Mittwoch, 15. Oktober 2008

Portrait of the Artist as a Very Young Man

Bereiche der Kunst

A la Sigrid, llunyana i veïna

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs,

dieses Motiv zieht sich durch das Werk Sebalds, allerdings in einem ganz anderen Tonfall. Benns elterliches Pfarrhaus in der preußischen Provinz Brandenburg mochte amusisch sein, die Theaterbesuche spärlich, es wurde aber doch gelesen, es gab ein Gedankenleben. Das läßt sich von Sebalds Elternhaus im Allgäu so nicht sagen, der Gedanke an einen Gainsborough als Teil der Wohnungsaustattung ließ sich vom Dichter auch rückblickend in keiner Weise und nicht einmal als Vakuum formulieren: Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte (SG 210ff).

Die bekannten biographischen Stationen ausgehend von Wertach und Sonthofen, nach Immenstadt, Oberstdorf, Freiburg, Fribourg und schließlich nach Norwich sowie die begleitende Textproduktion würden Vermutungen zulassen hinsichtlich der künstlerischen Entwicklung, die Sebald dann in schon vorgerücktem Alter als Prosadichter ins Licht der Weltöffentlichkeit treten ließ. Da er selbst darüber aber kaum schreibt, ist das nicht der erste Gegenstand der Überlegungen, die hier angestellt werden sollen. Es geht zunächst um die anderen Bereiche der Kunst.

Wildenbruchs Haubenlerche, davon zehrten wir - Portrait of the Artist as a Very Young Dramaturg

An die Stelle von Wildenbruchs Haubenlerche treten bei Sebald, was die Einführung in die Theaterkunst anbelangt, Schillers Räuber. Den tiefsten Eindruck aber von allen Veranstaltungen im Engelwirtssaal hat in mir die Aufführung der Räuber hinterlassen. Sicher ein halbes dutzendmal bin ich in dem verdunkelten Saal unter der teilweise bis aus den Nachbardörfern herübergekommenen Zuhörerschaft gesessen. Immer habe ich damals in die Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie, um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen (SG 206). Hier ist sicher eine aus einer Reihe von Geburtsstunden des Dichters zu sehen, der ja den Drang, vom realen Leben aus in die Dichtung einzugreifen, nur umkehren muß, um das falsche Leben in der Erzählung in das richtige zu verwandeln, das freilich dort eingeschlossen bleiben muß.

Die Einführung in das Musiktheater findet parallel dazu im Ochsenwirt statt. Angelockt von den in die Winterlautlosigkeit herausdringenden Klängen, bin ich in den Festsaal hineingegangen und dort, ganz allein im Halbdunkel, Zeuge geworden wie auf der Bühne gerade die letzte Szene der Oper geprobt wurde. Was eine Oper war, wußte ich damals nicht, noch konnte ich mir denken, was es auf sich hatte mit dem blinkenden Dolch, den zuerst der Schnapsbrenner Zweng, dann der Polsterer Gschwendtner und zuletzt die Tabakhändlerin Bella Unsinn in der Hand hielten, aber daß es sich nur um eine vor meinen Augen sich vollziehende Katastrophe handeln konnte, das hörte ich aus den verzweiflungsvoll ineinander verschlungenen Stimmen, noch ehe der Gschwendtner Franz sich entleibte und gleich danach die Bella ohnmächtig zu Boden sank (CS 232f). Die Tiefe dieses Erlebnisses ist in der Folge kaum noch übertroffen worden, nicht vom modernen Regietheater und jedenfalls nicht, soweit es eine Freude darin fand, alle mögliche Königsdramen in kruder Form auf Adolf Hitler zu drehen. Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung ist man bei einer Bregenzer Nabucco-Inszenierung Mitte der neunziger Jahre auf den Gedanken gekommen, aus den Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen. Ich habe, was mich heute noch reut, teilgenommen an einer Veranstaltung des Festspielrahmenprogramms und bin, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig auf dem Vorplatz herumgestanden, unschlüssig, weil es mir mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, mich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte, und unschlüssig weil ich hinter dem Pfänder ein großes Gewitter heraufziehen sah (CS 237). – Der Sebaldleser weiß, daß letztendlich nicht das Gewitter, sondern die Zebraleute das nicht zu überwindende Hindernis waren.

hingen keine Gainsboroughs - Portrait of the Artist as a Very Young Painter

Auch die Einführung in die Malerei fand am Heimatort statt. Es ist mir beim Nachdenken eingefallen, daß die Bilder des Kunstmalers Hengge, abgesehen von denen in der Pfarrkirche, so ziemlich die einzigen Bilder gewesen sind, die ich bis zu meinem siebten oder achten Lebensjahr gesehen habe, und es ist mir jetzt, als hätten sie, diese Holzhauer- und Kreuzigungsbilder und das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld, einen vernichtenden Eindruck auf mich gemacht. Daß sie für mich durch die Wiederbegegnung weniger vernichtend geworden wären, kann ich nicht sagen (SG 227). Sowohl Hengge als auch die Pfarrkirchenbilder stellen einen späten flachen Abglanz der Alten Meister dar, zu denen Sebald den Weg zurück genommen hat, um die künstlerische Tiefe und den semantischen Gehalt der Bilder Grünewalds, Giottos und Pisanellos in Worte zu transponieren. Ein Weg in die moderne Malerei ist, sieht man ab vom Werk seines Freundes Jan Peter Tripp, im Werk nicht in gleicher Weise zu verfolgen. Ein nähere Betrachtung erfordert natürlich aber noch die Malererzählung im Buch von den Ausgewanderten. Dabei soll es, dem gewählten Thema entsprechend, nur um Max Aurach as a very Young Painter gehen.

Mein Vater ist Kunsthändler gewesen, sein Ausstellungsfundusbestand in der Regel aus zirka fünf Dutzend goldgerahmten Salonstücken niederländischer Art, beziehungsweise aus mediterranen Genreszenen im Stile Murillos und aus menschenleeren deutschen Landschaften (AW 256). Also auch hier der Beginn in der Trivialmalerei, es fehlt aber der über den Maler Hengge ausgegossene Sarkasmus. Auch Aurach steigt zurück zu den alten Meistern, insbesondere zu dem, den auch Sebald vor allen anderen bevorzugt hat. Ich hatte seit sehr langer Zeit den Wunsch gehegt, die mir in der Malarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen (AW 252). Im Traum vollzieht sich dann aber noch ein weiterer Schritt: Frohmann erläuterte sodann, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht (AW 262f). Nach der Kopie oder dem Imitat hat das Modell den geringsten, allein in der Größenordnung liegenden Abstand von seinem Vorbild. Nach verbreiteter Übereinkunft gilt es eher als kunstfremd. Bei Sebald könnte ein Weg zum Hyperrealismus Jan Peter Tripps führen, den er wohl tatsächlich geliebt und dessen Werk er tiefe Interpretationen gewidmet hat. Vor allem aber sind wir bei der Vorstellung von der winzigen, eigentlich nicht wahrnehmbaren Veränderung in der Kunst, die alles ganz anders macht.


 
wurde auch nicht Chopin gespielt - Portrait of the Artist as a Very Young Musician

Es gab ja in dem Dorf W. am Nordrand der Alpen in unmittelbarer Nachkriegszeit außer den gelegentlichen Darbietungen der stark dezimierten Jodlergruppe und dem feierlichen Spiel der gleichfalls nur mehr aus ein paar älteren Gesellen bestehenden Blaskapelle bei der Flurumgangs- und Fronleichnamsprozession so gut wie überhaupt keine Musik. Nachdem wir im Dezember 1952 mit dem Möbelwagen des Spediteurs Alpenvogel aus unserem Heimatort W. in die neunzehn Kilometer entfernte Kleinstadt S. umgezogen waren, begann sich mein musikalischer Horizont nach und nach zu erweitern. Ich hörte den Lehrer Bereyter verschiedene wunderschöne Stücke und Melodiebögen blasen, freilich ohne zu wissen, daß sie von Mozart stammten oder von Brahms. Begeistert, wie ich von dem Lehrer Bereyter gewesen bin, hätte ich damals selber am liebsten das Klarinettenspiel gelernt. Aber eine Klarinette gab es bei uns zu Hause nicht, sondern bloß eine Zither. Das Zitherspiel ist für mich eine schlimme Plage gewesen und die Zither selbst eine Art Folterbank, an der man sich vergebens verrenkte und die einem die Finger krumm werden ließ. Als ich dann viele Jahre später durch einen jener Zufälle, die es eigentlich nicht gibt, eines Nachts beim Heimfahren das Autoradio anstellte, wie gerade das von Bereyter so oft gespielte Thema aus dem zweiten Satz des Klarinettenquintetts von Brahms erklang und ich es über die ganze vergangene Zeit hinweg wiedererkannte, da wurde ich in diesem Moment des Wiedererkennens gestreift von der in unserem Gefühlsleben so seltenen Sensation einer fast vollkommenen Gewichtslosigkeit (CS 224ff).

Gedankenleben? - Portrait of the Artist as a Very Young Writer

Sebald ist kein Dramaturg oder Maler geworden und, wie er glaubhaft berichtet, schon gar kein Musiker. Als Maler hat er sich von Hengge zurück zu den alten Meistern begeben, nach der Meinung einiger, die ihn nicht von Stifter unterscheiden können, auch der eigene Weg als Schriftsteller. Als Dramaturg hat er es, soweit zu sehen ist, im wesentlichen bei den Aufführungen im Engel- und im Ochsenwirt belassen. Als Musiker führt ihn der Weg von den Rottachtalern zu Bereyters Klarinette, von dort zur Zither und wieder zurück zur Klarinette. Und der Weg als Schriftsteller?

Bereyter läßt in der Volksschule nicht aus dem Schulbuch, sondern aus dem Rheinischen Hausfreund lesen. Hebel wird mit anderen Alemannen bevorzugter Logisgast in Sebalds Landhaus. Bereyter führt eigenmächtig bereits in der Volksschule den Französischunterricht ein, auch Rousseau darf daraufhin einziehen, das Landhaus steht in seinem Fall auf der Petersinsel im Bieler See im alemannisch-französischen Grenzgebiet. Sebald ist als der Wanderer Selysses stets anwesend in seinen Erzählungen und zugleich weithin unsichtbar, ein Schatten, ein Reflex der jeweiligen Erzählgegenstände. Erhellend das Photo im Austerlitzbuch, der Spiegelreflex des Photographen über den Exponaten des ANTIKOS BAZAR (AUS 287). Leibhaftig wird nur das Kind in Wertach. Aber auch den Knaben sehen wir als ständigen Wanderer, unterwegs vom Engel- zum Ochsenwirt, zur Praxis des Doktor Rambousek, auf dem Weg am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, unterwegs zum Café Alpenrose. Die engen Blutsverwandten sind, mit Ausnahme des Großvaters, abwesend, nie erleben wir den Wertacher Knaben im Haus in Combray in verzweifelter Sehnsucht und Erwartung des Gutenachtkusses der Mutter. Das Leben hat Selysses durch die Welt geführt, ohne daß er Wertach verlassen hätte, wo er nie zuhause war. Sebald ist der Dichter der großen Entfernungen, die die kleinen sind, und umgekehrt. Mit einem Schritt nur, aus dem Stand, hat er den Durchschnitt der deutschen Erzählliteratur verlassen und sich als Confrère an die Seite von Kafka, Proust und Bernhard gestellt. Ständig zieht in seiner Prosa die erzählte falsche Welt an uns vorbei und am selben Ort, ununterscheidbar nah, ist sie, erzählt, die immerfort richtige. Wir haben guten Grund, diese Welt nicht mehr verlassen zu wollen.

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