Mittwoch, 23. September 2009

Paul Bereyter

Το βλέμμα του Σελυσσέα

W styczniu 1984 roku doszła mnie z S. wiadomość, że Paul Bereyter ...

Die Erzählung nimmt ihren Ausgang von einem im Anzeigenblatt der Kleinstadt S. veröffentlichten Nekrolog den Tod des Kinderlehrers Paul Bereyter betreffend, und wo, in der Tat, wäre in einer Zeitung je ein Nachruf erschienen, der den Verstorbenen nicht ganz ohne sein eigenes Zutun in eine falsche Welt versetzt hätte, aus der ihn zu befreien ein Dichter sich nicht aufgerufen fühlen könnte. Ausgehen von einem Nekrolog, das heißt aber zugleich, daß ein erster, wahrnehmender Blick in der Gegenwartswelt auf den Protagonisten der Erzählung nicht mehr möglich ist.Paul Bereyters Freitod auf den Bahngleisen eine kleine Strecke außerhalb von S.. wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinen Weidenholz herausführt und das offene Feld gewinnt, erfolgte, so die Erzählung, im Jahre 1984, die nähere Befassung des Selysses mit seinem ehemaligen Volksschullehrer ist in unbestimmter Weise auf die nachfolgenden Jahre verlegt. Im Frühsommer des Jahres 1984 hält sich Selysses, wie wir später erfahren, im Zuge von Recherchen zum Schicksal seines Großonkels Ambros Adelwarth, im Osten der Vereinigten Staaten auf, im April desselben Jahres aber sitzt er im Lesesaal des British Museum, wo er, offenbar in Vorbereitung des Werkes Nach der Natur, der Geschichte der Beringschen Alaskaexpedition nachgeht. Am Nachbartisch sitzt, wie es der Zufall will, der Schulkamerad Fritz, inzwischen ein Koch von Weltrang, und von ihm erfahren wir ein präzises Blickresultat: nicht ein einziges Mal habe er, Fritz, den Paul etwas essen sehen. – Damit ist Paul Bereyter der in Sebalds Werk wichtigen Gruppe der wittgensteinesken Asketen zugewiesen.

Die ersten Versuche des Selysses, die spätere Lebensgeschichte des Paul Bereyter zu verstehen, verlaufen ganz über den inneren Blick, er versucht, sich ihm anzunähern, indem er sich ausmalt, wie er gelebt hat in der großen Wohnung im oberen Stock des alten Lerchenmüllerhauses, solche Versuche brachten ihn jedoch, wie er sich eingestehen mußte, dem Paul nicht näher oder höchstens augenblicksweise, in gewissen Ausuferungen des Gefühls. Es gilt, Erkundigungen einzuholen, authentische Blicke auf Paul Bereyter zu sammeln. – Da wir aber aus dem Bereich fiktionaler Prosa nicht heraustreten, wird unklar bleiben, in welchem Umfang die Erkundigungen ihrerseits Ausmalungen bleiben, die realen Nachforschungen erdichtet sind.

Der naheliegende Gewährsmann des Selysses ist er selbst als ein anderer, als das Kind, das er seinerzeit war. Wir erfahren in der erinnerten Blicken von dem begeisterten und begnadeten Lehrer Paul Bereyter, von seiner Freude und seinen Leiden im Umgang mit den Schülern, von den Kämpfen mit den Kollegen und den katholischen Vertretern der Heilslehre, aber wir erfahren nicht, wer Paul Bereyter war, denn der Blick der Schüler auf den Lehrer ist nicht eigentlich ein Blick auf einen Menschen und in ihm hinein: Es konnte jederzeit geschehen, mitten im Unterricht oder während einer Pause, daß er abwesend und abseits irgendwo saß oder stehenblieb, als wäre er, der immer gut gelaunt und frohsinnig zu sein schien, in Wahrheit die Untröstlichkeit selbst.

Das meiste über Paul Bereyter ergibt sich aus den Besuchen des Selysses bei Mme Landau in der Schweiz im zweiten Jahr nach dem Tod des Pauls, also 1986. Mit dem genialen einen Strich nur zeichnet Sebald die Berufenheit Mme Landaus für die Erkundung der Seelenlagen Paul Bereyters: die Diskretion ihres Kinderfreund Ernest, das jüngste Kind einer vielköpfigen Arbeiterfamilie, sei für ihr Empfinden immer vorbildlich geblieben, später habe sie in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern – des näheren, wie sie mit spöttischem Gesichtsausdruck hervorhob – kennengelernt und ihre Namen, gottlob, größtenteils vergessen, einen umsichtigeren und unterhaltsameren Kompagnon als den von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen Paul (eine ungemein intensivierende Paraphrase für Untröstlichkeit) habe man sich dagegen einfach nicht wünschen können: Mme Landau ist empfindungsstark, erfahrungssatt und urteilsstark. Paul Bereyter lernt sie auf einer Parkbank in der Promenade des Cordeliers kennen, während ihre Augen auf der Autobiographie Nabokows ruhen.

Es geht in der Folge weniger um freihändige Auskünfte Mme Landaus zum späteren Lebensverlauf des Protagonisten, sondern um Rückspiegelungen aus einem Album, über das Selysses und Mme Landau sich gemeinsam beugen, ein großformatiges Album, in dem, von einigen Leerstellen abgesehen, fast das gesamte Leben Paul Bereyters photographisch dokumentiert und von eigener Hand annotiert war. Stück für Stück trat das Leben Paul Bereyters aus seinem Hintergrund heraus. Im weiteren wird die Suche nach Paul Bereyters immer mehr zu einer Suche Paul Bereyters nach sich selbst, von der Mme Landau erzählt. Es ist ganz wesentlich eine Suche mit geschlossenen Augen. Dieses wunderbare Emporium, erzählte Mme Landau, habe der Paul ihr einmal ausführlich beschrieben, als er nach einer Operation am grauen Star mit verbundenen in einem Berner Spital lag und, wie er sagte, mit reinster Traumklarheit Dinge sah, von denen er nicht geglaubt hatte, daß sie noch da waren in ihm.

In der Folge tritt Paul Bereyters Suche nach Klarheit immer mehr in Konkurrenz zum Verlust des Augenlichts. Es ist aber keineswegs ein Wettlauf zwischen Hell und Dunkel um die verbleibende Lebenszeit, der sich einstellt, sondern ein besonderer, offenbar Leben und Tod übergreifender Frieden: Tatsächlich redete Paul in jenen Tagen mit der größten Ausgeglichenheit über den, wie er sich ausdrückte, mausgrauen Prospekt, welcher nun vor ihm sich erstreckte, und er stellte die Hypothese auf, die neue Welt, in die er nun im Begriff sei einzutreten, wäre zwar enger als die bisherige, doch verspreche er sich davon ein gewisses Gefühl des Komforts.

Die Erzählung endet mit einem Bild aus den CERN-Larboratorien: Die aus meinem momentanen Fehlverständnis ausgelöste Beunruhigung, erzählte Mme Landau – heute ist es mir manchmal, als hätte ich damals wirklich ein Todesbild gesehen – war aber nur von der kürzesten Dauer und ging über mich hinweg wie der Schatten eines Vogels im Flug.

Die momentane Erleuchtung erweist sich als Schatten. Die Suche nach Paul Bereyters Leben und Sterben endet im Dunklen, aber das Licht, das die Erzählung darauf geworfen hat, ist nicht verloren. Am Ende der Erzählung können wir nicht sagen, daß wir Paul Bereyter, den wir mit unseren Augen nie gesehen haben, kennen würden, daß wir sein Leben und Sterben verstanden hätten, aber wir kennen ihn besser als manchen, der leibhaftig vor uns gestanden ist, und wir kennen ihn immer dann, wenn wieder einsteigen in die Erzählung, deren Sätze tiefer führen als das Auge reicht.


- nie trwał długo i przemknął po mnie tylko jak cień ptaka w locie.

1 Kommentar:

Christian Runkel hat gesagt…

Am Ende dieses schönen Stückes über Bereyter wurde ich an die etwas träumerische Vision des amerikanischen Pastors Barnes erinnert, der an einer Stelle von einem geheimen Wissen um eine bestimmte Person schreibt*. Würden wir, so spekuliert er, von einem göttlichen Ruf ereilt, in dem der neue Name ausgesprochen wird, den Gott, unser Leben zusammenfassend, uns geben möchte (Jesaja 66,2), so würden wir diesen uns an sich ja zunächst unbekannten Namen sogleich verstehen. Paßt das zusammen?

* meine Übersetzung, fast schon wieder vergessen, unter http://www.runkel.de/barnes/barnes25.htm