätte der Jäger Schlag-Gracchus den Selemach mit in den Tod gerissen: Wenige Tage nach der Begegnung mit dem toten Jäger Schlag, also schon bald in der Vorweihnachtszeit, wurde ich von einer schweren Krankheit befallen. In einem Fiebertraum scheint er bereits das schwindelerregende Augenchaos des Selysses zu erahnen: Zu meinem Entsetzen spürte ich, daß es sich bei dem, was in diesem Topf eingelegt worden war, nicht um sauber in ihrer Schale aufgehobene Eier, sondern um etwas weiches, den Fingern Entgleitendes handelte, von dem ich sogleich wußte, daß es nichts anderes als Augäpfel waren.

Die süße Qual der Liebessehnsucht erleidet Selemach zunächst, kafkaesk möchte man sagen, mit dem Schankmädchen Romana: In den Jahren, in denen wir im oberen Stock des Engelwirts gewohnt haben, erfasste mich während der Abendstunden unfehlbar der Wunsch, in die Wirtschaft hinunterzugehen und dort der Romana beim Abwischen der Tische und Bänke, beim Kehren des Bodens oder beim Trocknen der Gläser zu helfen. Freilich waren es nicht diese Beschäftigungen, die mich anzogen, sondern es war die Romana selbst. Später dann, in zivilisierter Form und verwegen zugleich, die Lehrerin: Ich füllte mit Hingabe meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen in welches ich das Fräulein Rauch für immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Obwohl Selysses in der Gestalt des Selemach den Bedingungen der subjektiven Kamera entkommen ist, nimmt er ihn alles in allem doch recht wenig ins Visier, noch weniger sein engstes Umfeld, die Eltern, die er gleichsam hinter ihrer Wohnzimmereinrichtung versteckt. Wir erleben die ländliche Einführung des Selemach in die Künste, vor allem aber verfolgen wir ihn mit dem Blick des Selysses auf seinen Gängen durch das Dorf und lernen seine Bewohner kennen: die Engelwirtin Rosina Zobel, die die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, und den alten Engelwirt mit einer großen Wunde, die nicht verheilen wollte, den einbeinigen Pächter Sallaba, die Seelos-Ambrosersippe samt dem Türken Ekrem, den Buchdrucker Specht und den Bader Kopf, die Tanten Babett und Bina mit dem Café Alpenrose und die Mathild, die aus dem Kloster und dem kommunistischen München völlig hinterfür nach W. zurückgekommen war, die Modistin Valerie Schwarz, die eine geringe Körpergröße mit einer Brust ungeheuerlichen Ausmaßes verband, den von Haus aus untröstlichen Dr. Rambousek und den Motorradarzt Dr. Piazolo samt dem Motorradpfarrer Wurmser.

Ritorno in patria inglese
Gut dreißig Jahre war Selysses nicht mehr in W. gewesen, und das Dorf lag, wie er bei seiner späten Ankunft dachte, für ihn weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Als er W. wieder verläßt, ist uns der Ort vertrauter als fast jeder andere auf dem Globus. Selysses selbst aber war fast ganz abhanden gekommen, hatte er sich doch nicht nur in Selemach verwandelt, sondern obendrein auch noch in den Großvater, Serkeisios, um im Spiel zu bleiben: Wenn er es sich jetzt recht überlege, so der Lukas, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das ich ihn erinnert habe, sondern der Großvater, der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus einer Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. Notdürftig am Leben erhalten wird Selysses, so scheint es fast, nur durch den Blickwechsel mit seinen vermeintlichen Kollegen: Da auch ich andauernd über meine Papiere gebeugt war, und gleich ihnen nur zwischenhin einen gedankenverlorenen Blick in die Ferne schweifen ließ, hielten sich mich wahrscheinlich zunächst ebenfalls für einen Handlungsreisenden, bis sie nach wiederholtem taxierenden Herübersehen wohl doch von meinem unstandesgemäßen Äußeren auf ein anderes und, wie ich annehme, zweifelhafteres Metier schlossen.

Mit der Abfahrt aus W. schwindet die Dominanz des ersten Blicks, Selysses verliert sich ganz in den Nebeln seiner Innenwelt. Es gibt auch keine Augenpaare mehr, in denen er sich spiegeln könnte, er ist gänzlich vereinsamt: Eigenartig berührte mich beim Hinausschauen auf einmal, daß nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Tatsächlich schien es mir, als habe unsere Art bereits einer anderen Platz gemacht oder als lebten wir doch in einer Form der Gefangenschaft. Der einzige Mensch, dem er auf der Fahrt begegnet ist ein Phantom, Elisabeth von Böhmen, die im daseinslosen Buch Das böhmische Meer der daseinslosen Autorin Mila Štern liest. Aller inneren Bewegung zum Trotz bleibt Selysses nur dumm und stumm stehen neben ihr und schaut weiter hinaus auf die nahezu vergangene Dämmerwelt. In London angekommen vertieft er sich sogleich in Pisanellos Bild San Giorgio con capello di paglia in der Nationalgalerie. Auf der Weiterfahrt in den englischen Osten verfällt er in Schlaf über Samuel Pepys’ Tagebucheintragungen zum Großen Londoner Brand: Um uns der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. Und anderen Tags ein stiller Aschenregen – westwärts bis über Windsorpark hinaus. – 2013 - Ende.

Als sei das gesamte Werk von seltsamen Spinnetzen überwuchert und gehalten – der erste Verdacht bestätigt sich, wo immer man hingreift in diesem Buch. Man kann einzelne der Fäden ans Licht heben, oder man kann es auch sein lassen und sich dem Märchengefühl überlassen. Alle Fäden gleichzeitig werden sich ohnehin nicht beleuchten lassen. Der Dichter ist keineswegs Herr des Geheimnisses der die Zeit verwebenden Fäden: Welchen Zusammenhang gibt es, habe ich, wie ich mich erinnere, damals gefragt und frage mich jetzt wieder, zwischen diesen beiden schönen Leserinnen und der riesigen, alles bislang in Europa Dagewesene übertrumpfenden Konstruktion diese Bahnhofsgebäudes aus dem Jahre 1932, zwischen den sogenannten steinernen Zeugen der Vergangenheit und dem, was als eine undeutliche Sehnsucht über unsere Körper sich fortpflanzt, um sie zu bevölkern, die staubigen Landstriche und die überschwemmenden Felder der Zukunft.


* Etwas ganz anderes ist natürlich die Photoausstattung der Bücher Sebalds, eine eigentümliche zweite Stimme zu seiner Prosa.

Keine Kommentare: