Freitag, 17. Oktober 2008

Dante kam bis Krummenbach

Purgativa

Ahi giustizia di Dio! Tante chi stipa
nove travaglie e pene, quant’io viddi?
Die Krummenbacher Kapelle ist so klein, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille (SG 196).

Dantes Hölle und Paradies finden in der Krummenbacher Kapelle ihr bündigstes Fazit in der Sebaldschen Auslegung, auf kleinstem Raum Angst und Schrecken und andererseits Frieden als vollkommene Stille. Das Purgatorium, Dantes dritter Weltteil, ist entbehrlich, denn das ist der Ort, an dem wir ohnehin alle leben, wenn auch schon längst nicht mehr unter den anspruchsvollen Titeln des Auszugs aus der Unmündigkeit oder der Emanzipation, eine gleich zu Anfang schon nicht ganz gelingende Unformung des Erlösungsgedankens. Wir leben inzwischen unter weitaus bescheideneren Begriffen wie dem vom Philosophen Sloterdijk erfundenen der postdemokratischen Verbotsgesellschaft, der den oft kleinlichen purgativen Impuls hinter dem Geschehen deutlich macht. Auf Dantes Himmel haben wir weitgehend verzichtet, von seiner Hölle ist nur der im innersten Kern eingefrorene Satan geblieben, alle anderen Insassen konnten durch Toleranz, Therapie oder wissenschaftlich belegte Unzurechnungsfähigkeit gerettet werden. Satan hat einen neuen Namen, den Hitlers und seiner Belzebuben. Eine allzeit bereite Garde mit starrem Dogma und festen Verhaltensregeln achtet darauf, daß sie nicht wieder zur Oberfläche aufsteigen können.
In der Gestalt des Paul Bereyter hat sich Sebald wohl auch selbst vom alltäglichen Provinzkatholizismus im Allgäu losgesprochen: Dem Paul war nichts derart zuwider wie die katholische Salbaderei (AW 53). Gleichzeitig wird von Paul Bereyter aber berichtet, es ginge das Gerücht, er sei gottgläubig. Was Sebalds Gottgläubigkeit anbelangt, so mag sie dahingestellt bleiben, als tiefreichende geistige Schicht in Europa ist der Katholizismus dem Erzähler aber in jedem Fall wichtig geblieben. Dabei geht es ihm weniger um die Frohe Botschaft, das Paradies erreicht er allenfalls im Frieden seiner Prosa, der Katholizismus ist ihm unverzichtbar nicht zuletzt als Verwalter der Hölle und Lieferant des Schreckens: In der mir in zunehmenden Maße wichtig werdenden Bibliothek der Mathild gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein, so das Officium für die abgestorbenen Seelen im Fegfeuer (SG 244f). Mag über dieser Stelle auch milder Spott liegen, so fehlt er völlig in der Begegnung mit Grünewald, dem Maler der gemarterten Körper und Seelen in einer in den schönsten und schauerlichsten Farben ausgeführten Vergegenwärtigung (NN 22). Auch bei Dante fällt allen das Inferno ein, Purgatorio und Cielo können nur mit einiger Anstrengung erinnert werden. Schon für Gustave Doré hatten sich die Proportionen verschoben. Er hat fünfundsiebzig Illustrationen zur Hölle vorgelegt, zweiundvierzig zum Läuterungsberg und nur achtzehn Himmelsbilder.

Viele, die in der modernen Purgieranstalt mutig Gebrauch machen vom eigenen Verstand, haben die Vorstellung, der edle und angstfreie Wilde nach der Art Rousseaus sei vom mittelalterlichen Katholizismus ohne Not in Angst und Schrecken versetzt worden. Davon gelte es nun, ihn wieder zu befreien, mit einiger Mühe zwar aber nur umso entschlossener. Der Sache näher käme wohl die Annahme, der ständig von diffusen Schrecken gejagte Wilde habe durch Religion Platz und Umgang für seine Angst gefunden. Das ist jedenfalls die Idee, die die Lektüre von Dantes Divina Commedia nahe legen kann.

Das auffälligste Charakteristikum des Werkes ist sicherlich die penible Höllen- und Himmelsordnung. Angst und Schrecken haben ihren festen Ort, außerhalb muß niemand sich fürchten. Andererseits fehlt jeglicher melioristischer Ansatz. Es ist nicht abzusehen, daß irgendeiner der neun Cerchi, der drei Gironi im siebten, der zehn Bulgen im achten oder der vier Zonen im neunten Cerchio aufgrund einer Besserung im Verhalten des Menschengeschlechts keine Neuzugänge mehr zu verzeichnen haben würde. Die strenge Struktur der Anlage wird im Gedicht gelockert durch das Motiv der Wanderung in einer ausgedehnten Höllenlandschaft. Dante und Vergil begeben sich durch Täler und Schluchten, die, wären sie nicht so schrecklich, vielleicht lieblich sein könnten. Bäche rauschen, allerdings transportieren sie Feuerglut. Die Wanderung ist kein kurzer Marsch, sondern beansprucht ordentlich Zeit, Übernachtungen werden erwähnt, bleiben aber vom Realismus der Schilderung ausgeschlossen. Vermutlich bezieht man Nachtlager unterm freien Höllenhimmel, von dem nun allerdings, da er unerzählt bleibt, niemand weiß, wie er aussieht.

Dantes Jenseits ist auf allen Ebenen mit dem diesseitigen Geschick vor allem der Stadt Florenz verbunden. Dante findet, bei dem, was er hört und sieht auf der Wanderung, seine eigenen politischen Einschätzungen weithin bestätigt, und ausgeprägt ist auch das Interesse der Höllenbewohner an dem, was zu erleben in der realen Welt ihnen schon versagt war. Man kann sich allerdings fragen, welche Bedeutung die reale Welt für Dante noch haben konnte, nachdem er das göttliche Jenseits durchwandert hatte.

Unsere reale Welt ist Dantes Jenseitswelt diametral entgegengesetzt. Wo Dante ordnet, säuberlich separiert und anordnet, setzen wir vorbehaltlos auf Integration und Niederreißen aller Grenzen. Wo Dante fasziniert ist von der Macht und Gewalt, dove si puote ciò che si vuole, die unmittelbar Realität ist, wünschen wir uns demokratische Meinungsbildung und den zwanglosen Zwang des unendlichen Diskurses. Aber die Fanfare der Freiheit, die uns alles begründen soll, nicht zuletzt das stets wachsende Heer der purgativen Verbote, bleibt doch das Horn, das die Verlorenheit im Nebel nicht beheben kann.

Borges hat uns aufgefordert, die Divina Commedia ohne Scheu und ohne große philologische geschichtswissenschaftliche Vorbereitung einfach als das große Kunstwerk zu lesen, das sie ist. Und in der Tat, schließt man das Buch, scheint es einem, als sei man zurück aus einer fernen Heimat und als seien bis in unsere Tage alle großen Dichter auf die eine oder andere Weise dantesk, da sie den Phantomschmerz der Loslösung der Kunst von der Theologie mit sich tragen. Der danteske Charakter der Sebaldschen Erzählkunst jedenfalls ist nicht zu verkennen. Im Austerlitzbuch verwandelt sich der sebaldnahe Erzähler in Dante und wählt Austerlitz als seinen Vergil. Austerlitz hat in seiner unter falschen Vorzeichen verbrachten und insofern jenseitigen Kindheit Hölle und Himmel kennengelernt in den Predigten des Predigers Emyr Elias. Am Sonntag trat er im Bethaus vor die versammelte Gemeinde hin und führte ihr oft eine Stunde lang mit einer tatsächlich erschütternden Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers, die Qualen der Verdammnis sowie, in den wundervollsten Stern- und Himmelsbildern, das Eingehen der Gerechten in die ewige Seligkeit vor Augen (AUS 72). Der Prediger ist durchaus mit Sympathie und Verständnis geschildert und doch angeweht von der Eiseskälte Satans: Es hat mich immer gefroren in dem Predigerhaus (AUS 71). In Andromeda Logde hat Austerlitz dann auch selbst das irdische Paradies für eine kurze Zeit betreten, das nach der Überzeugung Dantes sich auf dem Gipfel des Läuterungsberges befindet. Und nicht zuletzt hat Austerlitz beim Schuster Evan, neben der walisischen Sprache, den Umgang mit den Verstorbenen gelernt, die das Los zur Unzeit getroffen hatte, die sich um ihr Teil betrogen fühlten und danach trachteten, wieder ins Leben zurückzukehren. Wer ein Auge für sie habe, der könne sie nicht selten bemerken (AUS 82 f).

Den modernen Purgierkünste konnten Sebald, der sich gern bis an sein Lebensende mit nichts anderem beschäftigen wollte als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit (CS 7), nichts abgewinnen. Die schönsten Photos von Christian Scholz zeigen ihn als Rauchrebellen mit der Zigarette, also im Widerstand gegen den innovativen abendländischen Zentralwert des Nichtrauchens. Es muß ihn amüsiert haben, daß eine Zivilisation, die nach seiner mehrfach erzählerische vorgetragenen Diagnose, einzig und allein auf Kombustion und Verglosen beruht und deren Untergang im Feuersturm er mehrfach halluziniert, außer Rand und Band gerät bei der Ächtung eines kleinformatigen Brennvorgangs, der einer frühen, noch von keinem Feuertod bedrohten Zivilisation entlehnt wurde, in der er einen kultisch-rituellen Platz hatte.

Natürlich wäre es eine Verharmlosung, das Harmlose als harmlos anzusehen, es ist der Weg, auf dem sich der Teufel anschleicht, und doch bleibt die Geschichte vom Rauchen die Beobachtung einer sehr kleinen Verweigerung am äußersten Rand des Purgatoriums, der überhaupt nur sichtbar wird im Licht der großen Sebaldschen Sprachverweigerung, eine Verweigerung im Reichtum, in einer Spätsommerfülle der Sätze, eine Verweigerung, die Sprache einer Welt zu sprechen, die so viel hat abstreifen müssen, um mit aller Mühe und aller Not zu dem zu werden, was sie ist. Souveräne Interpreten haben das dem Publikum als altväterliche Sprachhaltung oder, großzügig, als gepflegten Stil erläutert. Einige haben noch tiefer geschaut und weisen auf die jahrzehntelange Trennung des Dichters von der Sprachgemeinschaft hin, die zu einer Entfremdung vom lebendigen Deutsch geführt habe.

Auch die monothematische Naziresthölle, auf Ewigkeit versiegelt durch das Unvergleichbarkeitsdogma, das keinen weiteren Höllenzugang zuläßt, konnte Sebald offenbar nicht zufrieden stellen. Die Ringe des Saturns lassen sich lesen als ein Buch zurückgewonnene Höllenfülle, Leopold II, um nur ein Beispiel zu nennen, König von Belgien und verantwortlich für unendliche Greueltaten im Kongo, sieht sich unzweideutig in den Schlund der Hölle verwiesen. Austerlitz, weithin als Holocaustroman verstanden und tatsächlich Abstieg in den untersten Höllenkreis, wurde erst anschließend geschrieben.

Die durch purgative Anstrengungen erreichte Wendung zum Besseren, wenn nicht zum Guten in Deutschland oder auch Belgien bemerken Austerlitz und der sebaldnahe Wanderer, den wir hier wieder Sedante nennen wollen, ausdrücklich nicht. Sie sind auch nicht beeindruckt von der Ehrengarde an des neuen Satans Höllengrab, sondern müssen, schon in der Mitte ihres Lebens, hinabsteigen. Es ist für Austerlitz ein Abstieg vor allem in das eigene Innere, oder besser an die Stelle, wo sich nach einer Überlegung Luhmanns (gefunden bei N. Bolz) die beiden Ausgestoßenen, Gott und das Ich, in kommunikationsloser Verständigung verbünden. Es gibt aber auch ein leibhaftiges Einstiegstor zur Hölle, den Londoner Liverpoolbahnhof, der unzweideutig als Pforte zum Totenreich gestaltet ist: Aber es kommen ja immer neue nach, in unendlicher Folge, zu deren Unterbringung zuletzt, wenn alles belegt ist, Gräber durch Gräber gegraben werden, bis auf dem ganzen Acker die Gebeine kreuz und quer durcheinander liegen. Über die solchermaßen mit dem Staub und den Knochen versetzte Erdschicht hinweg war die Stadt gewachsen in einem immer verwinkelter werdenden Gewirr fauliger Gassen und Häuser. Um 1870 herum, vor Beginn der Bauarbeiten an den beiden nordöstlichen Bahnhöfen, wurden diese Elendquartiere gewaltsam geräumt und ungeheure Erdmassen, mitsamt den in ihnen Begrabenen, aufgewühlt und verschoben. Für mich war es, als kehrten die Toten aus ihrer Abwesenheit zurück und erfüllten das Zwielicht um mich her mit ihrem langsamen, ruhelosen Treiben (AUS 192 ff). Im Liverpoolbahnhof erinnert Austerlitz die Art und Weise und den Grund seiner Übersiedlung als Kind nach England und Wales, und von hier aus steigt er hinab in die Unterwelt der europäischen Vergangenheit.

Sedante folgt Austerlitz-Vergil auf seinen erzählten Wanderungen durch die europäische Unterwelt, die, sei es in Belgien, England, Frankreich, Belgien oder in der Tschechei eine fatale deutsche Einfärbung hat. Sedante hat aber auch seinen separaten Höllenzugang, die Unterwelt der Festung Breendonk. Wir finden ihn dort in der Eingangspassage des Buches und ganz zum Schluß. Wie vor dreißig Jahren war es ungewöhnlich heiß geworden, bis er in Willebroek ankam. Die Festung lag unverändert auf der blaugrünen Insel. Aus seinem Rucksack holt er ein Buch, das von der Suche des Autors nach seinem Großvater, dem Rabbi Yisrael Yehoshua Melamed, genannt Heschel, handelt. Es führt ihn zum Höllenschlund der Diamantengrube von Kimberley, die nicht eingezäunt war, so daß, wer es wagte, bis an den äußersten Rand dieser riesigen Gruben heranzutreten, hinabblickte in eine Tiefe von mehreren tausend Fuß. Wahrhaft schreckenerregend war es, einen Schritt von dem festen Erdboden eine solche Leere sich auftun zu sehen, zu begreifen, daß es keinen Übergang gab, sondern nur diesen Rand, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf der anderen Seite sein unausdenkbares Gegenteil. Er liest von dem berüchtigten Fort IX nahe der Stadt Kaunas, in dem zeitweise Kommandostellen der Wehrmacht sich einrichteten und wo in den folgenden drei Jahren mehr als dreißigtausend Menschen ums leben gebracht wurden. Am Wassergraben der Festung von Breendonk liest er das fünfzehnte Kapitel zu Ende, und macht sich dann auf den Rückweg nach Mechelen, wo er anlangt, als es Abend wurde.

Sebald kann nicht gleich Dante eine Beruhigung ableiten aus einer großen Weltenordnung, Himmel und Hölle sind nicht länger geschieden, Sedante wandert durch Landschaften einer Unterwelt, in der die Teufel und die unschuldigen Seelen ungetrennt beieinander hausen. Und doch stellt sich am Ende der Wanderung eine ähnliche Beruhigung ein. Offenbar entspringt sie der feinen Ordnung seiner Sätze.

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